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Montagsdemo, die Erste

Montagsdemo, die Erste
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Die Montagsdemo gegen Stuttgart 21 ist einmalig in der Republik. Woche für Woche findet sie statt. Seit mehr als acht Jahren. Und jetzt steht die 400. Auflage an. Entstanden ist sie aus einem Missverständnis.

Am 26. Oktober 2009, einem Montag um sechs Uhr am Abend, steht Helga Stöhr-Strauch vor dem Stuttgarter Rathaus. Eine schmale Frau mit Stil und Kurzhaarfrisur, den Stecken einer Laterne in der Hand, gelb und rund mit dem Gesicht eines Chinesen vorne drauf. Die Laterne hat sie von ihrer Nachhilfeschülerin Sophie und sie müffelt fürchterlich, weil die Kerze innendrin fleißig den Staub von diversen Jahren auf dem Dachboden verkokelt. "Meine Güte, war mir das peinlich, da rumzustehen mit dieser stinkenden Laterne", erinnert sie sich heute.

2009 ist der Protest gegen Stuttgart 21 noch eine Sache von wenigen, eher unauffällig. Barack Obama tritt damals seine erste Amtszeit an, nicht im Traum war daran zu denken, dass die CDU mal die Chefsessel im Land räumen würde. Es gab Guido Westerwelle noch, Xavier Naidoo hatte noch keinen ganz so großen Knall und da, wo Helga Stöhr-Strauch an diesem Tag steht, ist noch kein Nespresso-Kaffee-Kapsel-Laden sondern Spielwaren Kurtz. "Ich hab' mich direkt ans Schaufenster gestellt und angestrengt reingeschaut, und so getan, als würde ich auf ein Kind warten, dem die Laterne gehört", sagt sie. "Damals dachte ich: 'Was für eine bescheuerte Idee, hier zu stehen'."

Rückblickend war die Idee gar nicht so bescheuert. Sondern einer der beiden Stränge, die dazu führten, dass ein paar Monate später an manchen Montagen zehntausende Menschen gegen Stuttgart 21 demonstrieren. Die Stunde Null sozusagen. Der Protest sollte zu einer der größten und langwierigsten Protestbewegungen in Deutschland wachsen, die Montagsdemo wird international durch die Medien gehen, ihre Devotionalien werden Geschichte schreiben und ihre auf Kleber gebannten Slogans Laternenmasten, Ampeln und Mauern der gesamten Bundesrepublik zieren und sogar weit darüber hinaus. In der kommenden Woche wird die Stuttgarter Montagsdemo gegen das Bahnprojekt offiziell zum 400. Mal stattfinden.

Wenn man Helga Stöhr-Strauch fragt, ob sie sich im Jahr 2009 vorstellen konnte, dass sie dieses Riesending mitbegründet hat, weiß sie nicht so genau, was sie sagen soll. "Die erste Montagsdemo ist eigentlich aus einem Missverständnis entstanden", sagt sie dann.

Sechs Monate zuvor war sie zum ersten Mal in den Stuttgarter Büros des BUND aufgeschlagen. Damals hatten die Stuttgart-21-Projektpartner gerade den Finanzierungsvertrag unterschrieben und das Vorhaben damit offiziell zementiert. Stöhr-Strauch hatte davon in der Zeitung gelesen und sich aufgeregt. "Ich musste irgendwie aktiv werden." Gegen die Geldverschwendung, gegen das Abholzen der Bäume im Stuttgarter Schlossgarten für einen neuen Bahnhof.

In den folgenden Monaten initiierte sie Picknicks im Schlossgarten mit, mit denen die StuttgarterInnen auf den kommenden Frevel aufmerksam gemacht werden sollten. "Das klappte ganz gut", erzählt sie, "aber irgendwann wurde es Herbst und dann stellte sich die Frage, wer überhaupt noch in den Park geht, wenn es kalt wird. Da musste eine Alternative her." An einem Mittwoch, bei einem Treffen der Stuttgarter Naturschützer, schlug sie "so eine Art Montagsdemo" vor, einen Laternenumzug vielleicht, vom Rathaus zum Bahnhof.

Aber die Idee versackte irgendwie bis zum Ende des Treffens. Helga Stöhr-Strauch behielt sie im Kopf und stand am kommenden Montag mit ihrer ollen, gelben Laterne, in der der Staub verkohlte, auf dem Marktplatz und inspizierte angestrengt die Spielzeug-Auslage. 

Um Punkt sechs erschien Barbara Drescher. Woher genau Drescher die Idee hatte, da vor dem Rathaus aufzutauchen, weiß die Landschaftsplanerin mit dem bei Projektgegnern mittlerweile berühmten Hut nicht mehr so genau. "Ich hatte das so mitgekriegt", sagt sie.

