Und wir lernen von ihnen. Die Klassenlehrerin Ulrike Deyhle, die diese Klasse mit viel Herzblut durch ihr erstes Schuljahr in Deutschland lotst, erzählt uns, sie wollte in einer Stunde Geografie machen, hat eine Weltkarte aufgehängt. Das ist Europa, sagte sie. Und ihre Schüler sagten: Da sind wir mit dem Schiff angekommen, dort lang gelaufen, da haben sie mir meine Jacke geklaut, und da war ich schon, und dort auch. "Daran hatte ich überhaupt nicht gedacht", sagt die Lehrerin.
Wir erklären die Kehrwoche, "die haben die Stuttgarter erfunden". Ein Gambier sagt, in dem Ort, aus dem er kommt, würden die Leute auch immer samstags die Straße fegen. Wenn einer nicht fegt, klopfen die anderen an seine Tür, bis er rauskommt. Die Brasilianerin mit den langen, dunklen Locken zeigt Aufnahmen, auf denen sie Samba tanzt, wie eine junge Göttin. Später wird sie eine unserer Kamerafrauen.
Ein Syrer erzählt uns atemlos, wie er "sexy Videos" drehen musste, Vergewaltigungen, die Waffe eines IS-Manns an der Schläfe. Der junge Mann sitzt im Rollstuhl. Es gibt immer einen in der Klasse, der ihn schiebt, und wenn er lacht, ist es so ansteckend, dass alle mit einfallen. Seit drei Jahren lebt er in Deutschland. Eines davon hat er dafür gekämpft, von einer Schule für Körperbehinderte auf die Berufsschule wechseln zu können, weil er Kontakt zu nicht behinderten Menschen haben wollte. Seine Betreuerin seufzt, wenn sie von dieser gewaltigen Anstrengung erzählt, und sagt dann mit einem Lächeln, er sei eben eine sehr starke Persönlichkeit.
Unser Tontechniker ist Kurde, der Moderator Afghane
Es gibt einen Afghanen in der Klasse. Vier Monate war er nach Deutschland unterwegs. Ein junger Mann mit Lederarmband, klug, interessiert, immer gut angezogen und ungewohnt höflich für einen 17-Jährigen. Wenn er auf ein weißes Blatt Papier schreiben soll, zieht er mit Lineal und Bleistift gerade Linien und setzt erst dann die geschwungene Handschrift darüber. Seine Aufschriebe sehen aus wie Gemälde. Er lebt in einer betreuten WG. Die Wohnung ist hübsch, aber karg. Keine Poster, kein Schnickschnack, weil die vier jungen Männer, die dort leben, kaum etwas besitzen. Der Afghane ist einer unserer Moderatoren vor der Kamera, "hallo, Leute!", strahlt er ins Objektiv und gibt eine Führung durch die Gottlieb-Daimler Schule – Foyer, Werkraum, Cafeteria mit Billard und Tischkicker. Er würde gerne einmal die Freunde besuchen, mit denen er hierher geflohen ist, aber sie leben verteilt auf ganz Deutschland. Als er einmal versuchte, eine Genehmigung zu bekommen, musste er so viele Fragen beantworten, dass er es irgendwann sein ließ.
1 Kommentar verfügbar
Insider
am 12.08.2016