Er sorgt sich um freie Debattenräume, aber gehört wird er wie kaum ein anderer: Wahrscheinlich gibt es keinen Bürgermeister in Deutschland mit vergleichbarer Prominenz und Reichweite. "Aber wir müssen da unterscheiden zwischen einer normalen inhaltlichen Debatte – die läuft leider mit geringer Wahrnehmung im Hintergrund – und den Empörungswellen." Dass er "in bestimmten Situationen nicht die angemessene Wortwahl" trifft, "die Kritik nehme ich an". Aber die Themen, "die ich da aufgreife, bewegen mich wirklich, und was ich da kritisiere, meine ich auch so". Wenn ihm das jemand absprechen will, nennt Palmer das ein Ablenkungsmanöver.
"Was ich für notwendig halte, sage ich auch", und zwar mit einem trotzigen Stolz, der anklingt, wenn er erläutert, dass es ihn nicht empört, wenn einer "Mohrenkopf" sagt. Nicht alle definieren eine Grobheit gleich, da gebe es eben "unterschiedliche Einschätzungen, wo überhaupt Provokation beginnt" – und ihn provoziert es, sagt er, "wenn die Bundesregierung die erneuerbaren Energien kaputt macht und von einen Jahr aufs andere 80 Prozent weniger Solaranlagen gebaut werden. Aber da gibt es komischerweise keine Shitstorms."
Der Rausschmiss war schnell beschlossene Sache
Was die einen tragbar finden, ist für andere unerträglich. Etwa als Palmer es für notwendig hielt, sich kurz vor der grünen Landesdelegiertenversammlung im Mai 2021 öffentlich über die Hautfarbe des Sexualorgans eines Fußballstars zu äußern und dafür die am wenigsten würdevolle Wortwahl wählte.
"Das Maß ist voll", ärgerten sich Oliver Hildenbrand und Sandra Detzer, die damaligen Landesvorsitzenden von Palmers Partei. Zwei, die für einen ganz anderen Kommunikationsstil stehen, einen solchen nämlich, der die Grünen als "mutige Kraft für ein gutes Morgen" ausweist. Für jemanden, der mit Rassismus kokettiere und Ressentiments schüre, sei bei den Grünen kein Platz, begründeten sie. Und die Delegierten stimmten, ohne größere Diskussion, einem spontan eingebrachten Antrag zu, gegen den degoutanten Provokateur einen Parteiausschluss anzustrengen.
In Tübingen wird die Entfremdung zwischen der regionalen Basis und der Parteispitze deutlich. In einer von Palmer selbst beauftragten, aber repräsentativen Umfrage gaben 86 Prozent der grünen Klientel an, zufrieden mit der Arbeit ihres Oberbürgermeisters zu sein.
Wen die Grünen gegen ihn ins Rennen schicken werden, ist noch nicht endgültig gewiss. Noch bis Ende Februar können sich Menschen um die Kandidatur bewerben. Bisher gibt es nur eine, die will: Ulrike Baumgärtner, in der Kommunalpolitik fest verwurzelt, bei drei der letzten vier Gemeinderatswahlen die Tübinger Stimmenkönigin, Ortsvorsteherin vom Teilort Weilheim und grüne Fraktionsvorsitzende im Kreistag. Auf ihrer Website hebt sie hervor: "Ich wäre die erste weibliche OB-Kandidatin der Grünen und Alternativen." Gesprächsanfragen von Kontext blieben unbeantwortet. Ihr Bewerbungsschreiben ist hier nachzulesen.
Doppelte Standards sind erlaubt, findet Palmer
Wenn es mit seiner Wiederwahl nicht klappt, ist die politische Figur Boris Palmer Geschichte, sagt er über sich selbst. Ob ihm sein Parteibuch genommen werde oder nicht, sei nun Sache des Schiedsgerichts. Aus freien Stücken werde er es aber sicher nicht abgeben.
