Wenn Stuttgarter von ihrer Altstadt – oder liebevoll vom "Städtle" – reden, meinen sie nicht etwa das historische Stadtzentrum. Denn davon sind nur noch eine Handvoll wiederaufgebaute Repräsentationsbauten übrig. Sie meinen die frühere Leonhardsvorstadt, die sich heute in Bohnen- und Leonhardsviertel teilt. Das Bohnenviertel, so genannt, weil in früheren Zeiten die Bewohner im Garten Gemüse anbauten, sollte Anfang der 1970er-Jahre abgerissen werden. Da der Denkmalschutz damals Aufwind hatte, wurde stattdessen eine Sanierung beschlossen, die allerdings auf eine Mischung von Alt- und Neubauten hinauslief. Nur im Leonhardsviertel steht noch flächendeckend die historische Substanz.
Ein Rotlichtviertel ist das Quartier schon lange. Im legendären Finkennest hingen früher voluminöse Damenunterhosen als Lampenschirme von der Decke. Neu ist, dass es sich überwiegend um Armutsprostitution handelt. In die Jakobstraße 3 sollte einmal das Ungarische Kulturinstitut einziehen. Als die Ungarn merkten, in welche Umgebung sie geraten waren, suchten sie sich einen besseren Ort in schöner Halbhöhenlage. Heute sind es vor allem Ungarinnen, Bulgarinnen und Rumäninnen, die in Stuttgarts Altstadt anschaffen gehen. Ihre begrenzten Einnahmen teilen sich Zuhälter, Pächter und Vermieter. Für die Frauen, die sich auf den verzweifelten Weg nach Mitteleuropa gemacht haben, um daheim ihre Familie zu ernähren, bleibt nur wenig übrig.
Die Hausbesitzer machen sich nicht unbedingt selbst die Finger schmutzig. Manch einer will gar nicht gewusst haben, was da in seinem Haus vor sich geht. Die Verantwortlichen sind schwer zu fassen. Denn die Prostitution im Leonhardsviertel geschieht illegal, bestenfalls in einer Grauzone. 150 Euro pro Tag verlangen sie für ein Zimmer: Bei einem Haus mit zehn Zimmern sind das mehr als 200 000 Euro im Jahr. In die Bausubstanz investieren die Besitzer nicht, oder wenn, dann nur um barocke Fassaden unter einer dicken Schicht billigsten Dämmputzes verschwinden zu lassen.
Ungefähr die Hälfte aller Häuser des Leonhardsviertels steht unter Denkmalschutz. Das ist viel, letztlich aber völlig inkonsequent. Während in der Calwer Straße 1976 erstmals eine "Gesamtanlage" unter Ensembleschutz gestellt wurde, von der allerdings nur die Fassaden erhalten blieben, steht im Leonhardsviertel die Bausubstanz noch.
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Andreas Karl
am 10.09.2015