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Good Morning Deutschland

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In Flüchtlingsunterkünften in Donaueschingen, Frankfurt und Stuttgart hat der Komponist Hannes Seidl Radiostationen eingerichtet. Stuttgart deshalb, weil die Musikhochschule aus dem Elfenbeinturm herauswill.

Die Flüchtlingsunterkunft in der Borsigstraße ist ein ausgesprochen tristes Gebäude, gewiss keine Sternstunde der Architekturgeschichte, noch dazu etwas heruntergekommen und an einer der trostlosesten Ecken von Stuttgart. Seit fünf Monaten lebt Fatima Berekdar mit ihrem Mann und ihren zwei kleinen Kindern hier in der siebten Etage des zehngeschossigen Hochhauses, von 14 anderen Arabisch sprechenden Familien nur durch Stoffbahnen getrennt. Privatsphäre gibt es keine, aber auch keine Öffentlichkeit. Auf zwei Seiten viel befahrene, vierspurige Autostraßen, rückseits der Parkplatz des Mercedes-Benz Forums. Keine Seele zu Fuß unterwegs, keine Läden in der Nähe, keinerlei Gelegenheit, mit der Stuttgarter Bevölkerung in Kontakt zu kommen.

Fatima Berekdar gehört zum dreiköpfigen Team der Stuttgarter Redaktion von "Good Morning Deutschland": ein Internet-Radio, das seit dem 1. Mai aus Flüchtlingsunterkünften in Donaueschingen, Frankfurt und Stuttgart sendet, jede Redaktion drei Stunden pro Woche. Der Komponist Hannes Seidl hat das Projekt ins Leben gerufen. Björn Gottstein, der Leiter der Donaueschinger Musiktage, hatte ihn eingeladen, ein Projekt für das diesjährige Festival zu entwickeln. In Donaueschingen leben 2500 Flüchtlinge in einer alten französischen Kaserne: ziemlich viel für eine Stadt mit 21 000 Einwohnern. Seidl wollte sie in die Musiktage einbeziehen. Er wollte den Flüchtlingen nicht seine Musik vorspielen, sondern "als Komponist möchte ich hören, was sie mitgebracht haben".

Ursprünglich plante er Stationen in Donaueschingen und seinem Wohnort Frankfurt. Allerdings wollte er das Projekt nicht erst im Oktober auf den Musiktagen vorstellen. Es traf sich gut, dass die Stuttgarter Musikhochschule vom 19. bis 21. Mai einen Kongress unter dem Titel "Wirklichkeiten" veranstaltet. "Hat die zeitgenössische Musik die Brücken zur sie umgebenden Welt tatsächlich abgebrochen?", fragt die Einladung. Komponisten wie der Mitorganisator Martin Schüttler wollen eine Debatte anzetteln über "Musik als Gegenwartskunst, die an gesellschaftlichen Diskursen teilnimmt und sich einmischt".

Die syrische Journalistin will Orientierungshilfe für Flüchtlinge

Für Seidl kann, ganz im Sinne von John Cage, jedes Alltagsgeräusch Musik sein. Beim Neue-Musik-Festival "Sommer in Stuttgart" hat er 2008 mit dem Videokünstler Daniel Kötter ein Stück aufgeführt, in dem vier Personen aus dem Jugendhaus Hallschlag zwar auch im konventionellen Sinne Musik machten, vor allem aber ihren gewöhnlichen Tätigkeiten wie Kochen, Löten, Körpertraining oder Computerspielen nachgingen. Die Musik bestand aus den Klängen, die dabei entstanden. Kötter und Seidl arbeiten häufig zusammen. Der dritte Teil "Liebe" der gemeinsamen Trilogie "Ökonomien des Handelns" kommt im Oktober im Theater Rampe zur Aufführung.

