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Fluchtwege durch Esslingen

Fluchtwege durch Esslingen
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 Fotos: Joachim E. Röttgers 

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Datum:

In einem Forschungsspaziergang durch Esslingen führt die Künstlerin Ülkü Süngün an Orte, die für Flüchtlinge wichtig sind. Sie hat unglaublich viel bewegt, seit sie noch im Studium an der Stuttgarter Kunstakademie einen Wettbewerb für eine Gedenkstätte gewann.

"Wollen Sie wirklich da reingehen", fragt Ülkü Süngün, die Künstlerin. Sie steht vor der blauen Container-Unterkunft für Flüchtlinge in der Esslinger Weststadt. "Kommen Sie sich nicht ein bisschen wie Voyeure vor?" Die Teilnehmer werden unsicher. Aber sie wollen dann doch, werden neugierig begrüßt von jungen Männern ganz unterschiedlicher Herkunft, die sich oft mehr schlecht als recht mit ein paar Brocken Deutsch oder auf Englisch verständigen können.

Ülkü Süngün hat eine etwas andere Stadtführung entworfen. Denn um den Stadtraum richtig zu erfassen, reichen Pläne und Modelle nicht aus, sagt der Schweizer Soziologe Lucius Burckhardt. Erst indem man sich aufmerksam durch die Stadt bewegt, wird diese in ihren relevanten Aspekten erfahrbar. An seiner Methodik – der sogenannten Promenadologie – orientiert sich Ülkü Süngün und zeigt die Stadt Esslingen aus einer speziellen Perspektive: aus der Wahrnehmung der Geflüchteten, von denen mehr als 900 im Vorjahr in Esslingen ankamen.

"Good Space" lautet der Titel der Ausstellung in der <link http: www.villa-merkel.de index.php _blank external-link>Städtischen Galerie Villa Merkel in Esslingen. Süngüns Spaziergang gehört zum Begleitprogramm. Der gute Raum bemisst sich nicht nach der euklidischen Geometrie als Produkt von Länge, Breite und Höhe. Er zeigt sich im Öffentlichen, in den Dimensionen des Teilens und der Begegnung. Dazu gehört auch der Raum der Kunst: der Ausstellungsraum in der ehemaligen Fabrikantenvilla, der angrenzende Park. Aber darüber hinaus auch der Stadtraum.

Süngüns Weg führt zu den für sie wichtigsten Orten: Polizei, Ausländeramt, Rathaus, Amtsgericht: Letzteres ein Ort der Angst, auf den häufig nur noch die Abschiebehaft folgt. Wer ankommt, muss sich zuerst bei der Polizei melden. Der Pass wird einbehalten. "Warum tun die das freiwillig?", will ein Teilnehmer wissen. Nun, sie wollen Asyl beantragen. Anders geht das nicht. Sie müssen ihr Handy vorzeigen, sich die Fingerabdrücke abnehmen lassen, werden ins Ausländerzentralregister eingetragen mit Name, Foto, Herkunftsort und Reiseweg. Innerhalb von drei Tagen muss sich jeder in der Landeserstaufnahmestelle (LEA) in Karlsruhe melden. Wer kein Geld hat, bekommt vom Sozialamt ein Ticket und etwas Taschengeld. Nach drei Monaten in der LEA werden sie auf die Unterkünfte verteilt.

Die Containersiedlung in der Esslinger Weststadt ist die erste Station von Ülkü Süngüns Führung. Dort kommt plötzlich Unruhe auf. "No photo, no photo!", ruft einer: Doch es ist schon zu spät. Die Sache hat einen ernsten Hintergrund. In den blauen Containern leben viele Gambier. Ihre Bleibeperspektive ist alles andere als sicher, obwohl sie ihr Land nicht ohne Grund verlassen haben: Der Präsident Yahya Jammeh verfolgt gnadenlos Oppositionelle und Homosexuelle. Ein Foto im Netz kann auch Angehörige in Gefahr bringen.

Babette Ulmer vom Kulturzentrum Dieselstraße kann ein Lied davon singen. Seit sie 2014 die <link http: www.stage-divers-e.de _blank external-link>Stage Divers(e) & United Unicorns ins Leben gerufen hat, ist ihr schon mehr als ein Gambier verloren gegangen. Die gemischte Truppe probt im Kulturzentrum Komma, der letzten Station auf Süngüns Tour, und hat schon bei verschiedenen Gelegenheiten mit Musik, Tanz, Theater und Akrobatik ihr Publikum begeistert. Darüber hinaus hat Ulmer es geschafft,15 Geflüchteten Jobs im Bundesfreiwilligendienst in Esslinger Kultureinrichtungen zu verschaffen. Und doch sind einige inzwischen abgeschoben worden.

