Die zivilgesellschaftliche Bewegung gegen Stuttgart 21, die in diesem Jahr so oft ein "Zehnjähriges" begeht, hat einen unglaublich langen Atem. Und sie hat diesen unter anderem deshalb, weil wir von Tatsachen und Fakten ausgehen. Weil wir dieses Gerede von einer "Magistrale Paris – Bratislava" als Geschwurbel erkannten und entmystifizierten. Weil wir das Gerede von "Demokratie" im Zusammenhang mit der Volksabstimmung zu Stuttgart 21 als hohl erkannten und feststellen, dass diese Volksabstimmung mit erfundenen und verlogenen Zahlen durchgeführt wurde. Und weil wir die Losung vom "technischen Fortschritt" und davon, dass Stuttgart "mit der Zeit gehen" müsse, ablehnen und dabei im guten Sinne des Wortes konservativ sind: conservare ist Lateinisch und meint: "bewahren, erhalten, retten". Denkmalschutz und Kulturgut bewahren, Bestehendes-Bewährtes erhalten, das Klima, die Umwelt und die Bahn als öffentliches Gut retten.
Stattdessen erleben wir, wie die Bahn politisiert wurde und wie mit Stuttgart 21 ein Politikum gemacht wird. Wie mit "alternative facts" – mit fake news, mit Lügen, mit Manipulation – gearbeitet wird. Und wie sich dahinter höchst spezifische Interessen verbergen.
Lasst mich das an den Beispielen Deutsche Bahn und Stuttgart 21 verdeutlichen. 1994 wurde die Deutsche Bahn gegründet. Damals hieß es: Eine staatliche Bundesbahn sei schlecht; diese sei zum Spielball der Politik geworden. Und: Eine derart hochverschuldete Bahn, wie es die Bundesbahn am 31. Dezember 1993 war, kann nicht überleben. Sie ist strukturell unwirtschaftlich. Also wurde die DB als Aktiengesellschaft gegründet, angeblich staatsfern. Also wurden alle Altschulden der Bundesbahn und der Reichsbahn und die Verpflichtungen, resultierend aus der Altersversorgung, von der öffentlichen Hand übernommen. Im Januar 1994 wurde eine Deutsche Bahn Aktiengesellschaft gegründet, die exakt Null D-Mark Schulden hatte.
Bahn-Schulden erfreuen vor allem die Banker
Wie sieht die Bilanz heute, 26 Jahre später, aus? Zunächst einmal ist die DB AG ist ein hochpolitisches Ding. Wenn Frau Merkel nach Peking düst, hat sie den jeweiligen Bahnchef im Kabinengepäck. Es geht ja um die Seidenstraße. Wenn Frau Merkel nach Riad jettet, hat sie ebenfalls den Bahnchef mit dabei. Es geht ja um die 300 Stundenkilometer schnelle Pilgerbahn Mekka-Medina. Und wenn Ende 2020 der Bundesverkehrsminister in Berlin ein "Klimapaket" für die DB bekannt macht, und wenn derselbe Herr Scheuer im Mai eine "Corona-Hilfe" für die Deutsche Bahn AG vorstellt, dann läuft das auf einen Freibrief zur totalen Überschuldung der DB hinaus. Und dies mit dramatischen Folgen.
Diese vor 26 Jahren schuldenfrei gestartete DB ist längst hoch verschuldet. Sie hatte im August dieses Jahres erstmals mehr als 30 Milliarden Euro Schulden. Damit hat die DB in nur 26 Jahren mehr Schulden angesammelt als die Bundesbahn in 44 Jahren. Diese Bundesbahn hatte am letzten Tag ihrer Existenz exakt 58,21 Milliarden DM Schulden, was 29,76 Milliarden Euro entsprach.
Scheuer und die Bundesregierung haben jetzt Hilfe für die DB zugesagt. Aber keine Hilfe für die Schiene als Ganzes. Auch keine Hilfe in Form einer Übernahme von Schulden. Nein! Vielmehr soll die DB im laufenden Jahr rund fünf Milliarden Euro erhalten zur Erhöhung des Eigenkapitals. Und dann zehn Jahre lang pro Jahr eine Milliarde Euro, ebenfalls zur jeweiligen Erhöhung des Eigenkapitals. Insgesamt also 15 Milliarden Euro bis 2030.
Das klingt komplex. Und das ist komplex. Damit wird ein komplizierter und extrem brisanter Vorgang verschleiert. Denn mit dem ständig vergrößertem Eigenkapital wächst der Spielraum, in dem sich die DB verschulden kann. Oder muss es heißen: in dem sie sich immer mehr verschulden soll? Jedenfalls freut das die Berater und die Banken. Das spült denen große Summen in die Kassen. Die DB zahlt allein im laufenden Jahr rund eine Milliarde nur für Zins und Tilgung.
Und es kommt noch schlimmer. Wenn der Bund mit solch riesigen Summen ein einzelnes Schienenunternehmen stärkt, dann ist das nach EU-Recht eine drastische Wettbewerbsverzerrung. Und prompt haben im August 2020 die Interessensverbände der privaten Bahnen, das Netzwerk Europäische Bahnen für die privaten Güterbahnen und der Verband mofair für die privaten Bahnen im Personenverkehr, Klagen bei der EU-Kommission angekündigt. Ich bin absolut kein Freund der privaten Konkurrenzbahnen. Doch wir leben in einer konkreten Schienenwelt. Und wir müssen all dem Rechnung tragen, wenn wir uns nicht ins eigene Fleisch schneiden und das wertvolle Gut einer öffentlichen Bahn nicht massiv beschädigen wollen.
Will hier jemand die Bahn privatisieren?
Und es gibt eine gangbare Alternative. Anstelle des Eigenkapital-Anfütterns der DB zum weiteren Schuldenmachen könnte man die gleiche gewaltige Summe in die Infrastruktur selbst stecken. Beispielsweise für eine flächendeckende Elektrifizierung des Netzes. Das würde dann allen Bahnen und allen Fahrgästen zu Gute kommen. Das böte dann keine Handhabe für den Klageweg. Man kann jetzt nur mutmaßen, warum der Autofan Scheuer diesen Weg geht. Die Privatbahnen jedenfalls haben in ihre Klagedrohung bereits hineingeschrieben, was sie fordern: unter anderem auch eine komplette Öffnung des Fernverkehrs für Privatbahnen. Also private ICE und IC und EC-Züge. Und die Aufspaltung des noch einheitlichen – "integrierten" – Bahnkonzerns. Die "Hilfen", die Scheuer der DB aktuell gewährt, sind da ein Danaer-Geschenk. Damit wird eine neue Offensive zur Privatisierung der Bahn provoziert, wenn nicht bewusst herbeigeführt.
5 Kommentare verfügbar
Jupp
am 11.09.2020Was für ein demokratiefeindliches Geschwurbel.
Herr Wolf hält das Volk für unmündig und dumm. Dabei war das LGNPCK kaum auf der Proler-Seite.
Euer Hauptproblem war, dass ihr den Protest vollkommen verschlafen habt. Selbst Kontext wurde…