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Stuttgart-21-Mehrkosten

In der Endlosschleife

Stuttgart-21-Mehrkosten: In der Endlosschleife
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Ein unsägliches TV-Interview mit Stuttgarts OB Frank Nopper und eine geplante Veränderung in der Bahn-Infrastruktur, die Rückwirkung auf Stuttgart 21 haben könnte: Auf der jüngsten Montagsdemo befasste sich Winfried Wolf mit den erneuten Kostensteigerungen bei dem Milliardenprojekt. Kontext dokumentiert seine Rede in gekürzter Form.

Die jüngste Steigerung der offiziellen Stuttgart-21-Kosten hat bei den Offiziellen keinerlei Erstaunen ausgelöst. Im Gegenteil. Die Erhöhung auf nunmehr gut neun Milliarden Euro wird von Stuttgarts Oberbürgermeister schlicht ignoriert. In einem Interview in der SWR-Sendung "Zur Sache Baden-Württemberg" vom 10. Februar beantwortet OB Frank Nopper die Frage der – couragierten – Moderatorin Alexandra Gondorf, ob Stuttgart 21 nicht ein "Fass ohne Boden" sei, erst gar nicht. Irgendwie hat der Mann Ludwig Uhland im Sinn: "Der wackre Schwabe forcht sich nit / Geht seines Weges Schritt vor Schritt"*. Wobei die Gelassenheit und Ruhe, die der Dichter in die Figur einwebt, sich bei Nopper nicht einstellen will. Der Mann verhaspelt, verheddert und vergestikuliert sich. Das Projekt sei in Wirklichkeit "eine Jahrhundertchance". Was sind schon neun Milliarden Euro, wenn man "in 28 Minuten in Ulm" ist? Nun ist Ulm nicht wirklich die Stadt aller Träume. Und so nimmt Nopper sein Neckar-Publikum auf die weite Reise an die Elbe mit und erklärt: Stuttgart 21 sei "die größte städtebauliche Chance bundesweit nach der Hafen-City in Hamburg". Eben "85 Hektar groß." Wobei hier natürlich die entscheidende VfB-Maßeinheit her muss, also: "150 Fußballfelder groß". Und dann: "Ein Modellquartier mit 5.000 Wohneinheiten."

Das Interview mit OB Nopper mit Klick auf den Pfeil.

Damit spricht OB Nopper, wie zuvor schon die Oberbürgermeister Rommel, Schuster und Kuhn, unfreiwillig das an, um was es wirklich geht: weniger um einen Bahnhof als Kommunikationsort und als Mobilitätszentrale für Hunderttausende als um ein Projekt der Immobilienspekulation für ein paar Dutzend Profiteure, mit Wohnungen für ein paar Tausend Sehrgutverdienende. Tagtäglich nutzen den Bahnhof mehr als 200.000 Menschen. Diesen wird in einer Bauzeit von mindestens 15 Jahren tagtäglich ein immenser Stress wegen endloser Umwege abverlangt. Nun wird ja in unserer neoliberalen Gesellschaft alles monetarisiert, in Euro und Cent umgerechnet, auch die Toten im Straßenverkehr, die wirtschaftlichen Schäden durch die Pandemie oder die "Staukosten", die verlorene Zeit auf Autobahnen. Der gigantische Zeitaufwand, den der Bau von Stuttgart 21 diesen 200.000 Menschen an jedem Tag abverlangt – sollte der nicht monetarisiert werden? Sind das am Ende eine oder drei Milliarden Euro zusätzliche S-21-Kosten?

Wobei sich der Verlust an Lebensqualität und Mobilitätskomfort ja fortsetzt. Sollte Stuttgart 21 jemals fertigerstellt werden, dann wird am Ende diesen Hunderttausenden anstelle eines ebenerdig erreichbaren Bahnhofs mit 16 Gleisen ein Untergrundbahnhof mit acht Gleisen zur Verfügung gestellt.

