KONTEXT:Wochenzeitung
KONTEXT:Wochenzeitung

Brennen für ein besseres Leben

Brennen für ein besseres Leben
|

Datum:

Theaterregisseur Volker Lösch ist bekannt für seine flammenden Reden gegen Stuttgart 21. Nun lässt er für das Vorwort von Winfried Wolfs neuem S-21-Buch "Abgrundtief und bodenlos" die Geschichte des Protests gegen das Großprojekt noch einmal Revue passieren.

Am 18. April 1994, kurz nachdem die Deutsche Bahn AG gegründet wurde, wird das Unglücksprojekt Stuttgart 21 erstmalig der Öffentlichkeit vorgestellt. Es ist eine Zeit, in der sich städtische Politik rasant wandelt. Statt Kommunen ihre lokale Organisation des Wohlfahrtsstaates weiter betreiben zu lassen, wird ihnen durch Steuerreformen, das Aufladen neuer sozialpolitischer Aufgaben und Spardiktate plötzlich der finanzielle Spielraum genommen. Die somit erzeugte kommunale Finanzkrise kann in der Folge nur durch die Praxis der unternehmerisch tätigen Stadt kompensiert werden.

Das ökonomische Denken hält Einzug in die Stadtregierungen, und relativ widerspruchslos wird hingenommen, dass Städte nun so etwas wie Wettbewerbseinheiten sein sollen, die mit anderen konkurrieren müssen. Überleben kann nur die Stadt, die ihre Politikbereiche nicht den sozialen Anforderungen, sondern der Steigerung und Verbesserung ihrer Wettbewerbsfähigkeit zuordnet. Die Übertragung von Marktmechanismen auf die Lenkung kommunaler Prozesse lässt die Städte nun wie Konzerne agieren. Ab sofort hat sich Stadtpolitik neoliberaler Rationalität, Globalisierungs- und Wettbewerbsanforderungen zu fügen, und verfolgt nicht mehr die vordringliche Aufgabe, auf Anforderungen, Nöte und Wünsche der Bürgerinnen und Bürger einzugehen.

Stuttgart 21 bietet perfekte Voraussetzungen für diese Zeit: ein Bau- und Immobilienprojekt, dem es nie um die Verbesserung des Bahnverkehrs, die Steigerung der Leistungsfähigkeit des Bahnhofs oder die Optimierung der Lebensumstände der Menschen in Stuttgart gegangen ist. Es dient dem persönlichen Gewinn von wenigen auf Kosten von vielen, hält her für eine angebliche Wirtschaftssteigerung und begünstigt einseitig Konzerne und die Autolobby.

Lange fällt das fast niemandem auf. Wir befinden uns in der Mitte der Neunziger. Ganz Deutschland ist vom Neoliberalismus besetzt ... ganz Deutschland? Nein! Eine von unbeugsamen Schwaben bevölkerte Stadt hört nicht auf, dem Eindringling Widerstand zu leisten!

Die Geschichte der vier Aufrechten, die die erste Montagsdemonstration bestritten haben, ist legendär. Was daraus erwächst, kann man nun, mehr als 375 Montagsdemos später, präzise und ausführlich beschreiben. Richtig nachvollziehen kann man es wahrscheinlich nur, wenn man die intensivste Zeit, die Jahre 2010 und 2011, persönlich miterlebt hat.

Eine unglaubliche Mobilisierungsenergie in der Stadt

Überall in der Stadt brodelt es. Der kollektive Unmut ist mit Händen zu greifen. Als pure Machtdemonstration, also völlig überflüssig, soll der Nordflügel des Bonatzbaus abgerissen werden. Ich breche eine Reise in den Norden ab und sehe gerade noch, wie die Abrissbagger ihr Zerstörungswerk verrichten. Die ohnmächtige Wut der Umstehenden erlangt ihren Höhepunkt nach den brutalen Polizeiübergriffen im Park, als noch mitten in der Nacht die ersten Bäume gefällt werden. Wie viele andere bleibe ich trotz von Wasserwerfern durchnässter Kleidung vor Ort. Und womit wenige gerechnet haben: Der Widerstand wird nun erst recht entfacht. Ich stehe bei der Demo nach dem Schwarzen Donnerstag vor mehr als 100 000 Menschen auf der Rednertribüne. Eine unglaubliche Solidarität und Mobilisierungsenergie erfasst große Teile der Stadt und ihre Menschen. Alle wirken plötzlich wacher, kommunikativer, streitlustiger und engagierter als sonst - man begegnet sich im Alltag aufgeschlossener und anders. Wir erfinden den "Schwabenstreich", ein Lärmritual, welches viele Monate lang jeden Abend den Stuttgarter Kessel zum Vibrieren bringt. Die sonst etwas schläfrige Metropole pulsiert, sie atmet neu und stemmt sich mit aller Kraft gegen den übermächtigen Feind: Massendemos, Bürgerchöre, Feste, Mahnwachen, Zeitungsgründungen, Blockaden, Theater- und Musikveranstaltungen, Diskussionen und Allianzen über alle Parteigrenzen hinweg lassen die Stadt über sich hinauswachsen. Stuttgart brennt - für das Recht auf Stadt und ein besseres Leben für alle!