Auf einmal holen die Bewohner der Unterkunft bunte Stühle hervor. Es sind "Begegnungsstühle", wie Flyer in Esslinger Briefkästen einige Tage später verraten. Im Begegnungscafé oder einer Begegnungshocketse sollen Esslinger Bürger und Flüchtlinge auf den Stühlen Platz nehmen, um sich kennenzulernen. Es ist eine Aktion einer Zürcher Künstlerin: von Süngüns künstlerischer Praxis meilenweit entfernt.

Süngüns Weg

Süngün kam zur Kunst, weil sie nach ihrem Erststudium der Verfahrenstechnik in Istanbul und Aachen noch einmal etwas anderes machen wollte und bei Edward Zoworka Kunstunterricht nahm. Der Beuys-Schüler nahm alle ernst, ob sie als Rentner Blumenstillleben malen wollten oder ambitioniertere Ideen mitbrachten. Er riet Süngün, sich mit ihrer türkischen Identität zu beschäftigen. Daraus wurde später, nach dem Studium an der Stuttgarter Akademie, ihre Diplomarbeit: eine aufwendig arrangierte Installation aus Fotos von Objekten aus Import-Export-Läden.

Noch im Studium gewann sie einen Wettbewerb zur Erweiterung einer Gedenkstätte im Killesberg-Park für die von dort aus deportierten 2000 jüdischen Mitbürger. Um den Gedenkstein, eine 1962 entstandene Granitstele des Bildhauers Ludwig Albrecht von Hauff, zog sie einen Kreis aus Stahl, als "Erinnerungskörper" in den Boden eingelassen. Ein solches öffentliches Werk ist, auch wenn es sich um eine einfache geometrische Figur handelt, eine komplexe Angelegenheit. Viele wollten mitreden: nicht nur die Initiative Killesberg, von der die Initiative ausging, auch das Garten- und Friedhofsamt oder die israelitische Religionsgemeinschaft.

Drei Monate hat es gebraucht, bis die Vereinbarung unter Dach und Fach war. 45 000 Euro Spendengelder hat die Initiative gesammelt. Erst da war klar, dass das Projekt realisiert wird. Aber Süngün war schon einen Schritt weiter. Sie wollte Schüler nach der richtigen Art des Gedenkens fragen und wandte sich zu diesem Zweck an die Landeszentrale für politische Bildung.

Lange suchte sie nach einer Schule, um unter dem Titel <link http: www.lernort-gedenkstaette.de de site.php _blank external-link>"Der lebendige Gedenkort" ein Modellprojekt durchzuführen. Schließlich fand sie im Mörike-Gymnasium eine interessierte Kunstlehrerin. Mit der Schulklasse ging sie ins Stadtarchiv. Vor den originalen Dokumenten wurden die Schüler mucksmäuschenstill. Bisher waren sie sich, etwa beim Besuch des Mahnmals von Elmar Daucher am Karlsplatz, nur wie schmückendes Beiwerk zu einer Pflichtveranstaltung vorgekommen. Dies war real.

Aus dem Projekt ist unter anderem <link http: go-stuttgart.org de orte historische-orte.html _blank external-link>GO-Stuttgart hervorgegangen: Vier Schüler entwickelten die Idee einer App, die zu den Orten der nationalsozialistischen Geschichte in Stuttgart führt. Die App, die erst später mithilfe des Webdesigners Alexander Kranz realisiert werden konnte, ist seit Januar im Netz und wird von einer siebenköpfigen Redaktion weiter bearbeitet. Ülkü Süngün ist inzwischen längst wieder mit anderen Dingen beschäftigt.

Mit 50 Schülern des Schlossgymnasiums Kirchheim unter Teck und jungen Geflüchteten erarbeitete sie eine "Museumsbesetzung" im Haus der Geschichte und zwei Ausstellungen in Kirchheim. In <link http: fluechtlingsprojekt.hdgbw.de projekt _blank external-link>einem Blog konnten auch die Schüler ihre Sicht der Dinge und ihre Erfahrungen darlegen. 400 Besucher kamen zur Eröffnung in die Städtische Galerie im Kornhaus. Darunter ein Mann, der seine eigene Kunst zum Verkauf anbieten wollte.