Fatima Berekdar hat in Damaskus für "An Nour", das Organ der kommunistischen Partei, Theater- und Kinokritiken verfasst, für verschiedene Regierungszeitungen gearbeitet und als Gewerkschaftssekretärin Freizeitaktivitäten für Frauen und Kinder organisiert. "Die Leute in Syrien lieben das Leben so sehr", sagt sie, "sie lachen viel." Über das Radio möchte sie Frauen und Kindern helfen, sich in Deutschland zu orientieren. Ihr Mann Rawad Salman ist Ingenieur. Seit fünf Jahren versucht er übers Internet, sich in Deutschland als Programmierer zu bewerben. Allerdings hätte er eine Kaution von 8000 Euro hinterlegen müssen, die hatte er nicht. Berekdar zeigt auf ihren Ehering: "Wir haben fast alles verkauft, um nach Deutschland zu kommen."

Sie konnten legal in die Türkei fliegen. In letzter Minute, denn im März wäre Salman zum Militärdienst eingezogen worden. Auf seine Landsleute schießen, das wollte er nicht. Mit dem Schiff ging es weiter zur griechischen Insel Chios, nah am kleinasiatischen Festland. Es war kein überfülltes Schlauchboot, sie waren nur vier Familien. Das war teurer, aber sie konnten es sich noch leisten. Anschließend brauchten sie zehn Tage bis Deutschland, in kleinen Etappen per Bus und Bahn, kürzere Abschnitte manchmal zu Fuß. Geschlafen haben sie auf der Straße. Nach zwanzig Tagen in der Erstaufnahme in Heidelberg kamen sie in die Borsigstraße.

"Good Morning Deutschland", der Name der Radiostation, bezieht sich auf den Film "Good Morning Vietnam", erklärt Hannes Seidl, "auf die Art, wie Radio dort als Medium eingesetzt wird, über alle Schwierigkeiten hinweg ein Gemeinschaftsgefühl der eigentlich befeindeten Menschen herzustellen". Der Film spielt 1965 zu Beginn des Vietnamkriegs. "'Deutschland' statt 'Germany' spiegelt die Mehrsprachigkeit, die Bröckchen unterschiedlicher Sprachen, wie so oft bei Menschen, die sich irgendwie miteinander verständigen müssen, aber keine direkte gemeinsame Sprache haben. Außerdem ist das Radio selbst multilingual und so bunt es geht."

Der afghanische Radiomacher steht auf "Musik, Musik, Musik"

Arabisch, Farsi, Englisch und Deutsch wird in allen drei Redaktionen gesprochen, zum Teil noch weitere Sprachen. Seidl hat die Redakteure sorgfältig ausgesucht. Ramin Nawadi, siebzehn, stammt aus Afghanistan und ist bereits seit dreieinhalb Jahren in Stuttgart. Er ist in der Lage, sich auf Deutsch gewählt auszudrücken, wenn auch nicht immer völlig fehlerfrei. Seine Mutter musste aus Kabul weg, sagt er. Sie hatte Streit mit dem Vater, dazu Diabetes und kann nicht richtig gehen. In Athen wurden sie getrennt, seine Mutter flog direkt nach Deutschland, Nawadi selbst kam langsamer voran, auf dem Landweg. Zwei Monate blieb er, vierzehn Jahre alt, in Rosenheim hängen, bevor er zu seiner Mutter nach Stuttgart durfte.

Momentan arbeitet Nawadi daran, 2017 seinen Realschulabschluss hinzukriegen. Gute Noten in der Schule sind ihm sehr wichtig. Er möchte Pilot werden, sein Kindertraum. Vom Radio hat er durch seine Nachhilfelehrerin erfahren. Er ist schon als Siebenjähriger in Kinderprogrammen des afghanischen Fernsehens aufgetreten, eine halbe Stunde pro Tag. Bereits zur ersten Sendung hat er einen afghanischen Musiker mitgebracht, Hamayon Hejran, der bereits seit 25 Jahren in Deutschland lebt und in der Community sehr gefragt ist.

