Eine teils ähnliche Sichtweise vertritt der Politologe Daniel Marwecki im "Jacobin Magazin": "Wladimir Putin zu verteidigen ist nicht links. Aber ebenso wenig ist die NATO ein Friedensprojekt", schreibt er. Und zeigt auch auf, dass es keine einfache, widerspruchsfreie Lösung gibt: "Das Problem ist, dass die internationale Politik aus Sicht der Mächtigen wie ein Schulhof ohne Lehreraufsicht funktioniert: Der Stärkere gewinnt. Die USA werden sich deshalb von Russland keine Forderungen diktieren lassen, selbst wenn diese im Prinzip nachvollziehbar sind. Michael O'Hanlon, Politikwissenschaftler am einflussreichen Brookings Institute in Washington, bringt das Dilemma so auf den Punkt: 'Die Ukraine und Georgien sollten nicht Teil der NATO sein – auch wenn Moskau das nicht für sie entscheiden darf.'"
Was wäre eine Lösung? Eine nicht der Nato beitretende, aber neutrale Ukraine, für die sowohl USA als auch Russland Neutralitätsgarantien abgeben, wie Marwecki einen Vorschlag der Journalistin Katrina vanden Heuvel zitiert? Darüber scheint, Stand jetzt, schon die Geschichte hinweg gegangen zu sein.
Der ehemalige Bundesgeschäftsführer und Bundestagsabgeordnete der Linken, Matthias Höhn, schrieb dazu: "Zu keinem Zeitpunkt nach 1990 war Russland ernsthaft militärisch von außen bedroht. Deshalb geht es aktuell auch nicht um 'berechtigte russische Sicherheitsinteressen', sondern um seine Einfluss- und Machtinteressen. … 2004 (!) ist die Nato letztmalig geografisch näher an Russland herangerückt. Jetzt, 18 Jahre später, soll das die russische Sicherheit massiv gefährden und eine solche Eskalation begründen? Das ist abwegig."
Russland ist mehr als Putin
Für diejenigen, die sich unverrückbar auf Seiten der Nato verortet sehen, sei ein Text von Ulrich Heyden aus dem "Freitag" empfohlen. Denn man kann gut und gerne behaupten, dass die Deutsche Medienberichterstattung über Russland – jenseits der großen Politik – einigermaßen dürftig ist und es durchaus Entwicklungsspielraum gäbe. "Seit 2014, als der Konflikt um die Ukraine offen ausbrach, verzichten große deutsche Medien darauf, ein Bild vom tatsächlichen Russland zu vermitteln", schrieb er kürzlich. "Man ist zu einer Berichterstattung übergegangen, die nur noch zeigt, wie sehr Russen die westliche Lebensweise schätzen, wie schwer sie 'unter Putin leiden' und wie hart Oppositionelle bestraft werden. Es wird der Eindruck erzeugt, das sonstige Russland sei rückständig, unberechenbar, ultrakonservativ und xenophob, und so getan, als genüge es, über Wladimir Putin und den Geheimdienst zu berichten, um über das politische Russland alles gesagt zu haben. Das geht komplett an der Wirklichkeit vorbei. Russland ist hundert Mal vielschichtiger, zu vielschichtig, als dass man seine Politik über einen Präsidenten und dessen Umgebung erklären könnte."
Interessant ist, dass Linken-Chefin Wissler in ihrer Rede die "StaatsMÄNNER" extra betont. Denn in der Tat und aus feministischer Perspektive betrachtet: Wer bestimmt den derzeitigen politischen, medialen, strategischen Diskurs auf allen Seiten? Das Foto der Münchner Sicherheitskonferenz spricht da Bände. Frauen tauchen in diesem Konflikt in Reportagen aus dem Kriegsgebiet auf, als Flüchtende, die mit Kindern unterwegs sind, sich um ihre Familien sorgen. "Krieg ist das Ding mit Gemächt", schrieb Waltraud Schwab vor kurzem in der taz. "Die demonstrierte Macht der Panzer mit ihren phallischen Kanonenrohren und der Kampfflugzeuge mit ihren geschürzten Schnauzen wirkt obszön." Diese Sicht muss man nicht teilen, aber vielleicht regt sie Medienkonsumierende aller Seiten ein wenig dazu an, mal einen anderen Standpunkt einzunehmen.
