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Das Vermächtnis der Idioten

Das Vermächtnis der Idioten
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Das war echt verdammt kurz, dieses "Ende der Geschichte". Und bei wem jetzt nicht sofort alle Referenzglocken klingeln: 1992 brachte der US-amerikanische Politologe Francis Fukuyama ein Buch mit diesem Titel heraus. Unter dem Eindruck des Zusammenbruchs des Ostblocks sah er die Entwicklung politischer Systeme an ihrem Ende angekommen und bediente sich dabei der Dialektik des gebürtigen Stuttgarters Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Nach dem extremen Liberalismus (These) und dem Totalitarismus (Antithese) sei nun, als Synthese, die liberale Demokratie das Endstadium der Entwicklung.

Erwies sich natürlich alles schnell als kompletter Quark, schon die Jugoslawienkriege in den 1990ern widerlegten die Annahme, zig andere Konflikte danach erst recht, und Fukuyama selbst verwarf sie alsbald. Und trotzdem, zu Ende war nach 1990 doch irgendwie dieses bleierne Kalte-Kriegs-Gefühl, diese unterschwellige Angst, durch irgendeine internationale Krise oder auch durch eine blöde Panne könne sich zwischen den sich waffenstrotzend gegenüberliegenden Blöcken schnurstracks ein Atomkrieg entwickeln. Der Regisseur Stanley Kubrick hat 1964 aus diesem Szenario ein Meisterwerk schwärzester Satire gemacht, "Dr. Seltsam oder wie ich lernte, die Bombe zu lieben". Das politische und militärische Personal besteht darin zu großen Teilen aus Idioten und Irren.

"And now I'm forced to carry on the legacy of morons", "Und jetzt bin ich gezwungen, das Vermächtnis der Idioten weiterzutragen", beschwerte sich passend dazu 1986 die australische Rockband The Trilobites in einem sarkastischen kleinen Song über den Wahnsinn des nuklearen Wettrüstens. Dessen Text beginnt mit dem ersten Atombombentest am 25. Juli 1945 und endet mit einem Treffen Ronald Reagans und Michail Gorbatschows in Genf. Aber es scheint, er ließe sich ewig weiterschreiben.

Sicher, das ist etwas unterkomplex, und natürlich kann es gefährlich sein, politische Akteure nur als Idioten oder Irre zu sehen. Womit wir in der Gegenwart wären. Wladimir Putin hat die Ukraine am vergangenen Donnerstag angegriffen, dem Angriff ging keine militärische Provokation des Westens voraus, der russische Staatspräsident ist nicht etwa der Vermächtnisträger einer alten kommunistischen Ordnung, die deswegen gegen die NATO und den US-Imperialismus gerichtet ist, sondern einfach selbst ein Imperialist. Kein "neuer Hitler", wie in manchen Analyse-Schnellschüssen auf Twitter & Co. schon zu lesen, sondern ein ziemlich klassischer und damit fast aus der Zeit gefallen wirkender Oldschool-19.-Jahrhundert-Style-Imperialist, aber halt mit etwas vernichtungsmächtigeren Waffen. Und viele Linke im Westen, die nur von einer "Nato-Aggression in der Ukraine" sprachen, aber die Aggression Putins nicht sahen, hätten sich dabei nicht mit Ruhm bekleckert, wie der ukrainische Autor und Pazifist Taras Bilous am 25. Februar in der Wochenzeitung "Jungle World" schrieb: "Solche Positionen sind Teil eines allgemeineren Phänomens in der westlichen 'Anti-Kriegs'-Bewegung, das Kritiker auf der Linken gewöhnlich 'campism' nennen. Die britisch-syrische Autorin und Aktivistin Leila Al-Shami fand dafür einen noch stärkeren Begriff: der 'Anti-Imperialismus der Idioten.'" Sowohl Bilous' als auch Al-Shamis Text sind sehr zu empfehlen.