Helga Stöhr-Strauch erinnert sich noch genau an das Treffen, sie hat ihre Erlebnisse irgendwann einmal für die möglicherweise interessierte Nachwelt aufgeschrieben: "Barbara kam auf mich zu, ganz in weiß, über und über mit Anti-S-21-Flyern beklebt und Flugblättern in der Hand, und rief ein fröhliches 'Hallo! Wo sind denn die anderen?' Da waren wir schon zu zweit." Auf dem Weg zum Bahnhof verteilte Drescher ihre Flugblätter, Stöhr-Strauch lief nebenher und hinterdrein, unsicher und immer noch beschämt, durch die Kirchstraße, über den Schillerplatz.

"Plötzlich kam uns ein Radfahrer entgegen und rief: 'Da sind noch andere, die stehen am Bahnhof!'" Am Schlossplatz trafen die zwei Frauen auf die Montagsdemo gegen Hartz IV, die sich seit Jahren zwar teilnehmerschwach, aber tapfer dort traf. Damals war Stuttgart noch nicht die "Demo-Hauptstadt" der Republik, und Stuttgarts Bürger noch nicht als kratzbürstig, sondern eher als altpietistisch und CDU-angepasst bekannt. Eine Laternenträgerin und eine zettelbeklebte ältere Dame waren da schon eine Nummer.

Auf der unteren Königsstraße kamen die beiden an ein paar Jugendlichen vorbei. Die spotteten und lachten sich scheckig über den leuchtenden Chinesen-Kopf. Das war zu viel für die erste Demo eines Lebens und Stöhr-Strauch drehte, an der Rolltreppe zur Unterführung kurz vor dem Bahnhof, ab nach Hause.

Barbara Drescher sagt heute, sie beide seien ja nicht die "richtige Montagsdemo" gewesen, "nur der Laternen-Umzug!" Die eigentliche sei mit drei Mann am Nordausgang des Hauptbahnhofs gestanden.

Ulrich Stübler war einer davon, die Namen der anderen beiden Personen sind im Nebel der Erinnerung versunken. "Ich hab damals versäumt, ein Foto von uns zu machen", sagt Stübler, ein ruhiger Mann, Grafikdesigner im Naturkundemuseum, der damals gedanklich nicht das Rathaus, sondern den Nordausgang des Bahnhofs als Treff für den kleinen Protestaufmarsch gespeichert hatte. Mit dabei war auch sein selbst gemachtes gelbes Ortsschild, das später zu dem Symbol der Bahnhofsgegner werden sollte.

Stübler sollte in der Zukunft der Hausgrafiker der Stuttgarter Widerstandsbewegung werden. Er erfand das "Umstieg 21"-Logo, den berühmten Button mit dem noch berühmteren Slogan "Oben bleiben", und er lacht auf die Frage, wie er auf diese beiden Worte kam, die in den kommenden Jahren eine steile Karriere hinlegen sollten. Als immerwährender Demogruß, als Gruß unter E-Mails – "viele Grüße und immer oben bleiben!" – sogar auf Unterhosen gedruckt, für die subversive Bahnhofsgegnerschaft zum Druntertragen. Ganz genau weiß er es nicht mehr, und er legt viel Wert auf das "möglicherweise" seiner Erinnerung. Möglicherweise also entstand "oben bleiben" aus einer heißen, politischen Diskussion mit seinem Vater. "Und irgendwann hat mein Vater gerufen: 'Die solled doch obableiba!'" Möglicherweise – war es so. Ganz sicher weiß er, dass er es damals wie heute besser gefunden hätte, die Montagsdemos nicht beim Ordnungsamt anzumelden. Eben gegen das Establishment zu agieren und nicht nach dessen Regeln zu spielen.

Gangolf Stocker, der spätere Grande des Protests und schon damals fest verwurzelt in der aktiven Stuttgarter Stadtgesellschaft, fand eine angemeldete Demo besser. Er weiß sogar noch, wie Helga Stöhr-Strauch per Mailverteiler zum Laterne-Laufen aufgerufen hatte. Zur zweiten richtigen Montagsdemo ist er selbst gekommen. "Ich wollte wissen, was da für Leute sind", erzählt Stocker. "Was machen die da?"

