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Grüne und Migration

Versagen auf der ganzen Linie

Grüne und Migration: Versagen auf der ganzen Linie
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Deutschlandweit, auch im reichen Baden-Württemberg, befeuern Parteien eine ganz spezielle Ausländerfeindlichkeit: Für hausgemachte Engpässe auf dem Wohnungsmarkt, in Schulen oder in der Verwaltung sollen auf einmal Geflüchtete verantwortlich sein.

"Solange wir zusammenstehen, bewältigen wir jede Krise" – so hieß die optimistische Prognose von Winfried Kretschmann (Grüne) in seiner Neujahrsansprache. Zehn Monate später ist der Satz offenbar vergessen. In seinem gemeinsamen Papier mit der Grünen-Bundesvorsitzenden Ricarda Lang beklagt Baden-Württembergs Ministerpräsident das Abnehmen der Bereitschaft in der Bevölkerung, "bis weit in die Mitte der Gesellschaft, weiter Geflüchtete aufzunehmen". Die kommunalen Spitzenverbände im Land, etwa der Städtetag, liefern die dazu passenden Umfragen.

An der jüngsten beteiligten sich 644 der 1.101 Kommunen im Südwesten. Details lesen sich wie ein Offenbarungseid: Bei der Unterbringung, im Wohnungsbau, in Schulen und Kitas oder Behörden "fehlen Ressourcen", heißt es, "aufgrund der hohen Zugangszahlen". Der Nachsatz verschleiert allerdings die tatsächlichen Verhältnisse, denn in allen Bereichen gäbe es erhebliche Engpässe auch ganz ohne Zuzug, weil über Jahre hinweg Appelle und Warnungen, Studien und Prognosen ignoriert worden sind. Dabei ist die Lage einfach zu beschreiben. Rund 180.000 Geflüchtete aus der Ukraine hat das Land seit Beginn des russischen Angriffskriegs aufgenommen. Viele sind bei Freunden oder Familienangehörigen untergekommen. Derzeit kommen noch immer rund 3.000 Ukrainer:innen pro Monat ins Land; sie alle sind nach dem bundesweit geltenden sogenannten Rechtskreiswechsel vom ersten Tag an besser gestellt als Asylbewerber:innen. Letztere erhalten bislang nach dem Asylbewerberleistungsgesetz derzeit 402 Euro im Monat. Ukrainer:innen beziehen Bürgergeld, wonach Erwachsene 502 Euro pro Monat bekommen, ab Jahreswechsel 563. Und viele brauchen auch eine Unterkunft.

Infrastruktur marode, weil die Politik geschlafen hat

Der Unionsfraktionsvize im Bundestag Thorsten Frei ist einer der Scharfmacher in Migrationsfragen. Ungeniert philosophiert er öffentlich über "die angespannte Infrastruktur im Land", natürlich nicht verbunden mit dem christlichen Appell "Zusammenstehen und die Krise bewältigen", sondern mit der klaren Botschaft, Geflüchtete müssten entweder von sich aus wegbleiben oder eben weggehalten werden. Dabei bringt er nicht einmal den Mut auf, zu differenzieren zwischen Ukrainer:innen und Menschen, die in der Hoffnung auf Asyl nach Deutschland kommen. Und in seiner langen Zeit als Oberbürgermeister von Donaueschingen von 2004 bis 2013 ist die Stadt übrigens nicht eben aufgefallen durch leuchtturmartigen sozialen Wohnungsbau.

An Letzterem zeigt sich, wie unsachgemäß und verharmlosend es ist, Geflüchteten eine Hauptschuld an den diversen Schwierigkeiten zuzuschieben. In Baden-Württemberg wird seit einem Vierteljahrhundert und in Wellen immer zu wenig gebaut. 1992 freute sich der stellvertretende Ministerpräsident Dieter Spöri (SPD) über 9.000 Genehmigungen in einem Monat und pries diese Marke als "20-Jahres-Hoch". Mit dem war es bald vorbei. Und alle Warnungen, mal aus der Bauwirtschaft, mal vom Mieterbund, von Handwerk und Gewerbe oder den Bausparkassen, wurden in den Wind geschlagen, immer in der unerfüllbaren Hoffnung, die unsichtbare Hand des Marktes würde für Wunder sorgen. Davon allerdings konnte keine Rede sein – nicht im regulären und erst recht nicht im sozialen Wohnungsbau.