Im ersten Moment, als sie die Tiere, Rosen und Kirchen sah, die der Georgier Sergio Pipia in flachem Relief aus faustgroßen Flusskieseln herausgearbeitet hatte, schreckte sie ein wenig zurück. Doch dann fragte sie sich: "Wer sagt denn, was Kunst ist?" Und schon war sie mittendrin in ihrem nächsten Projekt. Acht Monate lang begleitete sie Pipia, wie er im Tal der Lauter nach geeigneten Steinen suchte, besuchte ihn und seine Frau in der Unterkunft und machte daraus ihre Debütausstellung im Bahnwärterhaus der Villa Merkel: mit seinen Steinen und ihren Fotos.

Roman ohne Happy End

Dazu entstand nach einem Format, das zur Zeit ihrer Kindheit in der Türkei sehr populär war, ein Fotoroman. Der ironische Titel: "Die besten Romane schreibt das Leben." Der Roman hatte kein Happy End. Pipia war nach Deutschland gekommen in der Hoffnung, seiner an den Rollstuhl gefesselten Frau eine medizinische Behandlung zu ermöglichen. Eigentlich sollten Ärzte jeden behandeln, der Hilfe benötigt, unabhängig von ethnischer Herkunft und Staatsangehörigkeit. Pipias Frau wurde im Krankenhaus jedoch zurückgewiesen. Das Ehepaar konnte nur wählen zwischen freiwilliger Ausreise und Abschiebung.

Dieses Erlebnis hat die Künstlerin geprägt. Sie nahm Kontakt zu politisch aktiven Refugees auf wie dem in Schwäbisch Gmünd engagierten Nigerianer Rex Osa, den Netzwerken <link http: thecaravan.org _blank external-link>"Karawane" und <link http: www.thevoiceforum.org _blank external-link>"The Voice", der Initiative <link https: refugees4refugees.wordpress.com _blank external-link>"Refugees for Refugees" oder Marina Naprushkinas <link http: neuenachbarschaft.de _blank external-link>"Neuer Nachbarschaft Moabit" in Berlin.

Einige von ihnen wie Osa oder La Toya Manly-Spain, die 1994 vor dem Bürgerkrieg in Sierra Leone geflüchtet war und nun mit dem <link http: schwabinggrad-ballett.org _blank external-link>"Schwabinggrad Ballett & Arrivati" auf Hamburger Straßen und Plätzen Aktionskunst macht, hat sie auch am 17. Juni zu einem Symposium an der Kunstakademie eingeladen; ebenso den Künstler Ulf Aminde, der an Kunsthochschule Weißensee in Berlin Mappenkurse für Flüchtlinge gibt, um sie auf die Bewerbung an einer Akademie vorzubereiten.

Es war der zweite Teil einer Veranstaltung zum Thema <link http: www.abk-stuttgart.de fileadmin redaktion events _blank external-link>"Fluchtpunkte. Kunst Handeln Denken in der Krise", den ersten hatte Professor Felix Ensslin gestaltet. In der Nähe der Akademie sind im Juni um die 130 Geflüchtete in die Container der "Roten Wand" eingezogen. Seit dem Wintersemester 2015/16 gibt Süngün auch ein Seminar an der Akademie. Sie will von ihren Studierenden wissen, welche Fragen sie an das Thema haben, und die geschichtliche Entwicklung der politischen Aktionskunst aufarbeiten. Für das Symposium haben ihre Teilnehmer eine Performance entwickelt.

Süngün hat auch die Veranstaltungen der Stadt Stuttgart zur Kulturarbeit mit Flüchtlingen besucht. "Mir fehlt da aber immer etwas", moniert sie, "die Stimme der Geflüchteten." Sie fragt: "Was ändern alle diese Projekte am Leben der Geflüchteten hier?" Mit ihren Studierenden will sie politisch diskutieren und stellt fest: Es gibt da einen großen Bedarf. 


Info:

Die Ausstellung in der <link http: www.villa-merkel.de external-link-new-window>Villa Merkeluft noch bis Sonntag, 21. August, dienstags von 11 bis 20 Uhr und mittwochs bis sonntags von 11 bis 18 Uhr.


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Ausgabe 459 / Grüne Anfänge mit braunen Splittern / Udo Baumann / vor 1 Tag 10 Stunden
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