Stuttgart – die Hauptstadt des Protests. So hieß es landauf, landab, weil aus dem Widerstand gegen das Bahnprojekt Stuttgart 21 eine Massenbewegung wurde. Zehntausende zogen einst durch die Straßen und wollten "oben bleiben". Architektinnen, Juristen, Landschaftsgärtnerinnen, Geologen, Ingenieure, Pfarrerinnen, viele kluge Leute. Es gibt hunderte StuttgarterInnen, die mittlerweile so viel Ahnung von der Materie haben, dass sie mit einiger Wahrscheinlichkeit einen besseren Bahnknoten bauen könnten, als es die Bahn versucht. Die Montagsdemo ist bei alledem immer ein Mittelpunkt gewesen. In der kommenden Woche steigt die 400. Zum Jubiläum haben wir den Schwerpunkt dieser Ausgabe auf Stuttgart 21 gelegt.
Seit Jahren prophezeien die S-21-Gegner eine Reihe von Problemen. Vom Anhydrit im Stuttgarter Untergrund über die Kostensteigerungen bis zur Anbindung des Flughafens. Und immer wurden sie flankiert von Alternativen. Aber kaum ein Alternativvorschlag hat im Laufe der Jahre Eingang gefunden in die Planungen des Projekts. Und jetzt, wo in Baden-Württemberg viele angefangene Löcher klaffen, wo die Stuttgarter Mitte ausgehoben worden ist, treffen nach und nach alle Prophezeiungen ein.
"Mit ihrer aktuellen Ankündigung, im Fernverkehr täglich nur drei Zugpaare am künftigen Filderbahnhof halten zu lassen, bringt die Deutsche Bahn sogar glühendste Stuttgart-21-Fans gegen sich auf", <link https: www.kontextwochenzeitung.de politik s21-flughafenanschluss-futsch-4843.html _blank external-link>schreibt unsere Autorin Johanna Henkel-Waidhofer. Und tatsächlich titelten selbst die eher als tiefbahnhoffreundlich bekannten "Stuttgarter Nachrichten" gestern mit "Die Bahn bricht ihr Wort". Und das nicht zum ersten Mal, sondern schon nahezu gewohnheitsmäßig.
Stuttgart 21 hat nicht nur planerische Schwächen, S 21 ist auch ein Lehrstück dafür, wie eine Behörde mit Kritikern umgeht. Akten und Unterlagen werden nur geschwärzt zugänglich gemacht oder müssen langwierig eingeklagt werden, Gutachten werden geschönt oder vorenthalten, Gesetze übertreten, Zusagen nicht eingehalten, Informationen vorenthalten. Winfried Wolf hat einiges davon für Kontext <link https: www.kontextwochenzeitung.de politik s21-angst-der-bahn-aufsichtsraete-4839.html _blank external-link>noch einmal zusammengefasst.
Der Tiefbahnhofsgegner und Schauspieler Walter Sittler sagte vor kurzem <link https: www.kontextwochenzeitung.de politik obergrenze-fuer-einkommen-4743.html _blank external-link>in einem Kontext-Interview: "Niemand würde das Gesicht verlieren, wenn man vernünftig sagen würde: Leute, wir zahlen den Architekten aus, und wir bauen etwas, das zukunftsfähig ist." Und tatsächlich fragt sich der normal begabte Mensch, warum keiner die Reißleine zieht? Stattdessen zieht das Staatsunternehmen Bahn wegen der Übernahme von Mehrkosten gegen die Stadt Stuttgart und das Land Baden-Württemberg vor Gericht. Denn die beharren auf dem vereinbarten Kostendeckel. Oliver Stenzel <link https: www.kontextwochenzeitung.de politik s-21-der-geist-von-oettinger-und-schuster-4841.html _blank external-link>hat den Stuttgarter Rechtsanwalt Roland Kugler gefragt, was er davon hält.
Die <link https: www.bei-abriss-aufstand.de die-400-montagsdemo-15-1-2018-ab-18-uhr-vor-dem-stuttgarter-hbf _blank external-link>400. Montagsdemo wird am kommenden Montag, um 18 Uhr, vor dem Hauptbahnhof stattfinden. Ulrich Stübler wird auch da sein. Er stand schon sehr oft vor dem Bahnhof und hat demonstriert, das erste Mal am 26. Oktober 2009, bei der allerersten Montagsdemo gegen Stuttgart 21. Anna Hunger hat recherchiert, wie es dazu kam.
Die Zeitungen feiern sich – Kontext dankt seinen SpenderInnen
Ja, es stimmt. Selbst die "Stuttgarter Nachrichten" sind sauer. Das wird doch nicht mit der neuen Imagekampagne der Zeitungsverleger zusammen hängen. In ihren Blättern versprechen sie ganzseitig: "Jedes Wort wert". Hier stünden die "wahren Informationen", was im Zeitalter der Fake News der Populisten von entscheidender Bedeutung sei. Und damit nicht genug. Ihre Kundschaft könne weiter Qualität, Recherche, Unabhängigkeit und somit ein unbestechliches Urteil erwarten. Sagen Leute wie der Reutlinger Zeitungspräsident Valdo Lehari jr., dessen Generalanzeiger sehr dünner Natur ist.
Nun kann es geschehen, dass bei uns freie AutorInnen anrufen und erzählen, dass Ihnen gerade ein Termin für 49 Euro fuffzig angeboten wurde. Hundert Kilometer hin und hundert zurück und achtzig Zeilen Text. Das Honorar könne auch noch durch ein Foto, sagen wir für 20 Euro, aufgebessert werden. Es sei ziemlich bitter, sagen die KollegInnen, wenn sie die Verlegerprosa sähen: "Hält Wort" – "Macht schlau" – "Gibt Durchblick" – "Schafft Relevanz".
In Kontext ist dieser Widerspruch zwischen Anspruch und Wirklichkeit, das taktische Verhältnis der Zeitungsherren zur Wahrheit, oft beschrieben worden. Gerne auch im Zusammenhang mit Stuttgart 21. Diese Freiheit nehmen wir uns. Das tun wir, weil wir es können – und müssen. Für unsere Leserinnen und Leser, die sich das Gehirn nicht vernebeln lassen wollen.
Wir haben den Eindruck, dass sie das zu schätzen wissen. Dieses Bemühen, die Dinge so zu beschreiben, wie sie sind. Ohne Rücksicht auf Verlegerdarsteller, Anzeigenkunden und den vermeintlichen common sense, der nichts anderes ist als die herrschende Meinung. Auch diesmal haben Sie, liebe Leserinnen und Leser, diese Arbeit honoriert. Ihre Spenden an Kontext waren wieder so zahlreich, dass wir guten Mutes ins Jahr 2018 schauen können. Dafür wieder einmal herzlichen Dank.
8 Kommentare verfügbar
Andromeda Müller
am 12.01.2018ich zitiere Sie ." Am besten man engagiert sich in der Entscheidungsphase. Und nicht wenn die Bagger kommen. Das führt nur zu Frust."
Ich finde eine pervertierende Aussage. Wissen Sie nicht , daß es eine "Schlichtung" gab ?
Wissen Sie nicht , daß in dieser Schlichtung…