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VGH-Urteil zu Rechten von Geflüchteten

Schlafzimmer sind geschützt

VGH-Urteil zu Rechten von Geflüchteten: Schlafzimmer sind geschützt
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Massiv in die Grundrechte Geflüchteter einzugreifen, ist in den Erstaufnahmestellen des Landes alltäglich. Deswegen ist ein neues Urteil des Verwaltungsgerichtshofs Mannheim, das die Rechte der BewohnerInnen betont, ein großer Erfolg. Ob in der Praxis nun Verbesserungen der Lebensbedingungen folgen?

"Die Unverletzlichkeit der Wohnung gilt auch in Erstaufnahmeeinrichtungen, und Geflüchtete haben dort ein Recht auf Privatsphäre – was eigentlich eine Selbstverständlichkeit ist." So fasst Sarah Lincoln, Juristin bei der Gesellschaft für Freiheitsrechte, die am 24. Februar verkündete Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofs Mannheim zum Antrag von ursprünglich sechs Geflüchteten gegen die Hausordnung der Landeserstaufnahmestelle für Flüchtlinge (LEA) in Freiburg zusammen. Klingt nach einem großen Erfolg, und das ist es auch.

Unterstützt wurde das Verfahren von der Gesellschaft für Freiheitsrechte, Pro Asyl, dem Flüchtlingsrat Baden-Württemberg und der Aktion Bleiberecht aus Freiburg, über die der Kontakt zu den Geflüchteten zustande kam. Schon diese Aufzählung macht deutlich: Das Verfahren hat eine grundsätzliche Bedeutung. Über Hausordnungen tief in die Grundrechte der BewohnerInnen von Erstaufnahmelagern einzugreifen, ist landauf landab gängige Praxis.

Was das für die Betroffenen bedeutet, schilderte der Geflüchtete Emmanuel Annor im Gerichtsverfahren am VGH eindrücklich. Für ihn, der mittlerweile nicht mehr in der LEA Freiburg wohnt, waren die Zimmer in der Einrichtung kein Rückzugsraum. Nachts seien die Security-Beschäftigten in den Fluren entlanggegangen und hätten auch regelmäßig anlasslos Zimmertüren geöffnet und hineingeschaut, sodass er kaum habe schlafen können. "Ständig kommen MitarbeiterInnen und kontrollieren die Zimmer – momentan zwei- oder dreimal die Woche, vor Corona jeden Tag. Sie klopfen an die Tür, kommen rein und machen ihre Kontrolle. Egal ob man schläft oder in Ruhe gelassen werden will", sagt der Geflüchtete Ba Gando in einem von der Gesellschaft für Freiheitsrechte veröffentlichten Gespräch.

"Die Zimmer in der Landeserstaufnahmestelle sind nicht abschließbar. Jetzt haben sie das Schloss zu einer elektronischen Tür geändert, damit sie sie selbst abschließen können, aber wir können es nicht entsperren. Wenn man zum Beispiel drinnen ist, können sie es von außen zuschließen", schilderte Emmanuel Annor im Frühjahr 2021 die Situation gegenüber zwei jungen Filmemachern für den Film "Voices from the Camp", "Stimmen aus dem Lager". Die Stimmen kommen von Ba Gando, Quashie Tagoe und Emmanuel Annor, die alle drei den Antrag gegen die Hausordnung gestellt hatten, der nun vor dem VGH verhandelt wurde. Alle drei wohnen nicht mehr in der LEA Freiburg.

Absurde Auswüchse der Kontrollen

Quashie Tagoe traf es am härtesten. Er wurde Ende September 2021 in der LEA festgenommen und sechs Tage später nach Ghana abgeschoben. Zuvor hatte er jahrelang in der Schweiz gelebt, war dort verheiratet und führte ein "normales" Familienleben. Durch seine Heirat hatte er einen sicheren Aufenthaltsstatus. Als die Ehe zur Bruch ging, die Scheidung folgte, verlor er auch seinen sicheren Status. Er verließ die Schweiz, versuchte es in Deutschland und kam in die Freiburger LEA. Ein "normales" Leben war hier nicht möglich. Wer auf das Gelände will, wird kontrolliert, Taschen werden durchsucht.

Welche absurden Auswüchse die Kontrollen haben können, schildert Rechtsanwalt Thorsten Deppner, der das Verfahren vor dem VGH geführt hat. Einem Mandanten wurde der Zugang schon verwehrt, weil er ein Glas Erdnussbutter dabeihatte. Die Hausordnung der LEA kennt eine ganze Reihe an verbotenen Gegenständen: Friseurscheren, Haarschneider, Glasflaschen, Küchenmesser, Kerzen, Wandspiegel, Teppiche, Fernseher und verderbliche Lebensmittel. Erdnussbutter unter die Kategorie 'verderblich' zu fassen verdeutlicht, wie willkürlich die Eingangskontrollen ablaufen können.