"Die Schuldfrage lässt keine großen Diskussionen zu: Dies ist ein Angriffskrieg", schreibt Elsa Koester in der Wochenzeitung Freitag, aber selbst wenn diese Frage geklärt ist, stellt sich gleich die nächste: Was jetzt? Laufen die diplomatischen Bemühungen heiß oder eher die Rhetorik? Koester wird jedenfalls mulmig, und sie führt einige schaurige Belege an: "Die Schlagzeilen der letzten Tage vor dem Krieg rochen nach dieser Verrohung: Putin wurde als 'wahnsinnig' bezeichnet, als 'krank'. Bei hart aber fair wurde darüber sinniert, ob er mit Steroiden behandelt werde. Und verhandelt man etwa mit Wahnsinnigen?" Die Freitag-Redakteurin hat natürlich auch keine Lösung, nennt aber als "Aufgabe aller friedliebenden Menschen (…), sich dieser Brutalisierung entgegenzustellen". Und fordert schon im Titel: "Bleibt weich, bleibt zärtlich!"

Wie bitte, weich und zärtlich? Wie naiv ist das denn? Auf lange Sicht vielleicht gar nicht so sehr, wie Koester mit Rückgriff auf den Kulturtheoretiker Klaus Theweleit (hier ein Kontext-Interview mit ihm) ausführt. Denn Theweleit habe in seinem Werk über soldatische Männlichkeit gezeigt, wie patriarchale Gewalt mit Kriegsgewalt zusammenhängt: "Er hat gezeigt, wie männliche Körper (…) über Generationen von Kriegsgewalt geprägt sind: Alles muss diszipliniert werden. Die Angst vor allem Weichen, Fließenden, Unbestimmten – damit konnotiert: vor allem Weiblichen – ist eine Folge davon. Gewalt gegen Frauen ist eine Folge von Krieg. Nicht nur während des Kriegs, sondern lang darüber hinaus."

Die Perspektive wird also eine ziemlich lange sein müssen, doch anlässlich des Frauentags am 8. März wollen wir trotzdem auch in Kontext für sie trommeln. Und bringen einen Auszug aus dem jüngst neu aufgelegten Roman "Die Töchter Egalias", einem feministischen Klassiker der norwegischen Autorin Gerd Brantenberg, in dem die Geschlechterordnung auf den Kopf gestellt wird. Würde dadurch irgendetwas besser werden? Oder würde das Vermächtnis der Idioten nur von Idiotinnen weitergetragen werden? Wüssten wir auch gerne. Auf jeden Fall werden wir uns viel streiten müssen. Über neue Friedens-, Gesellschafts- oder Geschlechterordnungen.

Debattenkultur, Corona und die Grünen

Wie sich miteinander streiten lässt, ohne zu spalten, haben am vergangenen Samstag die AnStifter erörtert. Eingeladen wurde mit Blick auf die hitzigen Debatten um "Querdenken" und Corona-Maßnahmen, an denen Freundschaften zerbrechen und sich Familien in die Haare kriegen – doch gerade mit Blick auf Komplexe wie Aufrüstung und Pazifismus stellt sich die gleiche Grundsatzfrage nach einer gesunden Debattenkultur. Philosoph und Diskussionsteilnehmer Michael Weingarten plädiert für den Dissens: Am Ende von Meinungsverschiedenheiten sollte nicht zwangsläufig der Kompromiss stehen, sondern zunächst eine Präzisierung, was die jeweiligen Positionen begründet – und dafür braucht es die Fähigkeit, Streit auszuhalten. Oftmals anstrengend, aufreibend, aber der Wesenskern demokratischer Prozesse.

Mehr Reibung und Lust an der Diskussion wünscht sich auch der alt-grüne Wirtschaftsanwalt Rezzo Schlauch, der seiner Partei eine "narkotisierende Geschlossenheitskultur" attestiert. Er verteidigt den Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer gegen einen drohenden Parteiausschluss. Über die grünen Konflikte in der Stadt berichtete Kontext in der vergangenen Ausgabe und hätte sich dafür gerne auch mit Ulrike Baumgärtner unterhalten, die aller Voraussicht nach als grüne Kandidatin gegen den Amtsinhaber antreten wird. Inzwischen ist ein Kontakt hergestellt. Das Gespräch wird nun Anfang April nachgeholt, wenn die Nominierung beschlossene Sache ist.


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1 Kommentar verfügbar

  • JKs
    am 02.03.2022
    Antworten
    Genau, wenn wir erst eine umfassende weibliche Diskussionskultur haben, dann wird alles besser. Oder - die Abwertung alles Männlichen als Leidkultur des 21. Jh...

    Auch wir Männer wünsche uns Frieden,lieben unsere Kinder, lehnen Gewalt ab, sind traumatisiert von Gewalterfahrungen (physisch und…
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