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Stuttgart 21

Von Bahn bis Kunst

Stuttgart 21: Von Bahn bis Kunst
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Ob es um die Kosten geht, neuen Wohnraum, Schienenkapazitäten, Kunst oder die Zukunft der Bahn – rund um Stuttgart 21 wurde und wird von den Verantwortlichen geschwurbelt und gelogen. Auf der jüngsten Montagsdemo fasste Winfried Wolf Absurditäten und Unfassbares zusammen. Kontext dokumentiert seine Rede in gekürzter Form.

Die zivilgesellschaftliche Bewegung gegen Stuttgart 21, die in diesem Jahr so oft ein "Zehnjähriges" begeht, hat einen unglaublich langen Atem. Und sie hat diesen unter anderem deshalb, weil wir von Tatsachen und Fakten ausgehen. Weil wir dieses Gerede von einer "Magistrale Paris – Bratislava" als Geschwurbel erkannten und entmystifizierten. Weil wir das Gerede von "Demokratie" im Zusammenhang mit der Volksabstimmung zu Stuttgart 21 als hohl erkannten und feststellen, dass diese Volksabstimmung mit erfundenen und verlogenen Zahlen durchgeführt wurde. Und weil wir die Losung vom "technischen Fortschritt" und davon, dass Stuttgart "mit der Zeit gehen" müsse, ablehnen und dabei im guten Sinne des Wortes konservativ sind: conservare ist Lateinisch und meint: "bewahren, erhalten, retten". Denkmalschutz und Kulturgut bewahren, Bestehendes-Bewährtes erhalten, das Klima, die Umwelt und die Bahn als öffentliches Gut retten

Stattdessen erleben wir, wie die Bahn politisiert wurde und wie mit Stuttgart 21 ein Politikum gemacht wird. Wie mit "alternative facts" – mit fake news, mit Lügen, mit Manipulation – gearbeitet wird. Und wie sich dahinter höchst spezifische Interessen verbergen.

Lasst mich das an den Beispielen Deutsche Bahn und Stuttgart 21 verdeutlichen. 1994 wurde die Deutsche Bahn gegründet. Damals hieß es: Eine staatliche Bundesbahn sei schlecht; diese sei zum Spielball der Politik geworden. Und: Eine derart hochverschuldete Bahn, wie es die Bundesbahn am 31. Dezember 1993 war, kann nicht überleben. Sie ist strukturell unwirtschaftlich. Also wurde die DB als Aktiengesellschaft gegründet, angeblich staatsfern. Also wurden alle Altschulden der Bundesbahn und der Reichsbahn und die Verpflichtungen, resultierend aus der Altersversorgung, von der öffentlichen Hand  übernommen. Im Januar 1994 wurde eine Deutsche Bahn Aktiengesellschaft gegründet, die exakt Null D-Mark Schulden hatte.

Bahn-Schulden erfreuen vor allem die Banker

Wie sieht die Bilanz heute, 26 Jahre später, aus? Zunächst einmal ist die DB AG ist ein hochpolitisches Ding. Wenn Frau Merkel nach Peking düst, hat sie den jeweiligen Bahnchef im Kabinengepäck. Es geht ja um die Seidenstraße. Wenn Frau Merkel nach Riad jettet, hat sie ebenfalls den Bahnchef mit dabei. Es geht ja um die 300 Stundenkilometer schnelle Pilgerbahn Mekka-Medina. Und wenn Ende 2020 der Bundesverkehrsminister in Berlin ein "Klimapaket" für die DB bekannt macht, und wenn derselbe Herr Scheuer im Mai eine "Corona-Hilfe" für die Deutsche Bahn AG vorstellt, dann läuft das auf einen Freibrief zur totalen Überschuldung der DB hinaus. Und dies mit dramatischen Folgen.

Diese vor 26 Jahren schuldenfrei gestartete DB ist längst hoch verschuldet. Sie hatte im August dieses Jahres erstmals mehr als 30 Milliarden Euro Schulden. Damit hat die DB in nur 26 Jahren mehr Schulden angesammelt als die Bundesbahn in 44 Jahren. Diese Bundesbahn hatte am letzten Tag ihrer Existenz exakt 58,21 Milliarden DM Schulden, was 29,76 Milliarden Euro entsprach.

Scheuer und die Bundesregierung haben jetzt Hilfe für die DB zugesagt. Aber keine Hilfe für die Schiene als Ganzes. Auch keine Hilfe in Form einer Übernahme von Schulden. Nein! Vielmehr soll die DB im laufenden Jahr rund fünf Milliarden Euro erhalten zur Erhöhung des Eigenkapitals. Und dann zehn Jahre lang pro Jahr eine Milliarde Euro, ebenfalls zur jeweiligen Erhöhung des Eigenkapitals. Insgesamt also 15 Milliarden Euro bis 2030.