S 21 versus Elphi: Tiefbahnhof zunehmend in Führung

Apropos Elbe. Viele Jahre lang gab es einen Negativ-Wettbewerb zwischen den Projekten Stuttgart 21 und Hamburger Elbphilharmonie. S 21 hat in diesem Vergleich zunehmend die Nase vorn: Die Elbphilharmonie erlebte eine Kostensteigerung von 186 Millionen auf 866 Millionen Euro – die Baukosten stiegen um das 4,6-Fache. Bei der Bauzeit gab es eine Steigerung um das 1,6-Fache, von fünf auf acht Jahre. Bei Stuttgart 21 haben wir – Stand Februar 2022 – eine Kostensteigerung von 2,46 Milliarden auf 9,2 Milliarden oder um das 3,7-Fache. Die Bauzeit wurde ursprünglich mit fünf Jahren angegeben. Sollte S 21 Ende 2026 in Betrieb gehen, was der bahninterne aktuelle Termin der Eröffnung ist, dann läge die Bauzeit bei gut 15 Jahren, was einer Verdreifachung der Bauzeit entspricht. Alle wissen: Die Baukosten werden weiter steigen. So dass auch hier der Elphi-Steigerungsfaktor wohl überboten wird.

Festzuhalten bleibt auch: Es gibt einen entscheidenden Unterschied, der bei all diesen Vergleichen – auch dem mit dem Berliner Großflughafen BER – unterschlagen wird. Die Elbphilharmonie brachte für die Hamburger Kulturszene eine qualitative Verbesserung mit sich. Mit dem Berliner Flughafen BER im Abgleich mit den dann aufgegebenen Flughäfen Tegel und Schönefeld wird eine Kapazität von zusätzlichen 27 Millionen Fluggästen pro Jahr bereitgestellt. Doch mit dem Tiefbahnhof Stuttgart 21 gibt es einen Kapazitätsabbau, der sich auf 30 Prozent weniger Zugankünfte in der Stunde mit der höchsten Nachfrage (im Zeitraum 7 bis 8 Uhr werktags) bemisst.

Wunderbar, dass SWR-Moderatorin Gondorf auch hier beim OB nachhakt! Ob nicht vielleicht das zutreffe, was Winfried Hermann, der Landesverkehrsminister, vorgerechnet habe, wonach der S-21-Bahnhof am Ende zu klein sei, um den "Bahn-Takt" zu gewährleisten? Ob man also nicht zusätzlich zu Stuttgart 21 einen "Ergänzungsbahnhof" bauen müsse? Und sofort legt sich Nopper wieder ins Zeug, zitiert "alle ihm vorliegenden Gutachten", wonach der S21-Bahnhof ausreiche, zumal man ja gegebenenfalls "die Zulaufstrecken optimieren" würde. Und erneut verweist unser OB darauf, worum es in Wirklichkeit geht: "Ich bin im Übrigen auch deswegen dagegen, gegen diesen Ergänzungsbahnhof, weil es die städtebauliche Chance mit dem Stadtteil Rosenstein […] verzögern würde."

Mehrkosten-Übernahme: mitgehangen, mitgefangen

Nun gibt es ja seit wenigen Tagen die Neuigkeit, dass das Verwaltungsgericht Stuttgart doch bereits 2022 das Verfahren zur Aufteilung der Mehrkosten des S21-Projekts "angehen" wird – seit Dezember 2016 klagt die Bahn AG auf eine Übernahme der Mehrkosten durch die Projektpartner (Land, Stadt, Region Stuttgart). Das ist eine heiße Nummer; sie kann, wie das Aktionsbündnis gegen Stuttgart 21 nachweist, das Land, die Deutsche Bahn und nicht zuletzt die Stadt Stuttgart sehr teuer zu stehen kommen. Auch das war im SWR-Gespräch mit dem OB Thema. Frank Noppers Argument, an den Mehrkosten von Stuttgart 21 werde sich die Stadt Stuttgart "sicher nicht" beteiligen, ist auf Anhydrit gebaut. Werner Sauerborn vom Aktionsbündnis verweist im selben SWR-Beitrag auf das Prinzip "mitgehangen, mitgefangen" und argumentiert, dass bei aktueller Kostenschätzung die Stadt mit bis zu 1,5 Milliarden Euro belastet werden könnte. Was auf ein Ende der kommunalen Finanzautonomie hinauslaufen würde.