Nawadi möchte aber viele Geflüchtete ins Radio einladen. Sie sollen "selber ihre Geschichten erzählen, damit die Leute in Deutschland wissen, worum es in der Flüchtlingskrise geht". Als in der zweiten Sendung am 8. Mai ein weiterer Afghane zu Gast ist, der erst vor zwei Jahren aus Kabul geflohen ist, möchte er von ihm wissen, wie es dort zuging. Denn "was im Fernsehen erzählt wird und was man mit den eigenen Augen sieht, das macht einen großen Unterschied". Weiterhin interessiert ihn, wie Menschen unterschiedlicher Herkunft bestimmte Festtage begehen, zum Beispiel Muttertag. Und: "Musik, Musik, Musik finde ich gut."

Für Hannes Seidl war die Borsigstraße die erste Wahl, gerade weil dort viele Geflüchtete leben. Zuerst machte die Stadt Schwierigkeiten: Radio in arabischer Sprache? Wer die Stimme von Fatima Berekdar hört, muss die Angst vor Terroraufrufen für lächerlich halten. Die Hörer, die selbst vor dem Terror in ihren Heimatländern geflüchtet sind, würden zuerst Alarm schlagen. Sie kommen ins Foyer, um zuzuhören. Oben gibt es ohnehin nichts zu tun.

Der deutsche Unterstützer bringt Studiogäste mit

Felix Heimbach, der Dritte im Bunde, hat in seiner Wohngemeinschaft durch Sarah Brodbeck von dem Radioprojekt gehört. Die Regieassistentin im Theater Rampe kümmert sich auch um Anträge und Öffentlichkeitsarbeit für das Radio. Heimbach, gebürtiger Stuttgarter, hat während seines Studiums der Politologie und Volkswirtschaftslehre in Regensburg begonnen, sich in der Flüchtlingsarbeit zu engagieren. Bei Amnesty International hat er Verfahrensberatung gemacht, dann ein viermonatiges Praktikum im Flüchtlingsrat Baden-Württemberg absolviert und engagiert sich nun auch in einem Freundeskreis.

Heimbach kann in vielfacher Weise vermitteln und beraten, etwa bei Asylverfahren oder mit Kontakten. Er bringt Musik mit und Studiogäste, etwa am 8. Mai den kurdisch-jesidischen Schauspieler Hadeer Khairi Hando, der am Badischen Staatstheater Karlsruhe in "Die Kinder des Musa Dagh" nach dem Roman von Franz Werfel über den Genozid an den Armeniern 1915 gespielt hat. Oder am 15. Mai den Stuttgarter Musiker Noah Kwaku.

Seidl vergleicht den Sender mit einem Hochschulradio: aus der Community, für die Community. "'Good Morning Deutschland' gibt der neu entstehenden kulturellen und künstlerischen Vielfalt eine Stimme", formuliert er auf der Homepage. "Es ist Radio für geflüchtete Menschen, die mit ihrem kulturellen Wissen, Interessen, musikalischen Wünschen und Vorstellungen eines zukünftigen Lebens hier ankommen." Und für Fatima Berekdar ist Stuttgart und das Radio ein Stück Hoffnung. "Ich bin so glücklich", sagt sie. "Ich denke die ganze Zeit, jetzt haben wir eine Zukunft."

 

Info:

<link http: www.goodmorningdeutschland.org external-link-new-window>Good Morning Deutschland sendet jeden Dienstag, Mittwoch und Sonntag von 17 bis 20 Uhr. Zum <link http: www.mh-stuttgart.de fileadmin downloads wirklichkeiten wirklichkeiten_programm_flyer_web.pdf external-link-new-window>Wirklichkeiten-Kongress der Musikhochschule gibt es am Freitag, den 20. Mai, eine Sondersendung, anschließend in der Kantine der Unterkunft eine Diskussion und ein nicht öffentliches Konzert; gespielt wird "Déserts" von Edgar Varèse mit Video von Bill Viola.


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