In diesem Jahr gab es in Sachen Stuttgart 21 bereits das volle Programm. Wir hatten bei dem Thema mindestens vier Ereignisse, die eigentlich auf Seite eins der Zeitungen und als Hauptaufmacher der sonstigen Medien hätten berichtet werden müssen. Und zwar nicht nur im Raum Stuttgart, sondern bundesweit. Da waren erstens die Erkenntnisse, wonach ein S-21-Tiefbahnhof, der dem Deutschlandtakt gerecht wird, mindestens 20, manche sagen 40 bis 50 zusätzliche Tunnel-Kilometer benötigen würde (Kontext berichtete). Da war zweitens die Recherche von Harald Kirchner vom SWR, wonach die Flächen für eine Wohnbebauung auf dem bestehenden Gleisvorfeld erst im Jahr 2035 frei werden (Kontext berichtete).
Drittens hatten wir am vergangenen Freitag die Meldung zu den Doppelbelegungen auf den S-21-Gleisen. Die Bundesregierung höchstselbst musste bei dem Thema Farbe bekennen – in Form einer Antwort auf eine entsprechende Anfrage der Grünen. Die Substanz der Antwort lautet: In einem S-21-Bahnhof wird es im Fall eines Deutschlandtakts und bei der eingeplanten Zunahme der Fahrgäste 180 Doppelbelegungen auf den Gleisen geben. Es stehen also an einem durchschnittlichen Werktag 180 Mal zwei Züge zum gleichen Zeitpunkt auf einem der acht S-21-Gleise.
Doppelbelegungen bei S 21 gravierender als anderswo
Da gibt es dann oft den Verweis auf die Hauptbahnhöfe Köln und Hamburg, wo es "so was" ja auch geben würde. Verschwiegen wird dabei, dass das ja gerade das Problem bei diesen Bahnhöfen ist. Dass das von allen Fahrgästen und auch von der Deutschen Bahn selbst dort als Manko empfunden wird. Dass es deshalb auf diesen Bahnhöfen oft Chaos gibt. Und dass im Rahmen der Deutschland-Takt-Planungen geprüft wird, wie man in Köln und in Hamburg solche Doppelbelegungen vermeiden kann.
Vor allem wird dabei verschwiegen, dass in diesen beiden Bahnhöfen diese Züge mit Doppelbelegungen in jeweils entgegengesetzter Richtung aus dem Bahnhof herausfahren: Im Hauptbahnhof Hamburg rollen die einen Züge in Richtung Bremen und die anderen in Richtung Hannover, in Köln fahren die einen Züge auf dem doppelbelegten Gleis in Richtung Deutz und Düsseldorf und die anderen Richtung Bonn und Aachen. Doch im S-21-Tiefbahnhof dürfen grundsätzlich die Züge nur in ein und derselben Richtung den Bahnhof verlassen. Sie müssen also hintereinander herzuckeln. Hier heißt Doppelbelegung verdoppelter Stress. Gekoppelte Verspätungen. Wenn der vordere noch eine Tür hat, die klemmt, oder einen Rollstuhlfahrer, für den es mehr an Einstiegszeit benötigt, dann wird der hinter diesem liegende Zug genauso verzögert starten.
Von diesen bislang drei neuen Fakten zu S 21 ist jedes allein bereits ein Killer-Fakt. Mit jedem von den dreien müsste das größte Infrastrukturprojekt Deutschlands "eigentlich" ad acta gelegt werden. Doch es findet sich dazu nichts in den überregionalen Medien.
Lästig: zu viele "verkehrende Linien"
Und in der "Stuttgarter Zeitung" tauchte das Thema Doppelbelegungen erst auf den Seiten "Stuttgart, Stadt, Region & Land" auf. Die Überschrift und die Unterzeile dazu lauten – mit latent positivem Ton: "Zwei Züge auf einem Gleis im Hauptbahnhof geplant. Bis 2030 sollen in Deutschland doppelt so viele Menschen wie heute Bahn fahren. Was heißt das für Stuttgart?"
Ein Verweis auf die acht Gleise von S 21 taucht gar nicht auf. Schon gar nicht gibt es die Aussage, dass es im bestehenden Bahnhof 16 Gleise gibt. Und dann schreibt Redakteur Konstantin Schwarz den hochinteressanten Satz: "Aufgrund der Vielzahl an verkehrenden Linien sei Stuttgart 'ein Knoten, in dem Richtungsanschlüsse fortlaufend hergestellt werden', so die [Bundes-]Regierung."
