Fritz Kuhn kommentierte die Entscheidung, die zwei Weißenhof-Häuser des Meisters ins Weltkulturerbe aufzunehmen, so: "Le Corbusiers Impuls, günstige Wohnungen mit innovativen Grundrissen und neuen Materialien zu bauen, ist noch immer wegweisend und muss daher Ansporn für unsere Architekten und Stadtplaner sein." In Bezug auf Grundrisse und Materialien hat Kuhn sicher recht. Aber der Impuls, günstige Wohnungen zu bauen, kam nicht von Le Corbusier. Er kam von den enormen Problemen des Wohnungsmarkts und den massiven staatlichen Eingriffen, um diese zu bewältigen. Im Ersten Weltkrieg war der Wohnungsbau zum Stillstand gekommen. Danach war das Angebot knapp und das verfügbare Einkommen der Arbeitnehmer gering.
Die Probleme unterschieden sich kaum von heute. "Wo [...] eine Stadt vorausschauende Bodenpolitik betrieben hat, d. h. recht viel Land erworben oder im Besitz gehalten hat, anstatt damit Bodengeschäfte zu treiben, wird die Vorstadtsiedlung auf städtischem Boden als Randsiedlung entstehen können", schreibt Paul Schmitthenner, damals seit zwei Jahren Architekturprofessor in Stuttgart, 1920 in der Daimler-Werkzeitung. Zu dieser Zeit fehlen in Stuttgart 6000 Wohnungen. Die Alternative sah Schmitthenner darin, "den Ring zu durchbrechen", das heißt etwas weiter weg, wo es noch billiges Bauland gab, satellitenartige Gartenstädte zu errichten. Ernst May, der Architekt des "Neuen Frankfurt", griff das Konzept auf: Daraus entstanden später die Trabantenstädte mit all ihren Problemen. Der Grund für Zersiedelung und Flächenverbrauch liegt hier: dass bezahlbarer Grund und Boden in der Stadt nicht zu finden war.
Die Weimarer Republik reagierte mit Wohnraumbewirtschaftung und Mieterschutz, einer rigiden Begrenzung der Miethöhen und einer massiven Wohnungsbauförderung. Bereits 1920 investierte der Staat zwei Milliarden Reichsmark. Gedeckt wurden die Ausgaben zunächst durch eine fünfprozentige Abgabe auf die Mieten, dann ab 1924 durch die Hauszinssteuer, die von Haus- und Grundbesitzern erhoben wurde, weil sie von der Inflation nicht betroffen waren. Diese Abgabe verschaffte den Kommunen eine Grundlage, zu handeln. 1925 beschloss der Stuttgarter Gemeinderat, auf städtische Kosten jährlich 1000 Wohnungen zu bauen. 5650 städtische Wohnungen wurden es bis 1930, das entspricht einem Anteil an den Neubauten von 30 Prozent. Daneben förderte die Stadt auch Genossenschaften und private Bauherren, die mithilfe von Baudarlehen nochmal 5824 Wohnungen errichteten.
Mangel macht modern
Die moderne Architektur steht also nicht am Ausgangspunkt dieser Entwicklung, sie ist umgekehrt von ihr geprägt: Alles schmückende Beiwerk galt als suspekt, schlicht und einfach sollte die Wohnung sein. Im Mittelpunkt stand die Frage, wie wenig Raum der Mensch mindestens benötigt. Am Weißenhof wurden viele neue Verfahren erprobt. Günstiger Wohnraum entstand jedoch anderswo, entweder in städtischer Regie oder von Genossenschaften.
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Schwabe
am 16.08.2016