Aber warum ist dieser Protest so intensiv, so konsequent, so konstant in seiner Vehemenz? Zunächst einmal, weil sich außergewöhnlich viele mit den zerstörerischen Inhalten des Neoliberalismus, mit den Lügen der Projektbetreiber, mit den falschen Versprechungen der Politikerinnen und Politiker auch theoretisch befassen. Manche Demo wirkt wie ein Proseminar, Tausende hören auch bei kompliziertesten Sachverhalten aufmerksam zu. Es entsteht so etwas wie ein kollektiver Sachverstand, der weit spezialisierter und differenzierter ist, als der der meisten Projektbefürworter. Und dann sind da noch die sprichwörtliche schwäbische Sturheit und der unbedingte Glaube an den Erfolg. Nichts spricht dagegen, dass ein offensichtlich destruktives, sinnloses und korruptes Projekt von der Mehrheit der Bevölkerung gekippt werden kann.

Die frustrierende Zeit neoliberaler Stadtzerstörung der Neunziger scheint in Stuttgart ihr Ende zu finden: Zu viele stehen persönlich dafür ein, ihre Stadt dem Ausverkauf nicht preisgeben zu wollen. Stuttgart hat sich radikal politisiert, und erlebt im Frühjahr 2011 einen historischen Machtwechsel in der Landesregierung. Die Zeit scheint endgültig eine andere zu sein.

Die Hartnäckigkeit hat sich gelohnt

Aber dann werden von uns zu viele Fehler auf einmal gemacht. Schlichtung, Stresstest, Volksabstimmung: Den Machteliten gelingt es, die noch unerfahrene Bewegung zu täuschen, zu verunsichern und zu spalten. Mit tatkräftiger Unterstützung aus Berlin und dem nicht erwarteten politischen Opportunismus der Grünen in der neuen Landesregierung wird der Bewegung fast der Boden entzogen. Viele wenden sich frustriert ab - und überlassen einem harten Kern das Dranbleiben und Weitermachen.

Heute, 2017, muss man konstatieren: Die Hartnäckigkeit hat sich gelohnt. Es häufen sich wieder die Anzeichen, dass Stuttgart 21 höchstens als Bauruine in die Geschichte eingehen wird. Und das wäre nicht nur dem Baugrund mit Anhydrit oder neuen Kostensteigerungen zu verdanken: Hauptsächlich sind es die engagierten Menschen des Widerstands, an deren versammelter Kompetenz, faszinierender Unterschiedlichkeit, radikaler Beseeltheit - an deren vielfältigen Aktionen und Interventionen man nicht vorbeikommt. Ich bin mir hundertprozentig sicher - und war es von Anfang an - dass wir diesen Irrsinn beenden werden, ob in diesem Jahr oder später: Wir sind zu viele, unsere Argumente sind zu stark, und wir werden den längeren Atem haben.

Der Widerstand gegen S 21 ist in seiner Dimension und Bedeutung in der Geschichte der Bundesrepublik einmalig. Er wird brennen, bis er sein Ziel erreicht hat. Und darüber hinaus: Das Ende von Stuttgart 21 wird der Anfang eines besseren Lebens sein. Für alle.

Und dann für immer: oben bleiben!

 

Volker Löschs Text stammt aus dem Buch "abgrundtief + bodenlos" von Winfried Wolf, das <link http: shop.papyrossa.de wolf-winfried-abgrundtief-bodenlos external-link-new-window>im Papyrossa-Verlag erscheint. Am Montag, 24. Juli, wird Wolf sein neues Buch um 20 Uhr im Stuttgarter Rathaus vorstellen. Weitere Buchvorstellungen am 25.7. in Bietigheim-Bissingen, am 26.7. in Stetten und am 27.7. in Kirchheim-Teck.


Gefällt Ihnen dieser Artikel?
Unterstützen Sie KONTEXT!
KONTEXT unterstützen!

Verbreiten Sie unseren Artikel
Artikel drucken


6 Kommentare verfügbar

  • Markus Koch
    am 11.08.2017
    Antworten
    Echte Aufarbeitung stände uns gut!

    Obwohl auch ich als langjähriger "aktiver Parkschützer" und dann auch als "aktive Kaktee in der IHK" (selbst ja aus dem K21-Dafürstand entstanden) mit der geschichtlichen Revue durch Herrn Lösch einverstanden bin, teile ich den kleinen Teil der Selbstreflektion…
Kommentare anzeigen  

Neuen Kommentar schreiben

KONTEXT per E-Mail

Durch diese Anmeldung erhalten Sie regelmäßig immer Mittwoch morgens unsere neueste Ausgabe unkompliziert per E-Mail.

Letzte Kommentare:






Die KONTEXT:Wochenzeitung lebt vor allem von den kleinen und großen Spenden ihrer Leserinnen und Leser.
Unterstützen Sie KONTEXT jetzt!