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Gesund und günstig

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 Fotos: Joachim E. Röttgers 

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Vor dem Ersten Weltkrieg gab es noch keine staatliche Wohnbauförderung. Aber die Wohnungsnot war groß. Hilfe kam von privater Seite – oder die Arbeiter halfen sich selbst. Ein weiterer Teil in der Geschichte des bezahlbaren Wohnraums.

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In der Gründerzeit, also während der Industrialisierung und nach Gründung des Deutschen Reichs, wuchsen die Städte wie nie zuvor. In Berlin entstanden in kürzester Zeit ganze Stadtviertel voller Mietskasernen, oft mit zwei engen Hinterhöfen. Auch im Stuttgarter Westen wurde innerhalb eines Jahrzehnts die gesamte Talsohle bebaut.

Es entstand ein ungeheurer neuer Reichtum. Nur, diejenigen, die diesen Reichtum produzierten, hatten nichts davon – der Ursprung von Arbeiterbewegung, Sozialismus, Kommunismus. Friedrich Engels berichtete 1845 über "Die Lage der arbeitenden Klasse in England". Als Jack London 1903 die Londoner Slums besuchte, war es kaum besser geworden. In Berlin teilten sich oft ganze Familien ein einziges Zimmer im Schichtbetrieb.

Auch in Stuttgart ergab sich, als der Verein für das Wohl der arbeitenden Klassen 1886 die "Unterbringungsverhältnisse der ärmeren Bevölkerungsteile" prüfte, ein "erschreckendes Bild, das nicht dadurch besser wurde, dass es anderswo noch unerfreulicher aussah". Aus 3000 Fragebogen ging hervor, dass sich im Schnitt zwei bis drei Personen ein Zimmer teilten, in 795 Einzimmerwohnungen "durchschnittlich drei, faktisch vielfach 4–5 Personen hausten", "während 1532 der überprüften 5048 Personen überhaupt keine Liegestatt ihr Eigen nannten!". Von 1331 Wohnungen hatten nur 329 eine eigene Küche.

Die "Förderung der Interessen und Hebung der sittlichen und wirthschaftlichen Zustände der arbeitenden Klassen" hatte sich der 1866 von Eduard Pfeiffer gegründete Verein in die Statuten geschrieben. "Viele und namentlich die ledigen Arbeiter, deren Wohnungen meist gar nicht heizbar sind, bleiben auf das Wirtshausleben mit all seinen üblen Folgen angewiesen", war in einer Ankündigung zum Bau eines Arbeiterheims zu lesen. 1886 hatte der Verein bereits eine Volksküche eingerichtet und war dabei, eine Badeanstalt zu bauen.

Nun aber widmete er sich verstärkt dem Wohnungsbau. Auf ein Ledigenheim in der Heusteigstraße für 240 Männer – nach dem Zweiten Weltkrieg bis 1962 Sitz des Landtags – folgten die Siedlungen Ostheim, Westheim (in der Beethovenstraße in Botnang), Südheim und Ostenau sowie die Sanierung von Teilen der Stuttgarter Altstadt, unter anderem das Quartier um den Hans-im-Glück-Brunnen. So entstanden bis 1920 rund 2000 Wohnungen.


Die Kolonie Ostheim, das größte Projekt des Vereins, wurde 1892 bis 1903 "zum Zwecke der Schaffung gesunder, billiger Wohnungen erbaut". Für 1,5 Millionen Mark wurde das Gelände im damals noch unbebauten Stuttgarter Osten erworben, die Gesamtkosten betrugen 7,255 Millionen Mark. In einer Art Vorform des Bausparwesens konnten die Bewohner ihre Wohnungen auch durch Ratenzahlung erwerben.

