"Die Unverletzlichkeit der Wohnung ist wenig wert, wenn staatliche Akteure die Zimmer in Erstaufnahmeeinrichtungen nach Belieben und sogar nachts betreten können", kritisiert Sarah Lincoln. "Dabei brauchen gerade Geflüchtete, die häufig durch Krieg, Verfolgung und Flucht schwer traumatisiert sind, einen geschützten Rückzugsraum." Auch Wiebke Judith, rechtspolitische Sprecherin von Pro Asyl, kommentiert: "Das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts fügt sich nahtlos in den derzeitigen Trend ein, die Grundrechte von Geflüchteten für populistische migrationspolitische Forderungen zu opfern."
Zwei Tage nachdem dieser Satz gefallen ist, prangt auf der Titelseite des "Spiegel" ein Portrait von Bundeskanzler Olaf Scholz, der sich mit der Forderung "Wir müssen endlich im großen Stil abschieben" zitieren lässt. Dabei liegt die Anerkennungsquote im Asylverfahren derzeit bei 70 Prozent. "Wenn wir den Wohlstand in diesem Land erhalten wollen, brauchen wir eine sinnvolle Einwanderungsdebatte", sagt Alassa Mfouapon. "Wenn sie in der nächsten Zeit viele Flüchtlinge abschieben und die Unverletzlichkeit der Wohnung nicht mehr gelten wird, ist das ein Verstoß gegen die Menschenrechte."
Das Grundrecht auf Unverletzlichkeit der Wohnung soll in Zukunft nach dem Willen der Ampelregierung selbst bei Personen, die nichts mit einer geplanten Abschiebung zu tun haben, eingeschränkt werden können. Der Polizei wäre es nach den Plänen von Nancy Faeser erlaubt, sogar Zimmer von unbeteiligten Dritten in einer Unterkunft zu betreten, um nach ausreisepflichtigen Menschen zu suchen. Für Wiebke Judith sind diese Pläne völlig unverhältnismäßig. "Es wird in Unterkünften Angst und Schrecken verbreiten, wenn die Polizei jede Nacht in ein Zimmer kommen kann, um eine ganz andere Person zu suchen. So ein Gesetz hat für die Menschen gravierende Auswirkungen." Menschen in Gemeinschaftsunterkünften könnte es besonders hart treffen. Sie sollen nach den Plänen von Faeser zudem noch weniger Geld bekommen, weil sie angeblich weniger bräuchten um ihre Lebenshaltungskosten zu decken. Auch hier scheint nicht der Rechtsstaat die Leitlinien vorzugeben. Erst im November 2022 hatte das Bundesverfassungsgericht eine niedrigere "Sonderbedarfsstufe" für alleinstehende erwachsene AsylbewerberInnen in Sammelunterkünften für verfassungswidrig erklärt.
2012 hatte das höchste deutsche Gericht bereits klargestellt: "Auch migrationspolitische Erwägungen, die Leistungen an Asylbewerberinnen und Asylbewerber sowie Flüchtlinge niedrig zu halten, um Anreize für Wanderungsbewegungen durch ein im internationalen Vergleich eventuell hohes Leistungsniveau zu vermeiden, können von vornherein kein Absenken des Leistungsstandards unter das physische und soziokulturelle Existenzminimum rechtfertigen. Die Menschenwürde ist migrationspolitisch nicht zu relativieren." Obwohl dieses Urteil zum Asylbewerberleistungsgesetz sehr klar formuliert ist, war es nicht wegweisend. Wer, wie aktuell die Länderchefs, über die Umstellung von Geld- auf Sachleistungen für Geflüchtete "einen Beitrag zur Reduzierung von Fehlanreizen für irreguläre Migration leisten" will, stellt sich gegen das höchste deutsche Gericht und damit gegen den Rechtsstaat.
Protest: Dieses Gesetz muss weg
Am 1. November jährt sich das Inkrafttreten des Asylbewerberleistungsgesetzes zum 30. Mal. Vom 28. Oktober bis zum 1. November finden deshalb bundesweit Aktionstage für die Abschaffung dieses Gesetzes statt. "Auf die rassistischen Übergriffe gegen Geflüchtete Anfang der 1990er-Jahre antwortete eine breite Mehrheit der im Bundestag vertretenen Parteien mit Hetze und Ausgrenzung: Das Grundrecht auf Asyl wurde ausgehöhlt und mit dem Asylbewerberleistungsgesetz ein diskriminierendes Sondergesetz beschlossen", heißt es im Aufruf. In Freiburg findet am Samstag, den 28. Oktober, eine Demonstration statt. Die zentralen Forderungen sind unter anderem: Selbstversorgung statt entmündigender Vollverpflegung, womit thematisiert wird, dass Geflüchtete in Erstaufnahmeeinrichtungen nicht selbst kochen dürfen. Zugang zum Arbeitsmarkt statt Arbeitsverbote, Gesundheitskarte statt Papierkrankenscheine und privates Wohnen statt Lager, was bei Geflüchteten aus der Ukraine derzeit sehr gut klappt.
Walter Schlecht von Aktion Bleiberecht bedauert, dass dies innerhalb der Aktionstage die einzige öffentliche Veranstaltung in Baden-Württemberg sein wird, die sichtbar für die Rechte von geflüchteten Menschen eintritt. "Offensichtlich haben viele die Angriffe auf elementare soziale und politische Rechte beziehungsweise auf das Asylrecht und das Zusatzprotokoll der Genfer Flüchtlingskonvention nicht erkannt und verstanden. Heute geht es um mehr als nur um eine Asylrechtsverschärfung. Die Stimmung in der BRD kippt."
Wer auf den Beginn der 1990er-Jahre und die "das Boot ist voll"-Rhetorik zurückblickt, findet durchaus Unterschiede zur heutigen Situation. 1992 demonstrierten in Bonn etwa 200.000 Menschen für den Schutz des Asylrechts. Zahlen, die heute unvorstellbar wirken. Und das obwohl, wie es Timmo Scherenberg, der Geschäftsführer des hessischen Flüchtlingsrates ausdrückt, der Deutschlandpakt AfD-Hetze in Gesetze umwandelt.
Einen Mob braucht es heutzutage nicht, um den Rechtsstaat in Frage zu stellen. Das macht schon eine Bundesinnenministerin, von der viele zum Amtsantritt noch hofften, sie würde sich von ihren Vorgängern positiv absetzen. Wenn das Bundesverwaltungsgericht wie 2021 die Auswertung von Handys geflüchteter Menschen durch das BAMF, das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, für rechtswidrig erklärt, schreibt man eben das Gesetz um und macht es trotzdem. Der Entwurf zur "Verbesserung der Rückführung" sieht nämlich vor, dass nicht mehr nur Handys, sondern auch Cloud-Dienste ausgelesen werden können.
Die Verfassungsbeschwerde zur Unverletzlichkeit der Wohnung, sagt Wiebke Judith, komme in einem politisch wichtigen Moment: "Es ist Zeit für ein klares Signal aus Karlsruhe: Geflüchtete und Migranten dürfen grundrechtlich nicht wie Menschen zweiter Klasse behandelt werden!" Oder wie es Alassa Mfouapon ausdrückt: "Flüchtlinge sind Menschen. Sie müssen als Menschen behandelt werden." In Ellwangen war dies ein oft gehörter Ausspruch nach der rechtwidrigen Polizeigroßrazzia: "We are human beings."
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