Doch auch wenn es so nicht kommt, wenn alles beim Land oder beim Bund oder bei der Bahn hängenbleibt - Frau Gondorf schenkt Nopper hier nochmals kräftig ein: "Unterm Strich bleibt das bei den Leuten hängen". Und der Kommentator Daniel Müller schreibt auf der SWR-Website: "Im Endeffekt ist es komplett egal, wer bezahlt. Ist es Stadt, Land oder Bund, müssen wir zahlen. Ist es die Bahn, müssen wir ebenfalls zahlen. Entweder in Form von Preiserhöhungen oder (falls das überhaupt möglich ist) bei schlechterem Service oder [schlechteren] Zuständen beim Reisen."

Ampel will Bahn-Strukturen ändern

Nun gibt es im Ampel-Koalitionsvertrag eine interessante Passage, die für Stuttgart 21 noch eine große Bedeutung entfalten könnte. Dort heißt es auf den Seiten 49 und 50: "Die internen Strukturen (im Konzern Deutsche Bahn, d. Verf.) werden wir effizienter und transparenter gestalten. Die Infrastruktureinheiten (DB Netz, DB Station und Service) der Deutschen Bahn AG werden innerhalb des Konzerns zu einer neuen, gemeinwohlorientierten Infrastruktursparte zusammengelegt. […] Gewinne aus dem Betrieb der Infrastruktur verbleiben zukünftig in der neuen Infrastruktureinheit."

Der Bauherr von Stuttgart 21 ist die DB Projekt Stuttgart Ulm GmbH (PSU). Auf deren Website heißt es zwar: "Die Geschäftsführer der neuen Gesellschaft [DB Projekt, d. Verf.] berichten direkt unmittelbar an den Vorstand Infrastruktur der Deutschen Bahn AG Ronald Pofalla."Berichtet wird also an ein Mitglied im Vorstand der Holding, des DB-Konzerns. Doch formal ist diese Gesellschaft mit beschränkter Boden-Haftung – ausweislich der Geschäftsberichte der Deutschen Bahn AG – eine hundertprozentige Tochter der entscheidenden Infrastrukturgesellschaft der Deutschen Bahn AG.

Was heißt das für Stuttgart 21? Das heißt, dass dann, wenn die Zielsetzungen des Ampel-Koalitionsvertrags umgesetzt werden, diese Aktiengesellschaft (DB Netz) vom Bahnkonzern faktisch – hinsichtlich der Geldströme – abgekoppelt ist. Bundesgelder in Höhe von sieben bis acht Milliarden Euro und die Netzentgelte (die Einnahmen aus der Netznutzung, die DB Netz von den eigenen Töchtern DB Regio, DB Fernverkehr, DB Cargo und von allen privaten und scheinprivaten Eisenbahnverkehrsunternehmen – wie Abellio, Go Ahead, Metronom, SEW – kassiert) verbleiben in der Infrastruktur. Die Holding hat dann keinen Zugriff mehr auf diese Gelder. Diese Gelder müssen ausschließlich für Netzerhalt und Netzausbau eingesetzt werden. Sie können nicht mehr für die Interessen des Global Players DB AG – in Polen oder Mexiko – eingesetzt werden.

Und vor allem: Dieses Infrastruktur-Unternehmen muss laut Ampel-Koalitionsvertrag "gemeinwohlorientiert" agieren. Vergleichbares gilt dann für die Tochter von DB Netz, DB Projekt Stuttgart-Ulm (PSU). Und damit für das Projekt Stuttgart 21.