Da steht nicht: Der Deutschlandtakt funktioniert mit S 21 nicht. Da steht nicht: Die Zahl der Gleise wird mit Stuttgart 21 halbiert. Da steht nicht: Im bestehenden Kopfbahnhof würde der Deutschlandtakt optimal funktionieren. Es heißt nicht: Dieser Integrale Taktfahrplan funktioniert nicht im S-21-Bahnhof. Nein! Schuld daran, dass das alles "im neuen Hauptbahnhof" nicht klappt, sind die Heilbronner, weil sie "da oben" in Heilbronn hocken. Sind die Ulmer, weil die sich dort unten hinter den Schwäbischen Albbergen am Donau-Ufer ducken. Sind die Tübinger und die Horber, weil diese dummerweise neckaraufwärts sesshaft wurden. Es gibt halt in Stuttgart so eine ärgerliche "Vielzahl an verkehrenden Linien."
BRH-Bericht blieb ein Jahr unter Verschluss
Und dann gibt es das Killer-Ereignis Nummer vier. Dabei handelt es sich um den jüngsten Prüfbericht des Bundesrechnungshofs (BRH), den Thomas Wüpper ans Tageslicht zerrte. Sagte ich "jüngster Bericht"? Der Prüfbericht datiert auf den 13. September 2019. Er wurde also ein Jahr lang unter Verschluss gehalten. Er wurde dann – nachdem er unter anderem im Berliner "Tagesspiegel" am 18. September 2020 und in der StZ in einem Wüpper-Artikel in großen Teilen publik gemacht wurde – vom Bundesrechnungshof ins Netz gestellt. Zunächst mit zwei geschwärzten Stellen.
Der Inhalt dieses neuen, 17 Seiten umfassenden Prüfberichts hat es in sich. Da steht, dass "die Bahn den Gesamtwertumfang [gemeint sind die gesamten S-21-Kosten; W.W.] schrittweise auf mehr als das 2,5-fache erhöhte". Und dann: "Ein weiterer Anstieg [der Kosten] zeichnet sich nach Einschätzung des Bundesrechnungshofs bereits ab." (S. 15). Ergänzend zum Aspekt Kostenanstieg heißt es dort: Die S-21-Kosten lägen ohnehin massiv höher als offiziell immer angegeben, da der Bund einen "Einnahmeverzicht [...] von über 700 Millionen Euro" beim S-21-Grundstücksverkauf praktizieren würde (S. 7). Der BRH argumentiert hier, die Erlöse aus dem Vorab-Verkauf des S-21-Geländes hätte nicht die DB einstecken und zur Finanzierung von S 21 verwenden dürfen. Das sei Geld, das dem Bund zugestanden hätte. Diese Stelle war auch in der vom BRH publizierten Fassung geschwärzt. Sie konnte entschwärzt werden.
In dem Bericht ist des Weiteren zu lesen, dass Stuttgart 21 hinsichtlich dieser finanziellen Schräglage längst eine überregionale Bedeutung hat. Dazu heißt es: "Der Bundesrechnungshof sieht in dem Projekt von Stuttgart 21 bedeutende finanzielle Risiken für den Bundeshaushalt" (S. 14) – und sogar "gravierende Folgen für das Bestandsnetz" der Bahn (S. 16). Die Mehrkosten seien "für die DB AG wirtschaftlich nicht tragbar"; sie würden sich "unmittelbar auf die Verschuldung der DB auswirken", also die extrem hohe Verschuldung des Bahn-Konzerns weiter erhöhen (S. 15).
Drohender Konflikt zwischen Legislative und Exekutive
An mehreren Stellen macht der Bundesrechnungshof deutlich, dass das zerstörerische Großprojekt zu einem Konflikt mit der freiheitlich-demokratischen Grundordnung zu werden drohe. Und zwar ein Konflikt zwischen der Legislative und der Exekutive. Letztere, die Exekutive, meint das Bundesverkehrsministerium. Und damit den Herrn Andreas Scheuer. Mit der ersteren, der Legislative, ist der Rechnungsprüfungsausschuss des Bundestags gemeint.
Der Rechnungsprüfungsausschuss ist ein ständiger Ausschuss des Bundestags und zugleich Teil des mächtigen Haushaltsausschusses des Parlaments. Die Aufgabe des Rechnungsprüfungsausschusses besteht darin, den "Vollzug von (beschlossenen) Ausgaben des Bundes nachzuvollziehen" – unter anderem auf Basis von Berichten des Bundesrechnungshofs, einer im Grundgesetz fest verankerten und unabhängigen Institution. Es geht also der Legislative, dem Gesetzgeber, darum, der Exekutive bei der Ausgabe der vom Bundestag beschlossenen Gelder auf die Finger zu schauen. Und dabei sollen ihm die Finanzprofis des Bundesrechnungshofs mit ihren Prüfberichten Hilfestellung geben.