Die Grünen-nahe Heinrich-Böll-Stiftung hätte da auch einen Vorschlag. Sie überschreibt ein Dossier zum Thema "Feministische Außenpolitik" mit den Worten: "Der Schutz von Frauen in bewaffneten Konflikten sowie ihre gleichberechtigte Mitwirkung an Friedensprozessen tragen zur Förderung des Weltfriedens bei. Doch die Staaten setzen weiter auf Aufrüstung und Abschreckung." Es werde "höchste Zeit, herrschende Machtstrukturen aufzubrechen und Sicherheit nicht mehr militärisch, sondern menschlich zu denken, die Rechte von Frauen zu stärken und sie als Gestalterinnen der Friedens- und Sicherheitspolitik anzuerkennen." Kluge Worte, auch wenn die Heinrich-Böll-Stiftung vor einigen Monaten auch bei Kontext-Autoren für Aufregung sorgte, "als Nato-Handlanger", der sich "für 'robuste Einsätze' im Osten und mit deutscher Beteiligung" einsetze. Es gibt selten Schwarz und Weiß, dafür aber sehr viel Grau auf der Welt.
Propaganda und Lügen auf beiden Seiten
So hat auch ausgerechnet der "Spiegel", in linken Kreisen oft als Nato-Hure voller Atlantikbrücke-JournalistInnen verschrien, vor ein paar Tagen über den Heiligen Gral in diesem ganzen Streit berichtet: die Frage danach, ob es denn eine belastbare Zusage der Nato gab, sich nicht nach Osten auszuweiten. Denn bisher hatte das Bündnis das vehement verneint. Der "Spiegel" schreibt: "Der US-Politikwissenschaftler Joshua Shifrinson hat das ursprünglich als 'secret' eingestufte Dokument entdeckt. Es handelt von einem Treffen der politischen Direktoren der Außenministerien der USA, Großbritanniens, Frankreichs und Deutschlands in Bonn am 6. März 1991. Thema war die Sicherheit Polens und anderer osteuropäischer Staaten. Die deutsche Einheit lag gut fünf Monate zurück, ein Ende des Warschauer Paktes – des sowjetischen Imperiums – war absehbar. Schon seit Monaten signalisierten Politiker in Warschau oder Budapest ihr Interesse am westlichen Bündnis. Wie das Dokument belegt, stimmten Briten, Amerikaner, Deutsche und Franzosen jedoch überein, dass eine Nato-Mitgliedschaft der Osteuropäer 'inakzeptabel' sei." Damit ist eine seit Jahren andauernde Nato-Erzählung in sich zusammengefallen.
Und ist es nicht auch ein bisschen so, wie es Ernst Lohoff in der "Jungle World" schreibt? "Nach dem Zusammenbruch des Realsozialismus lautete die liberale Mär, Demokratie und Marktwirtschaft würden den Mitgliedern der Weltgesellschaft den Weg zu Freiheit und Wohlstand eröffnen. Diese Illusion hat sich jämmerlich blamiert. Das darf aber nicht heißen, dass der Anspruch aller auf Selbstbestimmung und Teilhabe am gesellschaftlichen Reichtum auf dem Müllhaufen der Geschichte landet."
Weil Waffen nicht zur Disposition stehen und mächtige Egos niemals freiwillig Macht abgeben, stellt sich nun die Frage, wie die Diplomatie wieder in Gang kommen und die Eskalationsspirale gestoppt werden könnte. Denn, so schreibt es der Politologe Daniel Marwecki, "die geopolitische Eskalation hilft (…) nicht den Menschen, sondern befestigt nur die Herrschaft Putins in Russland und nicht weniger nationalistischer Kräfte in den Ländern Osteuropas. Und auch in den USA legitimiert sie die immer weitere Hochrüstung des Militärs mit Mitteln, die der sozialen Infrastruktur vorenthalten werden." Beides kann keiner wollen.
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Dennis Riehle
am 24.02.2022