Ist eine Bahnhofsverkleinerung gemeinwohlorientiert?

Was aber heißt dann "gemeinwohlorientiert", wenn es um ein "Fass ohne Boden" geht? Was heißt das, wenn sich die Kostenexplosion fortsetzt? Was heißt das, wenn in ein Dutzend Studien bewiesen ist, dass DB Netz und PSU Milliardensummen dafür einsetzen, die Kapazität eines Bahnknotens zu verkleinern? Was heißt es, wenn diese gigantische Verkleinerungs-Investition wiederum neue "Ergänzungsprojekte" erheischt, die weitere Milliarden Euro erfordern – so den neuen unterirdischen "Ergänzungsbahnhof", so den 12 Kilometer langen Gäubahn-Tunnel? Was heißt das, wenn allein diese Ergänzungsprojekte zusätzliche rund fünf Milliarden Euro kosten – eine Summe, die mehr als dem entspricht, was bis 2014 das gesamte S-21-Projekt kosten sollte und was vom damaligen Bahnchef Rüdiger Grube als "Sollbruchstelle" bezeichnet wurde?

Nein – ich habe keine Illusion, dass die neue Bundesregierung mit dem Ampel-Koalitionsvertrag und den zitierten interessanten Bestimmungen zur Bahn-Infrastruktur zu einem "Aus" bei Stuttgart 21 führt. Die zerstörerischen Kräfte im Bahnkonzern und der FDP-Bundesverkehrsminister Volker Wissing werden weiter ihr Projekt einer Betonbahn betreiben. In Stuttgart und anderswo. SPD und Grüne werden dem nichts entgegensetzen und weiter ihre Wettbewerbs-Vorstellungen, die grundsätzlich falsch und unter anderem mit der Abellio-Pleite 2021/22 ein weiteres Mal als falsch dokumentiert wurden, versuchen umzusetzen.

Die Rede von Winfried Wolf in voller Länge, zu hören bei der Online-Montagsdemo vom 21. Februar (ab Minute 21:35).

Dennoch wird es schwieriger werden, diese klimaschädigende, den Bahnverkehr behindernde Politik fortzusetzen. Die geplante Abschirmung des Infrastrukturbereichs des Bahnkonzerns bietet neue Ansatzpunkte, um den Widerstand gegen Stuttgart 21 (und gegen andere zerstörerische Infrastrukturprojekte in Hamburg oder Frankfurt am Main oder anderswo) fortzusetzen. Bietet eine neue Möglichkeit, diesen Herren der Finsternis das Hegel-Zitat entgegenzuschleudern, das in Stuttgart bis vor Kurzem die Frontseite des Bonatzbaus zierte: "... dass diese Furcht zu irren schon der Irrtum selbst ist."


* Ludwig Uhland, Gedicht "Schwäbische Kunde" (auch: "Der wackre Schwabe"), verfasst 1814. Dem Verfasser dieses Artikels ist – als gelernter und gebürtiger Schwabe – sehr wohl bekannt, dass Uhland hier den Imperfekt verwendet hat, also "... ging seines Weges ...". Uhland möge mir meinen Eingriff verzeihen!

Winfried Wolf ist Chefredakteur von Lunapark 21, Mitglied im KoKreis von "Bahn für Alle" und unter anderem Autor des Buches "Abgrundtief + bodenlos: Stuttgart 21, sein absehbares Scheitern und die Kultur des Widerstands", 3. erweiterte Auflage 2019, Papyrossa-Verlag, Köln.


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20 Kommentare verfügbar

  • Frübis Johannes
    am 27.02.2022
    Antworten
    Vielen Dank für die gewohnt aussagekräftige und nachvollziehbare Recherche.
    OB Nopper passt eins zu eins in die Rosensteinconnection aus den Neunzigern.
    Wieso sich die Stuttgarter gerade einen Kandidaten von vorgestern als 8cht-Jahre OB ausgesucht haben?
    Gllauben Sie etwa mitverdienen zu können…
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