Das klingt komplex. Und das ist komplex. Damit wird ein komplizierter und extrem brisanter Vorgang verschleiert. Denn mit dem ständig vergrößertem Eigenkapital wächst der Spielraum, in dem sich die DB verschulden kann. Oder muss es heißen: in dem sie sich immer mehr verschulden soll? Jedenfalls freut das die Berater und die Banken. Das spült denen große Summen in die Kassen. Die DB zahlt allein im laufenden Jahr rund eine Milliarde nur für Zins und Tilgung.

Und es kommt noch schlimmer. Wenn der Bund mit solch riesigen Summen ein einzelnes Schienenunternehmen stärkt, dann ist das nach EU-Recht eine drastische Wettbewerbsverzerrung. Und prompt haben im August 2020 die Interessensverbände der privaten Bahnen, das Netzwerk Europäische Bahnen für die privaten Güterbahnen und der Verband mofair für die privaten Bahnen im Personenverkehr, Klagen bei der EU-Kommission angekündigt. Ich bin absolut kein Freund der privaten Konkurrenzbahnen. Doch wir leben in einer konkreten Schienenwelt. Und wir müssen all dem Rechnung tragen, wenn wir uns nicht ins eigene Fleisch schneiden und das wertvolle Gut einer öffentlichen Bahn nicht massiv beschädigen wollen.

Will hier jemand die Bahn privatisieren?

Und es gibt eine gangbare Alternative. Anstelle des Eigenkapital-Anfütterns der DB zum weiteren Schuldenmachen könnte man die gleiche gewaltige Summe in die Infrastruktur selbst stecken. Beispielsweise für eine flächendeckende Elektrifizierung des Netzes. Das würde dann allen Bahnen und allen Fahrgästen zu Gute kommen. Das böte dann keine Handhabe für den Klageweg. Man kann jetzt nur mutmaßen, warum der Autofan Scheuer diesen Weg geht. Die Privatbahnen jedenfalls haben in ihre Klagedrohung bereits hineingeschrieben, was sie fordern: unter anderem auch eine komplette Öffnung des Fernverkehrs für Privatbahnen. Also private ICE und IC und EC-Züge. Und die Aufspaltung des noch einheitlichen – "integrierten" – Bahnkonzerns. Die "Hilfen", die Scheuer der DB aktuell gewährt, sind da ein Danaer-Geschenk. Damit wird eine neue Offensive zur Privatisierung der Bahn provoziert, wenn nicht bewusst herbeigeführt.

Und so wie die DB eine "politische Bahn" im schlechten Sinn ist, so ist Stuttgart 21 schlechte Politik hoch zwei. Ein Politikum. Behauptet wurde, dass damit Schienenkapazität erweitert werden würde. Mal heißt es, um 100 Prozent, mal um 50 Prozent, mal um 30 Prozent. Wir sagten immer: Hier wird mit einer gigantischen Geldsumme, die immer größer wird, enorm viel Schienenkapazität abgebaut. Mindestens 30 Prozent. Jetzt plötzlich, seit Frühsommer, heißt es auch ben S21-Befürwortern, auch beim Land, auch im Winfried-Hermann-Ministerium: Oh, das Tiefbahnhöfle ist ja viel zu klein. Wir brauchen zusätzlich zu den 40 bis 50 Kilometer Tunnelstrecken – die in Bau sind – weitere 15, 20 und noch weit mehr Kilometer Tunnelbauten. Die noch nicht einmal geplant und planfestgestellt sind.

Behauptet wird, es gehe um einen neuen, modernen Bahnhof mit einer grandiosen Kelchstützen-Architektur. Wir sagten: Das ist nichts als ein spekulatives Immobilienprojekt. Als es kein seriöses verkehrspolitisches Argument für Stuttgart 21 mehr gab, da erklärten die Stadt-Verantwortlichen mit Fritz Kuhn an der Spitze: Mit S 21 entsteht "wertvoller Wohnraum". Seit Frühjahr 2020 ist klar: Bebaut werden kann das alte Gleisvorfeld erst ab 2035: ein Vierteljahrhundert nach dem S-21-Baubeginn.  

Her mit dem Lenkmal

Es ist ja oft so: Wenn faktenbasiertes Argumentieren nicht mehr fruchtet, dann kann Kunst behilflich sein. Das war ohnehin immer unsere Stärke. Und hier komme ich zum Lenkmal. Zur von Peter Lenk in den letzten zwei Jahren geschaffenen, gut zehn Meter hohen Skulptur, dem "Schwäbischen Laokoon", das Lenkmal zum Thema Stuttgart 21. Als wir vor rund zwei Jahren darüber berieten, wie ein solches Projekt zustande kommen könnte und wie es eine Basisfinanzierung erhalten könnte, da war uns schon klar, dass für die Stadt-Oberen die schwäbische Maxime gilt: Mer gäbet nix.