"Merkt es Euch, Ihr Mächtigen und Reichen, die Ihr behaglich dahinlebt, ohne Euch um das Los derer zu bekümmern, durch die der ganze Comfort, der Euch umgibt, geschaffen wurde!", mahnte Eduard Pfeiffer, jüdischer Bankier und einer der reichsten Männer Württembergs, der bereits 1863 die erste Konsumgenossenschaft Deutschlands, den "Stuttgarter Consum- und Ersparnißverein" gegründet und ein Buch "Über Genossenschaftswesen" geschrieben hatte. Als er 1921 starb, vermachte er sein gesamtes Vermögen einer Stiftung, die bis heute existiert.

Ostheim besteht aus 383 Häusern mit 1267 Wohnungen. Am Wettbewerb für die Siedlung beteiligten sich 52 Architekten. Der Bebauungsplan stammt von Regierungsbaumeister Friedrich Gebhardt. Carl Heim und Karl Hengerer entwarfen die einzelnen Häuser. "Der Gefahr der einförmigen Wirkung als Fabrikdorf sollte durch die noch heute aus dem Bild jener Bauten sprechende abwechselnde Gestaltung vorgebeugt werden", steht in einer Publikation zum 100-jährigen Bestehen des heutigen Bau- und Wohnungsvereins (BWV).

"Indes die Personen des Ostends (auch die eine Hedwig und die andere) zum Leben erweckt werden, nimmt der Frührentner Gscheidle zum Frühstück die Bild-Zeitung und einen Kasten Bier in Angriff": Manfred Esser machte die Kolonie Ostheim 1978 zum Schauplatz seines "Ostend-Romans".

Um 1900 war der größte Arbeitgeber in Stuttgart die Deutsche Reichsbahn. Mit der Post hatte die Bahn bereits 1868 bis 1872 das "Postdörfle" erbaut: 214 Wohnungen für rund 1000 Menschen. Heute sind nur noch die unteren Stockwerke der Gebäude an der Heilbronner Straße übrig. Von 1894 an folgten die 11 Baublöcke des Nordbahnhofviertels. Die im farbigen Wechsel relativ einheitlichen Backsteingebäude sind bis heute ein beeindruckender Anblick. 815 Wohnungen für 4000 Bewohner waren bis 1914 fertiggestellt.

"Wer nix isch und wer nix ko, goht zur Post ond Eisenboh", hieß es zur damaligen Zeit: Eisenbahnarbeiter kamen häufig aus dem ländlichen Umland. Von Anfang an deutlich außerhalb des bebauten Stuttgarter Stadtgebiets gelegen und ursprünglich zu Cannstatt gehörig, wurde das Quartier, bestehend aus Kleinwohnungen mit zwei bis drei Zimmern, durch den neuen Gleisbogen im Zuge des Bahnhofs-Neubaus ab 1914 noch mehr vom Rest der Stadt abgeschnitten.

Die Innenhöfe der Wohnblöcke waren nicht überbaut, um den Anwohnern Gemüseanbau und Kleintierzucht zu ermöglichen. In jedem Hof gab es ein Waschhaus. 1912 kam in der Mittnachtstraße eine Badeanstalt hinzu. Die Versorgung sichert der von Eduard Pfeiffer gegründete Consum- und Ersparnißverein, der 1928 die Hälfte aller Stuttgarter Haushalte belieferte. Die "Konsumzentrale" befand sich in der nahe gelegenen Wolframstraße. 1932 entstand nach Plänen von Karl Elsässer die modernste deutsche Großbäckerei.

1998 übernahm die Landesentwicklungsgesellschaft (LEG), zu deren Hauptaufgaben die Schaffung erschwinglichen Wohnraums für Familien und die Förderung infrastrukturell unterentwickelter Gebiete gehörte, das vormalige "Eisenbahnerdörfle". Der Sündenfall kam 2007 mit der Umwandlung der LEG in die LBBW Immobilien. Die musste ihren Grundbesitz 2012 aufgrund von Fehlspekulationen in Milliardenhöhe abstoßen. Gegen eine Bietergemeinschaft unter Beteiligung der Stadt konnte sich das Patrizia-Konsortium knapp durchsetzen, das seine "langfristige Anlage" schon drei Jahre danach an den Billig-Immobilienriesen Deutsche Annington abgab, der sich inzwischen Vonovia nennt.

