In der Gründerzeit, also während der Industrialisierung und nach Gründung des Deutschen Reichs, wuchsen die Städte wie nie zuvor. In Berlin entstanden in kürzester Zeit ganze Stadtviertel voller Mietskasernen, oft mit zwei engen Hinterhöfen. Auch im Stuttgarter Westen wurde innerhalb eines Jahrzehnts die gesamte Talsohle bebaut.
Es entstand ein ungeheurer neuer Reichtum. Nur, diejenigen, die diesen Reichtum produzierten, hatten nichts davon – der Ursprung von Arbeiterbewegung, Sozialismus, Kommunismus. Friedrich Engels berichtete 1845 über "Die Lage der arbeitenden Klasse in England". Als Jack London 1903 die Londoner Slums besuchte, war es kaum besser geworden. In Berlin teilten sich oft ganze Familien ein einziges Zimmer im Schichtbetrieb.
Auch in Stuttgart ergab sich, als der Verein für das Wohl der arbeitenden Klassen 1886 die "Unterbringungsverhältnisse der ärmeren Bevölkerungsteile" prüfte, ein "erschreckendes Bild, das nicht dadurch besser wurde, dass es anderswo noch unerfreulicher aussah". Aus 3000 Fragebogen ging hervor, dass sich im Schnitt zwei bis drei Personen ein Zimmer teilten, in 795 Einzimmerwohnungen "durchschnittlich drei, faktisch vielfach 4–5 Personen hausten", "während 1532 der überprüften 5048 Personen überhaupt keine Liegestatt ihr Eigen nannten!". Von 1331 Wohnungen hatten nur 329 eine eigene Küche.
Die "Förderung der Interessen und Hebung der sittlichen und wirthschaftlichen Zustände der arbeitenden Klassen" hatte sich der 1866 von Eduard Pfeiffer gegründete Verein in die Statuten geschrieben. "Viele und namentlich die ledigen Arbeiter, deren Wohnungen meist gar nicht heizbar sind, bleiben auf das Wirtshausleben mit all seinen üblen Folgen angewiesen", war in einer Ankündigung zum Bau eines Arbeiterheims zu lesen. 1886 hatte der Verein bereits eine Volksküche eingerichtet und war dabei, eine Badeanstalt zu bauen.
Nun aber widmete er sich verstärkt dem Wohnungsbau. Auf ein Ledigenheim in der Heusteigstraße für 240 Männer – nach dem Zweiten Weltkrieg bis 1962 Sitz des Landtags – folgten die Siedlungen Ostheim, Westheim (in der Beethovenstraße in Botnang), Südheim und Ostenau sowie die Sanierung von Teilen der Stuttgarter Altstadt, unter anderem das Quartier um den Hans-im-Glück-Brunnen. So entstanden bis 1920 rund 2000 Wohnungen.
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Fritz
am 20.07.2016