Jetzt, wo die Skulptur fertig ist, jetzt, wo 97 Prozent, genau 107.295 Euro der von uns zu stemmenden Summe von 110.000 Euro, beisammen sind, jetzt wo 743 Menschen genau für diesen Zweck spendeten, jetzt wo ein konkreter Platz in Stuttgart – am Stadtpalais – gefunden wurde, wo bereits die Statik geklärt ist und wo der Sockel gegossen werden soll … jetzt tönt es aus Kreisen dieser Stadtverwaltung nicht nur "mr gäbet nix", sondern auch "mr nehmet vielleicht au nix". So im Tenor: "Ha woisch, muess des jetzt au sei?"

Ja, ganz eindeutige Aussage: Das muss so jetzt sein. Am Stadtpalais. Und noch im Oktober. Und ja: 2020.

Schon klar: Unter "Kunst" verstehen die christlich-schwarzen, die sozi-roten und die kretsch-kuhn-grünen Leute hier in der Stadt vor allem "neutrale Kunst". Oder kaum interpretierbare – dann: abstrakte – Kunst. Oder verlogene Kunst, wie diese Installation im Schlossgarten vom letzten Sommer, bei der man angeblich ein Rosenstein-Viertel begehen konnte.

Das darf dann auch heftig etwas kosten. Es darf die Steuerzahlenden viel kosten. Aber doch bitte keine politische Kunst! Dann noch gar zu Stuttgart 21?! Das hieße ja Kunst für politische Zwecke zu instrumentalisieren?

Aber hallo! Beethovens "Fidelio" war durch und durch politisch! Gemünzt als Zustimmung zu den Werten der Französischen Revolution. Pablo Picassos Gemälde "Guernica" ist durch und durch politisch!  Es war ein wichtiges Instrument im Kampf zur Verteidigung der demokratischen Republik.

Und selbstverständlich ist Lenks "Imperia" in Konstanz politisch. Weswegen ja die Konstanzer Gemeinderäte und der Bischof in Freiburg einen wahren Veitstanz aufführten, auf dass die schöne Frau mit den zwei Schrumpel-Männchen, dem Papst und dem Kaiser, in ihren den Händen, wieder aus dem Hafen verschwinden möge. Doch sie steht jetzt seit einem Vierteljahrhundert dort. Und sie wurde zu einer Touristenattraktion und zu einem Wahrzeichen für die Stadt am Bodensee.

Stadt muss politische Kunst aushalten

Vergleichbares gilt für alle Lenk-Arbeiten. Und Vergleichbares könnte das Lenkmal zu Stuttgart 21 hier in der Landeshauptstadt werden. Edzard Reuter hat dies in einem Interview sehr klug auf den Nenner gebracht. Er sagte: "Lenk macht den Menschen, die das Sagen haben, klar: Nehmt Euch bloß nicht allzu ernst. Das ist eine zutiefst demokratische Aufforderung. Und das ist, zusammen mit seinem künstlerischen Potential, das zweifellos erheblich ist, beeindruckend." Und derselbe ehemalige Daimler-Chef, und dasselbe prominente SPD-Mitglied Edzard Reuter sagt dann direkt im Anschluss: "Wenn von oben versucht wird, Kritik und Satire totzuschweigen, dann schadet das der Allgemeinheit."

Wir demonstrieren hier seit mehr als zehn Jahren für den Erhalt der Bahn als öffentliche Daseinsvorsorge. Wir demonstrieren hier für den Stopp von Stuttgart 21 und für die Investition der frei werdenden Mittel in einen Ausbau dieser Bahn als Bürgerbahn. Wir demonstrieren seit fünf Jahren für Umstieg 21, für die kreative Umnutzung der bereits erfolgten S-21-Bauten. Wir werden in Kürze – als Antwort auf die neuen Verzögerungen und neuen Verteuerungen und neuen Verunmöglichungen von Stuttgart 21 – ein neues, ausgeklügeltes Konzept für die Umnutzung von Stuttgart21 im Sinne einer klugen Güterlogistik vorlegen.

Walter Sittler sagte jüngst in der "Stuttgarter Zeitung" mit Blick auf das Lenkmal: "Die eigene Position anhand von anderen Ansichten zu überprüfen und gegebenenfalls zu korrigieren – das ist ein Merkmal von Demokratie. Darum geht es bei diesem Kunstwerk. Darum gehört es nach Stuttgart." In diesem Sinn – und das gilt auch für das Lenkmal oben beim Stadtpalais – sagen wir: oben bleiben!


Zusammen mit Verena Kreilinger und Christian Zeller hat Winfried Wolf Ende August das Buch "Corona, Krise, Kapital – Plädoyer für eine solidarische Alternative in den Zeiten der Pandemie" veröffentlicht. Es ist im PapyRossa-Verlag erschienen, hat 277 Seiten und kostet 17,90 Euro.


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5 Kommentare verfügbar

  • Jupp
    am 11.09.2020
    Antworten
    Sorry, habe nach dem ersten Absatz aufgehört zu lesen.

    Was für ein demokratiefeindliches Geschwurbel.
    Herr Wolf hält das Volk für unmündig und dumm. Dabei war das LGNPCK kaum auf der Proler-Seite.

    Euer Hauptproblem war, dass ihr den Protest vollkommen verschlafen habt. Selbst Kontext wurde…
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