Jetzt zieht sich durch den 17-Seiten-Prüfbericht wie ein roter Faden hindurch, dass der Bundesrechnungshof dokumentiert, dass bei Stuttgart 21 Milliarden Euro Steuergelder im Spiel sind, dass die ständigen Verteuerungen und Verschiebungen der Fertigstellung zusätzliche Milliarden Euro kosten – und dass es Sache der Exekutive, des Bundesverkehrsministerium, sei, den Verbleib dieser Gelder zu dokumentieren. Das Ministerium des Herrn Scheuer antwortet dann dem Bundesrechnungshof immer wieder – und das ist Schritt für Schritt in dem Prüfbericht dokumentiert – dass es nicht gewillt ist, eine solche Prüfung durchzuführen, dass S 21 ein "eigenwirtschaftliches Projekt der Deutschen Bahn" sei, und dass es ausreiche, wenn der Aufsichtsrat der DB AG eine solche Prüfung vornehme. Worauf der Bundesrechnungshof wiederum erklärt, dass es Steuergelder des Bundes sind, um die es hier geht, und dass Scheuer & Co. direkte Verantwortung dafür tragen, den Verbleib oder eben das Versickern dieser Gelder sorgfältig zu überprüfen.
BRH fordert Neubewertung von S 21
Das mündet in die folgende zentrale Aussage im Prüfbericht: "Der Bundesrechnungshof hält es für erforderlich, Risiken, Termine, Kosten und Gesamtfinanzierung des Projekts Stuttgart 21 neu zu bewerten. Er hat das BMVI [Bundesministerium für Verkehr und Infrastruktur] aufgefordert, dringend mit dem Bundesministerium für Finanzen (BMF) und dem Bundesministerium für Wirtschaft und Energie eine Strategie zum weiteren Vorgehen bei dem Projekt zu erarbeiten, um Risiken für den Konzern, den Bundeshaushalt und die Eisenbahninfrastruktur des Bundes möglichst gering zu halten. Er [der BRH] hat außerdem empfohlen, die Notwendigkeit der noch ausstehenden Projektteile Stuttgart 21 zu bewerten und gegebenenfalls in Betracht zu ziehen, den Umfang des Projekt zu verringern und geplante Projektteile kostengünstiger umzusetzen." (S. 16)
Das ist schon sensationell. Eine in der Verfassung verankerte Instanz legt offen, dass es einen harten Konflikt in Sachen S 21 zwischen Bundestag – der Legislative – und der Exekutive, die ja von der Legislative kontrolliert werden soll, gibt. Sie fordert dazu auf, Stuttgart 21 "neu zu bewerten", also auf den Prüfstand zu stellen. Und gegebenenfalls Teile des Projekts nicht – nicht mehr – umzusetzen.
Doch was macht darauf das Bundesverkehrsministerium, dem der Rechnungsprüfungsausschuss dabei allerdings auch eine lange Leine lässt? Scheuer mauert, spielt auf Zeit. Gleichzeitig machen die Deutsche Bahn und die S-21-Befürworter in Stuttgart selbst das Gegenteil des geforderten Abspeckens: Sie wollen immer mehr Tunnelbauten. Noch einen Bahnhof. Noch ein Dutzend Sicker-Milliarden.
"Nicht mehr verkehrsbedeutsam"
Bezeichnend ist das mit der erwähnten Schwärzung durch den Rechnungshof und die folgende Ent-Schwärzung durch pfiffige Software-Spezialisten. Die zweite geschwärzte Stelle betraf die folgende Feststellung des Bundesrechnungshofs: Die vielfachen Ausflüchte und Einwände des Bundesverkehrsministerium seien – so der Rechnungshof und so die folgende, eigentlich geschwärzte Passage – "ein Zeichen dafür, dass selbst dass BMVI das Projekt Stuttgart 21 nicht mehr für verkehrsbedeutsam hält." (S. 11). Das heißt im Klartext: Es geht längst nicht mehr um ein Verkehrsprojekt. Stuttgart 21 ist für die Bahn, die Verantwortlichen in Stuttgart, in der Landesregierung und in der Bundesregierung "nicht verkehrsbedeutsam". Es geht um die Staatsräson. Man will das Gesicht wahren. Der nun zehnjährige Widerstand gegen Stuttgart 21 darf nicht Recht bekommen.
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Bertrand
am 15.10.2020