Handelt es sich hierbei um massive Grundrechtseingriffe? Nein, meint offensichtlich der baden-württembergische Verwaltungsgerichtshof. "Die Vorschriften, die den privaten Sicherheitsdienst zur Kontrolle der Antragsteller beim Zutritt zur LEA und auf dem Gelände berechtigt hätten, führten hingegen nicht zu einem tiefgreifenden Grundrechtseingriff", heißt es im Juristendeutsch der Pressemitteilung des Gerichts zum Urteil vom 24. Februar. Der VGH erklärte damit nicht, dass die Eingangskontrollen durch private Security-MitarbeiterInnen rechtens sind. Die Geflüchteten, die den Antrag auf Prüfung gestellt haben, hätten, da sie nicht mehr vor Ort wohnen, nur Anspruch auf eine solche Prüfung dieses Aspektes der Hausordnung gehabt, wenn es sich um einen tiefgreifenden Grundrechtseingriff handeln würde.

Das klingt äußerst kompliziert und sorgt dafür, dass Geflüchtete in Erstaufnahmelagern keine realistische Chance haben, die Kontrollpraxis am Eingang, die in der Hausordnung festgelegt ist, rechtlich überprüfen zu lassen. Selbst wenn die Unterbringungszeit auf 18 Monate hochgesetzt wurde, wohnen sie normalerweise schlicht nicht lang genug in der Einrichtung, um Anspruch auf eine gerichtliche Prüfung zu haben. Das Besuchsverbot in den baden-württembergischen Erstaufnahmestellen erschwert zudem den Kontakt zur Zivilgesellschaft, die beim Gang vors Gericht behilflich sein kann.

Es darf nicht ständig kontrolliert werden

Allein die Verhandlung vor dem VGH war deshalb schon ein kleiner Erfolg. Ein weiterer kleiner Zwischenerfolg war, dass das Freiburger Regierungspräsidium in Reaktion auf die Klage Ende vergangenen Jahres eine neue Hausordnung erlassen hat, die nun klarstellte, dass die routinemäßigen Zimmerkontrollen nur noch nach ausdrücklicher Zustimmung oder zu vorher angekündigten Terminen erfolgen dürfen. Bei leicht möglichen Verstößen gegen die Hausordnung durften die Security-Beschäftigten die Zimmer aber auch weiterhin gegen den Willen der BewohnerInnen und auch nachts betreten.

Ein noch größerer Erfolg ist nun das Urteil, selbst wenn sich das Gericht nicht zur Rechtmäßigkeit der Eingangskontrollen geäußert hat. Es erklärte, dass die Schlafzimmer in den Unterkünften grundrechtlich geschützte Wohnräume sind. Woraus folgt, dass die per alter Hausordnung geregelten Befugnisse des Sicherheitsdienstes, die Zimmer der Geflüchteten jederzeit zu kontrollieren und zu betreten, unwirksam sind und die neue Hausordnung ebenfalls keinen Bestand hat. Das Freiburger Regierungspräsidium erklärte am 28. Februar dann auch, die Zimmerkontrollen vorläufig ausgesetzt zu haben.

Das oberste baden-württembergische Verwaltungsgericht stellt sich somit auch gegen ein anderslautendes Urteil des Stuttgarter Verwaltungsgerichts, welches sich mit dem Polizeigroßeinsatz in der LEA Ellwangen am 3. Mai 2018 befasst hatte. Damals stürmten über 500 PolizistInnen die LEA Ellwangen, nachdem eine verhinderte Abschiebung drei Tage zuvor bundesweit für Schlagzeilen und Anti-Flüchtlingshetze gesorgt hatte (Kontext berichtete). Das Verwaltungsgericht erklärte zwar den Polizeieinsatz im Nachhinein für rechtswidrig, allerdings nur, weil er in der Nacht stattgefunden hatte. Es verneinte aber die Geltung des Grundrechts auf Unverletzlichkeit der Wohnung für die Schlafräume in der Einrichtung mit einer beachtlichen Argumentation. Da für die Flüchtlinge keine Schlüsselgewalt, also Privatsphäre bestehe, könne es sich nicht um Wohnraum handeln, weshalb auch das Grundrecht auf seine Unverletzlichkeit nicht gelte. Die Zimmer seien vielmehr mit Hafträumen zu vergleichen.

Das Gericht prüfte in dem Fall also nicht, ob die Ausgestaltung des Erstaufnahmelagers grundrechtskonform ist, sondern schaute sich stattdessen die realen Gegebenheiten an, um die hier geltenden Grundrechte an diese triste Realität anzupassen.