Aus der einen Handvoll vom 26. Oktober 2009 waren in der Woche darauf schon rund 50 Menschen geworden, die am Nordausgang des Bahnhofs standen. Mit seinem Verein "Leben in Stuttgart" war Stocker Mitglied des Aktionsbündnisses gegen Stuttgart 21 "und beim nächsten Treffen hab ich gesagt: Das werden immer mehr Leute. Wir machen das jetzt." Also hat Stocker, so sagen es seine Weggefährten, "den Kopf hingehalten" und die Demo angemeldet. Die erste Bühne auf Montagsdemo Nummer drei waren drei Holzbretter zwischen zwei Blumenkübeln für Ton und Technik.

Zur dritten Montagsdemo kam auch Timo Kabel. Davon erfahren hat er über Aufrufe in den Kommentarspalten der beiden Stuttgarter Blätter. "Man sollte sich mal am Bahnhof treffen", habe da gestanden, oder "Ich komme auch am Montag und 18 Uhr, wer kommt noch?" Irgendwie hatte auch Rainer Benz, Chef einer Werbeagentur, vom Montags-Treff am Hauptbahnhof gehört. Später organisierte er mit der damaligen BUND-Chefin Brigitte Dahlbender selbst eine Menge Demonstrationen – und erfand das Logo für den Kopfbahnhof, den Gegenentwurf der Stuttgart-21-Gegner zum geplanten Tiefbahnhof – "K 21". "In Lindgrün", erinnert er sich, "irgendwie muss das die Farbe der Zeit gewesen sein". Denn plötzlich erschien ihm vieles in Stuttgart im K-21-lindgrün gehalten. "Aber das", sagt er in aller Bescheidenheit, "kann natürlich auch Einbildung gewesen sein."

Zur vierten Demo hatte Klaus Gebhard die Parkschützer-Webseite erfunden und ins Netz gestellt. Zur fünften wurden erste Künstler für Auftritte angefragt. Zur sechsten las Schriftsteller Wolfgang Schorlau, zur siebten kamen schon mehrere tausend Menschen. Die Montagsdemo wurde in den kommenden Jahren zum Kulturevent mit Geigerinnen, Chören und Schauspiel. Sie wurde Treffpunkt, Ritual, Musik und Theaterbühne, bunt und laut und Stachel im Fleisch aller beteiligten Obrigkeiten.

Helga Stöhr-Strauch moderierte auf der Demo-Bühne, Timo Kabel wurde als "Fahnenschwenker" bekannt, Barbara Drescher perfektionierte ihren Hut mit den Aufklebern und Buttons zum Markenzeichen, Gangolf Stocker wurde einer der großen Geister der Widerstandsbewegung und Ulrich Stübler trug zu jeder Demonstration sein gelbes Ortsschild mit sich.

Seitdem ist viel passiert. Viele der regelmäßigen Montagsdemonstranten haben ihrer Demo den Rücken gekehrt. Sehr viele aus Zeitmangel, weil sie berufstätig sind, manche, weil es, wie in jeder größeren Bürgerbewegung Streitereien gab, andere aus Selbstschutz, denn politischer Dauereinsatz kann schnell das eigene Leben aufzehren. Helga Stöhr-Strauch besucht die Montagsdemonstrationen schon eine ganze Weile nicht mehr. Auch Gangolf Stocker hatte sich nach vielen aktiven Jahren abgewandt.

Timo Kabel, Ulrich Stübler und Barbara Drescher sind noch immer dabei. Fast jeden Montag. Auch wenn aus den zehntausenden Demonstranten mit der Zeit ein paar hundert geworden sind. Barbara Drescher lacht, viele Junge seien gegangen und hätten sich anderen Themen zugewandt. "Aber wir sind die zähen Alten, die sich ihre Stadt nicht nehmen lassen." Stuttgart 21, das sei wie ein "heißer Krimi". Irgendwas wird noch passieren, da sei sie zuversichtlich, sagt sie. "Dieser Bahnhof wird nicht gebaut."


Die
<link https: www.bei-abriss-aufstand.de die-400-montagsdemo-15-1-2018-ab-18-uhr-vor-dem-stuttgarter-hbf _blank external-link>400. Montagsdemo steigt am 15.1.2018 ab 18 Uhr vor dem Stuttgarter Hauptbahnhof. Zu Gast werden sein: die Kabarettistin Christine Prayon, Regisseur Volker Lösch, Wortkünstler Timo Brunke und Verkehrsexperte Winfried Wolf.


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8 Kommentare verfügbar

  • Kornelia E.
    am 16.01.2018
    Antworten
    Geschichte wird vom Sieger diktiert (vom Verlierer meistens ignoriert! -schlimm!)
    Wenn aber der "Unterlegene" die Geschichte der Sieger erzählen, dann ist der "Sieg" endgültig!
    Die 400 ist und war nicht der Anfang! Sie steht für mittendrin!
    Zig Jahrzehnte wo Menschen für 'mehr Verkehr von der…
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