Schon vor sieben Jahren analysierte "Prognos" im Auftrag der L-Bank die zwischen Main und Bodensee "aufgelaufene Baulücke" von 88.000 Wohnungen. "Jetzt können wir unser weiteres Handeln nicht zielgerichtet ausrichten", behauptete die zuständige Wirtschaftsministerin Nicole Hoffmeister-Kraut (CDU). Geschehen, um dem Bedarf zu entsprechen, ist wenig bis nichts – trotz der Schaffung eines eigenen Ministeriums 2021, an dessen Spitze Nicole Razavi rückte, ebenfalls CDU. Und der von Kretschmann höchstpersönlich initiierte und seit Juni 2022 laufende Strategiedialog "Bezahlbares Wohnen und Innovatives Bauen" droht nach Einschätzung beteiligter Fachleute an die Wand zu fahren.

Sehenden Auges in den Mangel

Natürlich wäre ohne den Zuzug Geflüchteter auch die Lage in Kindergärten und Schulen entspannter, zugleich aber auf niedrigem und einem reichen Bundesland nicht akzeptablen Niveau. Seit der großen Fluchtbewegungen rund um die Jugoslawien-Kriege Anfang der 1990er-Jahre wird über zu volle Klassen diskutiert, über die zentrale Bedeutung von Spracherwerb, später von frühkindlicher Bildung. Unterrichtsausfall wird stichprobenartig seit zwei Jahrzehnten erhoben. Regelmäßig lag und liegt der große Nachholbedarf in Gymnasien, in beruflichen oder Realschulen seither offen zutage. Und regelmäßig wiederholt sich das unwürdige Spiel, dass oppositionelle Landespolitiker:innen immer ganz genau wissen, was zu tun ist, wenn sie an die Regierung kommen – aber Geld oder Kompromissbereitschaft in der Koalition oder beides zusammen fehlen. "Das Land muss Kommunen endlich ernst nehmen, finanziell seriös ausstatten und nicht wie einen Partner zweiter Wahl behandeln", verlangte Kretschmann im Februar 2011, kurz vor seinem ersten Wahlsieg, in einer aufgeheizten Debatte über den "jahrelang verschleppten Ausbau von Ganztagsschulen".

Dreieinhalb Jahre und einen Rechtsanspruchsbeschluss ab 2026 später wird noch immer geschachert ums liebe Geld. Behördengänge sind anstrengend, sogar Österreich ist Baden-Württemberg in der Digitalisierung meilenweit voraus; Ärzt:innen und Krankenhäuser sind überlastet; Kommunen wehren sich trotz erheblicher finanzieller Unterstützung durch Land und Bund gegen zusätzliche Erstaufnahmeeinrichtungen. Insbesondere daran zeigt sich, dass die grün-geführte Landesregierung hinter den eigenen Ansprüchen zurückbleibt. 2015, während der ersten großen Fluchtbewegung in diesem Jahrhundert, hatten 98.000 Asylbewerbende in Baden-Württemberg ihren Erstantrag gestellt. 2016 waren es 33.000. Die Zahlen sanken weiter. Der Landkreistag war weitsichtig, appellierte 2017 ausdrücklich an Innenminister Thomas Strobl (CDU), "für wieder zunehmende Zugangszahlen gewappnet zu sein", und verlangte nach einem "zwischen dem Land und der kommunalen Familie abgestimmten Konzept für die Zukunft". Strobl antwortete mit der Behauptung, die Landesregierung habe die Zugangszahlen an Flüchtlingen deutlich reduziert und auch die Erstaufnahme angepasst.

Winfried Kretschmann. Foto: Jens Volle

"Gefährliche Desorientierung"

