Stuttgart 21 bietet perfekte Voraussetzungen für diese Zeit: ein Bau- und Immobilienprojekt, dem es nie um die Verbesserung des Bahnverkehrs, die Steigerung der Leistungsfähigkeit des Bahnhofs oder die Optimierung der Lebensumstände der Menschen in Stuttgart gegangen ist. Es dient dem persönlichen Gewinn von wenigen auf Kosten von vielen, hält her für eine angebliche Wirtschaftssteigerung und begünstigt einseitig Konzerne und die Autolobby.
Lange fällt das fast niemandem auf. Wir befinden uns in der Mitte der Neunziger. Ganz Deutschland ist vom Neoliberalismus besetzt ... ganz Deutschland? Nein! Eine von unbeugsamen Schwaben bevölkerte Stadt hört nicht auf, dem Eindringling Widerstand zu leisten!
Die Geschichte der vier Aufrechten, die die erste Montagsdemonstration bestritten haben, ist legendär. Was daraus erwächst, kann man nun, mehr als 375 Montagsdemos später, präzise und ausführlich beschreiben. Richtig nachvollziehen kann man es wahrscheinlich nur, wenn man die intensivste Zeit, die Jahre 2010 und 2011, persönlich miterlebt hat.
Eine unglaubliche Mobilisierungsenergie in der Stadt
Überall in der Stadt brodelt es. Der kollektive Unmut ist mit Händen zu greifen. Als pure Machtdemonstration, also völlig überflüssig, soll der Nordflügel des Bonatzbaus abgerissen werden. Ich breche eine Reise in den Norden ab und sehe gerade noch, wie die Abrissbagger ihr Zerstörungswerk verrichten. Die ohnmächtige Wut der Umstehenden erlangt ihren Höhepunkt nach den brutalen Polizeiübergriffen im Park, als noch mitten in der Nacht die ersten Bäume gefällt werden. Wie viele andere bleibe ich trotz von Wasserwerfern durchnässter Kleidung vor Ort. Und womit wenige gerechnet haben: Der Widerstand wird nun erst recht entfacht. Ich stehe bei der Demo nach dem Schwarzen Donnerstag vor mehr als 100 000 Menschen auf der Rednertribüne. Eine unglaubliche Solidarität und Mobilisierungsenergie erfasst große Teile der Stadt und ihre Menschen. Alle wirken plötzlich wacher, kommunikativer, streitlustiger und engagierter als sonst - man begegnet sich im Alltag aufgeschlossener und anders. Wir erfinden den "Schwabenstreich", ein Lärmritual, welches viele Monate lang jeden Abend den Stuttgarter Kessel zum Vibrieren bringt. Die sonst etwas schläfrige Metropole pulsiert, sie atmet neu und stemmt sich mit aller Kraft gegen den übermächtigen Feind: Massendemos, Bürgerchöre, Feste, Mahnwachen, Zeitungsgründungen, Blockaden, Theater- und Musikveranstaltungen, Diskussionen und Allianzen über alle Parteigrenzen hinweg lassen die Stadt über sich hinauswachsen. Stuttgart brennt - für das Recht auf Stadt und ein besseres Leben für alle!
6 Kommentare verfügbar
Markus Koch
am 11.08.2017Obwohl auch ich als langjähriger "aktiver Parkschützer" und dann auch als "aktive Kaktee in der IHK" (selbst ja aus dem K21-Dafürstand entstanden) mit der geschichtlichen Revue durch Herrn Lösch einverstanden bin, teile ich den kleinen Teil der Selbstreflektion…