Als dann am 27. August 50.000 Menschen auf der Straße sind, den Landtag umzingeln und die Bannmeile stürmen, scheint sich etwas zu tun. Bahnchef Rüdiger Grube und Ministerpräsident Stefan Mappus (CDU) sind für Gespräche, eifrig wird sondiert. Aber ein Baustopp als Zeichen guten Willens? Das geht dann doch zu weit. Das Aktionsbündnis gegen S 21 sagt ab.
Je kleiner die Nordflügelruine wird, umso größer werden die Demos. Am 10. September sind es nach Veranstalterangaben 69.000 Demonstranten, und sie bilden eine Menschenkette zwischen den Parteizentralen der CDU am Rotebühlplatz und der SPD am Wilhelmsplatz. SPD-Landeschef Nils Schmid verspricht vor den Demonstranten, sich für einen Baustopp und einen Volksentscheid einzusetzen. Keine inhaltliche Neujustierung, eher der Versuch, auf miese Umfragewerte zu reagieren und Druck aus dem brodelnden Parteikessel abzulassen – denn an der Basis rumort es schon lange. Als Ziel des Volksentscheids nennt Schmid: "Die Akzeptanz für Stuttgart 21 noch verstärken." Die Umsetzung erscheint wenig aussichtsreich – der "Stern" spricht vom "großen Bluff der SPD".
OB flüchtet, MP nimmt Fehdehandschuh auf
Während der Nordflügel schrumpft, fragen sich viele: Ist nun der Park bald dran? Ein Robin-Wood-Baumhaus wird Anfang September nachts von einem SEK geräumt, bei der Aktion schlägt ein Beamter einer Frau ins Gesicht, die Eskalation bleibt dennoch aus. Ein paar Tage später, am 12. September, wird der Schlosspark zur Konzertkulisse, professionelle Orchestermusiker spielen Antonín Dvoráks Symphonie "Aus der Neuen Welt". Am Ende scheint die Hälfte der Zuschauer Tränen in den Augen zu haben – wegen Dvoráks Harmonien, und wegen der leisen Ahnung, dass dies ein Abschiedskonzert sein könnte.
Tags darauf weist der "Spiegel" in einem langen Artikel ("Rennbahn in Randlage") nach, dass das Projekt schon zu Beginn als unwirtschaftlich galt und der erhoffte Nutzen eine Chimäre sei. Am Abend ziehen nach der Montagsdemo etliche Demonstranten zur Staatsgalerie, in der sich Oberbürgermeister Wolfgang Schuster gerade befindet. Der OB flüchtet unter Polizeischutz durch einen Hinterausgang.
Der letzte Rest des Nordflügels fällt in der Nacht zum 17. September. An diesem Tag tritt Wolfgang Drexler (SPD) als S-21-Projektsprecher zurück – natürlich nicht deshalb, weil der Abriss wenig mit dem von ihm angekündigten "behutsamen Rückbau" zu tun hatte, sondern weil, wie Drexler sagt, er keinen Konflikt mit seiner Partei wolle, die einen Volksentscheid fordere.
In der CDU wird man nervös. Bundeskanzlerin Merkel erklärt am 14. September im Bundestag die kommende Landtagswahl zur "Volksabstimmung über Stuttgart 21". Mappus verkündet am 19. September: "Mir ist der Fehdehandschuh hingeworfen worden, ich nehme ihn auf", ein paar Tage später klagt er gegenüber dem "Focus" über "Berufsdemonstranten".
Im Park übernachten derweil immer mehr Menschen. Nachdem ein erstes Zeltdorf geräumt worden ist, kommen schnell neue Camper. Allmählich wird es kalt im Park und nass – bislang nur durch den Regen. Der Sommer ist vorbei.
9 Kommentare verfügbar
Jue.So Jürgen Sojka
am 08.08.2020Protuberanzen sich noch…