Seit 2016 und der ersten grün-schwarzen Koalition sitzt Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann auf der Länderebene als Gast in der sogenannten B-Runde, also unter den Regierungschefs der Union. Das färbt ab in inhaltlichen Fragen, aber auch, wenn es um die bei Schwarzen so beliebte Komplexitätsreduzierung geht. Seit Langem wird unter Migrationsexpert:innen über die Möglichkeit der EU diskutiert, eigene Gesetze so zu ändern, dass Asylverfahren in sicheren Drittstaaten, bevorzugt in Afrika, durchgeführt werden können. Viele Hürden müssten aus dem Weg geschafft, der UN-Flüchtlingskommissar interessiert sein und willige Staaten überhaupt erst gefunden werden. Alles eher unrealistisch. Einerseits gibt Kretschmann denn auch zu Protokoll, dass das Vorhaben "hochkomplex und voraussetzungsreich" sei. Andererseits hat er sich aber zum Spielball der Schwarzen machen lassen mit seiner aktuellen Zustimmung, die Auslagerung der Asylverfahren zumindest zu prüfen. Hendrik Wüst, Boris Rhein, natürlich Markus Söder und die anderen wollten die A-Runde, also die SPD-Ministerpräsident:innen plus Bodo Ramelow (Linke) sowie die Ampel vor dem Bund-Länder-Gipfel am 6. November vor sich hertreiben. Am Tag danach kann Kretschmann nur schwurbeln auf die Frage, ob sein Vorgehen eigentlich mit den Südwest-Grünen und den Landesvorsitzenden abgestimmt war. So gehört er ab sofort zur Riege jener, die an der Empörungsspirale drehen statt Druck aus dem Kessel der latent ausländerfeindlichen Debatte zu nehmen. Großbritannien und der Erfinder der Idee, Premier Rishi Sunak, sind übrigens schon einen Schritt weiter. Die Pläne sind durch Gerichte gestoppt und bereits wieder beerdigt. Kein Wunder, dass sich Kretschmann von Erik Marquardt, seinem Parteifreund im EU-Parlament – ein anerkannter Migrationsexperte –, jetzt eine "gefährliche Desorientierung" vorwerfen lassen muss.  (jhw)

Auf diese Weise wurden aus fast 18.000 regulären Plätzen für Asylbewerber:innen nach und nach nurmehr 6.000. Aufwendig musste mittlerweile laut Justizministerium an den zehn Standorten wieder aufgestockt werden auf 13.000. Die Lage sei "gegenwärtig äußerst angespannt", sagt ein Sprecher. Der vorläufige Verbleib beim Land, nach Aufnahme und Registrierung, ist in der Theorie der Puffer, um auf gegebenenfalls schwierige Lagen vor Ort reagieren zu können. Denn eigentlich kommen Geflüchtete mit Bleibeperspektive in die vorläufige und in die sogenannte Anschluss-Unterbringung, also in kommunale Verantwortung. Ebenso weitgehend Theorie, denn dazu bräuchte es wiederum Wohnungen. Der Teufelskreis schließt sich.

Keine Haltung und kein Mut

Kretschmann und Ricarda Lang verlangen in ihrem Migrationspapier vor dem gerade zu Ende gegangenen Bund-Länder-Gipfel, "wenn die Kapazitäten wie jetzt an ihre Grenzen stoßen, müssen auch die Zahlen sinken". Danach plädiert der Ministerpräsident dafür, "schwierige unkonventionelle Wege wenigstens mal zu prüfen". Viel könnte in diese Kategorie fallen, auch vieles, was ein Land selbst steuern kann. Etwa richtig Geld in die Hand zu nehmen: für Kitas und Schulen, für den Ausbau von Sprachkursen und Integrationsberatung. Der Ministerpräsident könnte seine Reputation nutzen, um mehr Ordnung in Zahlen zu bringen – gerade mit Blick auf Ukrainer:innen und Menschen, die in der Hoffnung auf Asyl kommen. Er könnte darüber informieren, dass überhaupt weniger als zwei Prozent der Menschen in Europa Flüchtlinge sind, dass die meisten Asylanträge ganz woanders, nämlich in den USA, in Peru oder in der Türkei, gestellt werden. Er könnte prüfen, ob es nicht umgehend angebracht ist, jene CDU-Politiker anzukoffern, die die in der Nacht gefundenen Kompromisse nach Sonnenaufgang sofort wieder kleinreden, um die Ampel schlecht aussehen zu lassen.

Er könnte noch etwa ganz anders tun und einfach an seinen eigenen Appell erinnern – keine elf Monate alt: "So lange wir zusammenstehen, bewältigen wir jede Krise." Das schließt die Suche nach falschen Schuldigen übrigens aus, und zwar kategorisch.


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4 Kommentare verfügbar

  • Karl P. Schlor
    am 09.11.2023
    Antworten
    Ich hab auch Angst, aber nur davor, was alles noch passieren wird und muß, bevor möglicherweise
    eine Regierung oder Beteiligung an einer die AfD nicht die Macht, sondern das Elend übernehmen
    darf, das die bisherigen "demokratischen" Parteien angerichtet haben!
    Petra L.A. hat immerhin…
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