"Gesunde und billige Wohnungen" zu erstellen: Das war auch das Ziel der 1911 von neun Arbeitern der Daimler-Motoren-Gesellschaft gegründeten "Baugenossenschaft eigenes Heim", und zwar "durch den Bau von Einfamilienhäusern mit zugehörigen Obst- und Gemüsegärten" sowie "unter Ausschluss jedweder Spekulation und mit dem Ziel der allmählichen Verminderung der auf dem Anwesen ruhenden Schuldenlast".

Das Daimler-Motoren-Werk, bis zu einem Brand 1903 in Bad Cannstatt angesiedelt, war nach dem Umzug ins Weinbauerndorf Untertürkheim rapide gewachsen. Wohnraum war knapp. Wo die Genossenschaftler auch suchten: Entweder stießen sie bei den Ortsansässigen auf Widerstand, die befürchteten, "alles mögliche und unmögliche Lumpenpack in die Gemeinde zu bekommen". Oder aber die Grundbesitzer hielten die Hand weit auf und verlangten Preise, die sich die Arbeiter nicht leisten konnten.

Mithilfe des Architekten Wilhelm Wacker, Sohn eines Bildhauers aus Rohracker, gelang es schließlich, ein Stück weit außerhalb in den Weinbergen ein Baugelände zu finden. Die rund 1,5 Kilometer zum Daimler-Werk legten die Arbeiter zu Fuß zurück.

Für Wilhelm Wacker hat sich das Engagement gelohnt: Er wurde zum wichtigsten Architekten der Siedlung. 1913 entstanden die ersten Einfamilienhäuser. 9690 Mark kostete ein Haus, Grundstück inbegriffen. Beim Bau legten die Arbeiter selbst mit Hand an. In nur drei Jahren entstanden so 110 Häuser für 500 Bewohner. Bis 1933 wurden es 352 Eigenheime und 48 Mietwohnungen.

Eine Besonderheit Luginslands ist der sogenannte Dreispänner: Das Haus mit zwei Giebeln besteht eigentlich aus drei aneinandergesetzten Einfamilienhäusern mit separaten Eingängen. Die Wohnungen haben drei oder vier Zimmer und sind 69 Quadratmeter groß. Das Genossenschaftshaus mit Festsaal, Badeanstalt und der Gaststätte Luginsland entstand erst 1926. Architekt war Karl Elsässer. Im Zweiten Weltkrieg durch Bombenangriffe zerstört, wurde der Bau mit dem charakteristischen runden Turm in vereinfachter Form wieder aufgebaut.

"Einst war es ein Haus wie andere auch", erinnert sich Friedrich Schlotterbeck nach dem Krieg. "Aber jetzt sind die Menschen, die darin lebten, tot. Mit einem dreijährigen Kind bin ich übrig geblieben. Die anderen, Vater, Mutter, Schwester, Bruder, Braut und manchen guten Freund hat die Gestapo heimlich und feige ermordet." Neun Mitglieder der Widerstandsgruppe Schlotterbeck, darunter seine Verlobte Else Himmelheber aus Stuttgart-Ostheim, wurden am 30. November 1944 im KZ Dachau ermordet. Willi Bleicher, später leitender Funktionär der IG Metall, hat das KZ Buchenwald überlebt. Er lebte in der linken Haushälfte.

Heute gehört die Mehrzahl der Häuser in Luginsland ihren Bewohnern. Die Genossenschaft baut dafür anderswo, wie hier in der Sattelstraße, etwas weiter unten am Rand Untertürkheims. Sie hat heute 1888 Mitglieder und besitzt 1313 Wohnungen, die sie nach eigenen Angaben zu einer durchschnittlichen Kaltmiete von 6,18 Euro vermietet.


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1 Kommentar verfügbar

  • Fritz
    am 20.07.2016
    Antworten
    Vielen Dank für diesen interessanten und informativen Artikel!
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