Ein Sonnenstrahl brennt durch das Fenster seines Wohnzimmer im Stuttgarter Stadtteil Gaisburg. Direkt auf eine halb leere Packung Snickers-Schokoriegel. Daneben zwei kleine Bananen. Der Rest des Esstischs ist mit Arzneipackungen, Beipackzetteln und Büchern bedeckt. An der Wand hängt ein riesiges Gemälde einer blonden Frau in Jeans und grünem Rollkragenpulli. Sie sitzt in einem Sessel und schaut runter ins Wohnzimmer. Gegenüber grinst Stocker mit einer Löwenzahnblüte im Mundwinkel aus einem eingerahmten Foto. Eine bildhübsche junge Frau lehnt vertraut ihren Kopf an seine Schulter.
Inmitten der Unbekannten in Jeans und seiner Tochter sitzt Stocker am Tisch und nestelt an der Snickers-Packung. Dass die Schokoriegel mittlerweile Pudding sind, ist ihm recht. Seit einer Weile kann er keine feste Nahrung mehr schlucken. Die Speiseröhre ist kaputt. Dazu kommen Asthma und ein Hautausschlag, und eine üble Osteoporose lässt die Wirbel seines Rückgrats implodieren. Zwölf Zentimeter kleiner ist er geworden. Ohne starke Schmerzmittel geht gar nichts mehr. "Sie können sich vorstellen, wie's mir geht", sagt der Schwerkranke mit dem weißen Strubbelhaar – "beschissen".
Stocker wohnt alleine im ersten Stock eines Altbaus. Einst bezog in derselben Straße die NS-Ortsgruppe ihr Revier. Ironie des Schicksals. Denn die Verbrechen der Nazis waren es, die Stocker als jungen Mann zu einem politischen Menschen gemacht haben. Zu einem Kriegsdienst-Totalverweigerer. Zu einem, der Kunstmaler statt Vermessungstechniker sein wollte. Zu einem, der Mitte der 1960er vor der Fahne nach Frankreich floh und sich anderen Kriegsdienstverweigerern anschloss. Zu einem, der keinen Bock hatte, sich vom Staat was sagen zu lassen. Zu einem Aktivisten, der sich mit Leib und roter Seele dem Widerstand gegen die Obrigkeit verschwor. Sein Opus magnum schuf er mit dem Bürgerbegehren gegen Stuttgart 21. Abertausende Menschen folgten dem Vater des Protests auf die Straße. Behörden und Justiz drangsalierten ihn dafür bis an die Schmerzgrenze und darüber hinaus. Wenn man Stockers Vita rekonstruiert, fragt man sich, wie das alles in nur einem Leben möglich war? Und warum man sich den ganzen Wahnsinn antut?
11 Kommentare verfügbar
Gerd Rodriguez
am 03.08.2022Ihr Artikel ist sehr schön und freundlich. Tatsächlich war er für viele ein Vorbild und eine Leitfigur, aber leider auch oft eine fürchterliche Nervensäge.