Wie will Grün-Schwarz Flüchtlinge nun unterbringen?

Die jetzige Klarstellung durch den VGH Mannheim kommentierte Seán McGinley, Geschäftsführer des Flüchtlingsrats Baden-Württemberg: "Es ist bezeichnend, dass ein Gericht die Landespolitik zu einer grundgesetzkonformen Ausgestaltung der Unterbringung von Geflüchteten zwingen muss. Das zeigt, wie es um die Rechte von Schutzsuchenden in Baden-Württemberg bisher bestellt war." Die Fragen, wie die Sammelunterkünfte für die Erstaufnahme von Flüchtlingen ausgestaltet werden und welche Rechte Sicherheitsdienste in den Unterkünften haben, werden nun wieder auf die politische Ebene gehoben. Die grün-schwarze Landesregierung muss jetzt das Flüchtlingsaufnahmegesetz ändern und dort auch etwaige Betretungsrechte für Sicherheitsdienste in Schlafzimmer regeln und begründen.

"Uns ging es bei der Klage nicht darum, für eine bessere Hausordnung zu streiten, sondern wir wollen eine ganz andere Aufnahmepolitik", erklärt Ben Bubeck, aktiv bei den Initiativen Aktion Bleiberecht und LEA-Watch. "Die Hausordnung ist Ausdruck einer Aufnahmepolitik, die hauptsächlich auf Isolation und Vereinfachung von Abschiebungen basiert und nicht auf einer menschenwürdigen Aufnahme." Gemeinsam mit Emmanuel Annor und dem nach Ghana abgeschobenen Quashie Tagoe klagt Bubeck auch noch vor dem Freiburger Verwaltungsgericht gegen die lange Liste an in der LEA verbotenen Gegenstände, das Verbot der politischen Betätigung auf dem Gelände der LEA und das Besuchsverbot.

Nach der jetzigen Entscheidung des VGH erläutern Emmanuel Annor und Ba Gando: "Wir haben gegen die Hausordnung geklagt, weil die restriktiven Regelungen und ständigen Kontrollen ein menschenwürdiges Leben in der Unterkunft unmöglich machen. Die Entscheidung gesteht uns zumindest ein Mindestmaß an Grundrechtsschutz zu. Das ist ein wichtiges Signal, auch wenn wir wissen, dass es zwischen der Realität und dem Recht häufig einen großen Unterschied gibt."

Zweifel und Hoffnungen

Rechtsanwalt Thorsten Deppner hofft darauf, dass der jetzt erforderliche Gesetzgebungsprozess zu einem ausgewogeneren Ausgleich der Grundrechte und einer grundlegenden Neuorientierung beim Charakter der Erstaufnahmeeinrichtungen führen wird. Zweifel sind allerdings angebracht, ob sich diese Hoffnungen erfüllen. Ben Bubeck fasst zusammen: "Wir konnten mit der Kampagne in Freiburg deutlich machen, dass sich die Widersprüche, die sich durch die letztjährigen Asylrechtsverschärfungen ergeben, doch sehr deutlich in diesen Aufnahmeeinrichtungen zeigen. Arbeitsverbot, Wohnverpflichtung über 1,5 Jahre, die Zimmerkontrollen, das sind alles Sachen, die deutlich machen, dass diese Aufnahmeeinrichtungen ohne die Grundrechtsverletzungen nicht funktionieren können."

Was folgt nun aus dem Urteil? "Wir fordern selbstbestimmte Wohnformen, die die Rechte eines jeden Menschen achten und ein Ende der repressiven Massenunterbringung", so Seán McGinley vom Flüchtlingsrat Baden-Württemberg. Wenn man es mit dem Recht auf Privatsphäre für Geflüchtete, das der VGH hervorgehoben hat, ernst meint, müsste es genau in diese Richtung gehen. Dann wäre das Urteil tatsächlich wegweisend, weit über Baden-Württemberg hinaus.

Ob das VGH-Urteil nun aber Verbesserungen für die Lebensbedingungen von Geflüchteten in den Landeserstaufnahmesstellen nach sich zieht, wird auf politischer Ebene entschieden – und ist eher fraglich. Denn bisher hat die grün-schwarze Landesregierung nicht den Eindruck gemacht, auf die Massenunterkünfte verzichten zu wollen. Die absehbare Ankunft von zahlreichen Kriegsflüchtlingen aus der Ukraine, denen man zumindest anfänglich noch mit einiger Empathie begegnen dürfte, ist vielleicht kein schlechter Zeitpunkt, um die Frage zu debattieren, ob diesen Menschen hierzulande nicht echte Privatsphäre zugestanden werden sollte. Die Hoffnung auf Veränderung stirbt zuletzt.


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