Den Ärger haben insbesondere Äußerungen zur Migrationspolitik auf sich gezogen, zum Beispiel als ihn ein Radfahrer ungestüm angerempelt hat: "Ich wette, dass es ein Asylbewerber war. So benimmt sich niemand, der hier aufgewachsen ist", gab er damals zu Protokoll und beharrte darauf, mit Wetten dieser Art eigentlich immer richtig zu liegen.
Das ist die eine Seite von Boris Palmer: der saubere und fleißige Deutsche, der ausländische Nichtsnutze maßregelt und in seinem Buch "Wir können nicht allen helfen" formuliert: "Wir müssen von Asylbewerbern nicht erwarten, dass sie sich gesetzestreuer als deutsche Staatsbürger verhalten. Wir dürfen es aber." Das ist der um blonde Professorentöchter besorgte Palmer, der kriminelle Migranten schnell und konsequent außer Landes verfrachten will, wobei der Hinweis nicht fehlen darf, dass ja nicht alle syrischen Gebiete gleichermaßen vom Bürgerkrieg betroffen sind.
Auf der anderen Seite steht in Tübingen eine dezentrale Unterbringung von Geflüchteten, die zum besten zählt, was Baden-Württemberg den Schutzsuchenden zu bieten hat, für die ordentlich Geld in die Hand genommen wurde, um Neubauten zu schaffen, statt die Menschen in kasernenartigen Sammelunterkünften an den Stadtrand zu verfrachten. Und ein städtisches Programm, das die Kosten für das erste Jahr der Ausbildung übernimmt, wo Betriebe ansonsten zu skeptisch wären, ob sich das Geschäft für sie rentieren würde.
"Parteitage als Inszenierungsveranstaltungen"
Die Differenz von Wort und Tat ist auch das Leitmotiv von Rezzo Schlauchs Verteidigungsschrift. Der Alt-Grüne vertritt Palmer im Streit gegen die eigene Partei, die in einer Identitätskrise steckt, weil sie Vielfalt verkörpern will, aber Geschlossenheit signalisieren muss. Und Schlauch wählt auf 55 Seiten die Form des Frontalangriffs: Wo der grüne Protest gegen die autoritär "formierte Gesellschaft" der 50er- und 60er-Jahre in der Gründungsphase das "politisch breitest denkbare Spektrum" zusammenführte, verkämen Parteitage heute "mehr und mehr zu Inszenierungsveranstaltungen", mit einer "neuen Unkultur der Verhinderung von Diskussionen", die Kontroversen scheut: "Das ist das Gegenteil von einer diskussionsfreudigen streitbaren Partei; das ist verordnete Friedhofsruhe."
Dass Palmer Flüchtlingsströme begrenzen will, sei ebenso richtig wie, "dass die Partei Bündnis 90/Die Grünen dieser Auffassung mehrheitlich immer entgegengetreten ist." Aber diese Ablehnung habe es nicht geschafft, die Realität zu überwinden. Überall, wo Grüne mitregieren, wird eifrig abgeschoben und der freie Zugang für Menschen mit dem falschen Pass blockiert. Schlauch fragt frei nach Brecht: "Was ist schlimmer? Ein Gesetz zu fordern oder ein Gesetz zu machen? Wenn die Umsetzung einer politischen Forderung in ein Gesetz kein Grund für einen Parteiausschluss ist, kann dies auch nicht für die bloße Formulierung exakt derselben Forderung gelten."
Den Unterschied macht, dass sich Palmer offen zu einer Praxis bekennt, über die viele ParteifreundInnen nur ungern reden, die sie aber auch nicht vom Regieren und Gestalten abhält.
4 Kommentare verfügbar
tomas
am 01.03.2022Da isser ja wie ein trotziges kleines Kind. Dass es nicht darum geht, ob *ihn* das empört, sondern darum, ob es für andere verletzend sein kann -- intelligent genug dafür dürfte der ja sein. Aber er will ja nicht.
Mich empört es ja…