Es war einmal alles anders, besser sowieso und Friedrich Wilhelm Karl von Württemberg gerade ein Jahr König, als er am 9. Januar 1807 den Bau der "Oberen Königlichen Anlagen" dekretierte. Hofbaumeister Thouret hatte einen Entwurf erarbeitet, jetzt sollte er ihn umsetzen: Wiesen als Rondelle, eindrucksvolle Kastanienalleen, verwunschene Ecken zum Verweilen, Promenaden und Bänke, ein See oder eine Voliere. Dem König ging's nicht schnell genug, weswegen er die Beschäftigung von Gefangenen als Zwangsarbeiter anordnete. Schon im Oktober 1808 wurde bekanntgemacht, "daß S. Maj. der König dem Publikum die Befugnis gnädigst eingeräumt haben, die Anlagen hinter dem K. Schloss zu Promenaden sowohl zu Fuß als im Wagen und zu Pferd zu benutzen". Und zugleich befahl Friedrich: "Überall muß Ordnung herrschen."
Zwar herrschte Ordnung, dank Militärwache und Parkwächtern. Aber um den ordentlichen Garten herum veränderte sich Stuttgart zunächst langsam, dann schneller und später rasant. Deshalb ist die Geschichte der Anlagen auch die Geschichte ihrer immer neuen Verkleinerung. Mal musste eine Straße aus- und mal eine neu gebaut werden. Schon im 19. Jahrhundert beklagten Besucher den Verkehrslärm. Ab 1908 tat der Bau des von der heutigen Bolzstraße an seinen jetzigen Ort verlegten Hauptbahnhofs ein Übriges. "Ihren vorläufigen Abschluss und Höhepunkt fand diese Entwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg mit der Umgestaltung der beiden Gartenteile im Jahre 1961", heißt es in einem historischen Abriss. Der Wiederaufbau wurde "vielfach zu Gunsten des Straßenbaus (aus)genutzt, viele zerstörte Gebäude wurden nun vollständig abgerissen, um für die Straßenverbreiterungen Platz zu schaffen".
Die Stuttgarter und Stuttgarterinnen liebten ihren Schlossgarten, wie er inzwischen hieß, als Erholungspark. Da eine Bocciabahn, dort ein Freiluftschach, Skattische, die berühmte Milchbar, welche später in einen Biergarten verwandelt wurde, Wiesen, mal lange und mal kürzere Schatten, bei Regen ein Geheimtipp. Das Motto: Natur in der Stadt, grünes Leben und grüne Lunge, lange vor Gründung der Grünen. Kühne Vergleiche mit dem New Yorker Central Park wurden gezogen. Der Verkehrslärm wurde auch in Stuttgart immer lauter, aber die Illusion der unendlichen Oase – wie sie den Planern der Bundesgartenschau 1961 vorschwebte – noch immer aufrechterhalten. Selbst im Sommer 2010, als der Nordflügel fiel und der Bauzaun den anschwellenden Widerstand gegen Stuttgart 21 in seiner Vielfalt und Kreativität dokumentierte (eineinhalb Jahre später wanderte er als Sonderausstellung ins Haus der Geschichte).
Trotz Demos und Baumbesetzungen, trotz Protestcamp und wilder Zeltlager war immer noch Raum für Besinnlichkeit geblieben, für klassische Konzerte – wider den Tiefbahnhof, versteht sich – für Ausflüge auf Inlinern mit Kind und Kegel, für jene Muße, die nach Thouret empfinden sollte, wer durch seine Anlagen lustwandelte. Dann wurde der Zauber für immer zerstört und der Stadt eine klaffende Wunde geschlagen, an der sie Jahre und Jahrzehnte leiden muss. Kurz nach Mitternacht fielen am 1. Oktober 2010 die ersten von 238 Bäumen im Schlossgarten. Der erbitterte Widerstand konnte nichts ausrichten gegen Polizeigewalt und Wasserwerfer. Im Sommer 1893 hatte König Wilhelm erlaubt, dass Motorwagen in der Geschwindigkeit eines mittelschnellen Pferdetrabs durch die Anlagen fahren durften. Die Bürgerschaft protestierte – aus Angst, ihr Garten würde daran für immer leiden. Was Pferdekutschen, Autos und zwei Weltkriege nicht schafften, erledigten vor sechs Jahren andere. So konsequent, dass nicht wenige seither den Talkessel an dieser Stelle meiden, weil ihnen der Anblick schwer zu schaffen macht. So sollte der sicher nie seyn.
<link http: www.gegenlicht21.de external-link-new-window>Gegenlicht 21 war ein Netzwerk Stuttgarter Fotografinnen und Fotografen, die sich mit ihren Bildern gegen Stuttgart 21 engagieren.
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Peter Müller
am 03.10.2016