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Buntes Böblingen

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Wie viel Fremde verträgt die deutsche Gesellschaft? Es gibt kaum eine Frage, die das Land nach mehreren Anschlägen auf Flüchtlingsunterkünfte so sehr beschäftigt. Wie viele Fremde längst vertraut bei uns leben und ihre Stadt prägen, haben wir in Böblingen rund um die beiden Seen im Herzen der Stadt beobachtet.

Heinrich Pfeifer kommt aus der Ukraine. Seine Eltern, Großeltern, Urgroßeltern sind Russlanddeutsche, Nachfahren derer, die von Katharina der Großen vor 250 Jahren nach Russland eingeladen wurden, um das russische Volk zu vergrößern. 2002 kam seine ganze Familie zurück nach Deutschland.

Der Mann, der mit einem zerlesenen Deutsch-Buch auf dem Schoß im Böblinger Rosengarten sitzt, kommt aus Gambia. Er ist 34, Bauingenieur, seit Februar in Deutschland. Seine Flucht begann im Juli 2014. Damals sei sein Chef verhaftet worden, weil der Geld veruntreut hatte, erzählt der Afrikaner, der seinen Namen lieber nicht veröffentlicht wissen will. Und damit sie ihn selbst nicht auch verhaften, ist er geflohen. Von Gambia über den Senegal bis nach Tripolis. An Weihnachten 2014 um drei Uhr nachts hat er ein Schlauchboot bestiegen und fuhr mit 100 weiteren Flüchtlingen auf's offene Meer. Der Mann greift in den Cord-Stoff seiner Hose, rollt ihn zu einer festen Rolle über dem Knie. "Das Boot hatte ein Loch. Ich habe das Gummi zusammengerollt so gut es ging und es festgehalten." Nach 13 Stunden wurde das kleine Boot von einem italienischen Rettungsschiff aufgesammelt. Am 25. Januar 2015 stieg der Afrikaner in Berlin aus dem Zug, wenig später in Karlsruhe, Anfang Februar in Böblingen. "Ich würde gerne hier bleiben und lernen, wie die Deutschen Häuser bauen. Das könnt ihr wirklich sehr gut", sagt er und lacht. 

Ihr Lachen hört man schon von Ferne. Shiyan ist gerade zwei geworden, deshalb haben sich sechs Frauen und zwei junge Männer der Familien Sothilingam, Sundararajah und Kritharan in Böblingen getroffen. Kirupalini Kritharan ist die Mutter und Tante. Sie ist 42 und vor 30 Jahren mit ihren Eltern aus Sri Lanka geflohen. "Es ist toll in Deutschland", sagt sie. "Meine Kinder haben hier ein Zuhause und ich konnte ihnen eine schöne Zukunft schenken. Ich selbst bin im Krieg geboren. Aber für mich ist Sri Lanka noch immer meine Heimat." Ihre Töchter, Söhne und Nichten studieren, gehen aufs Gymnasium und kennen Sri Lanka nur als Urlaubsziel.

Djakovic sitzt in der Sonne und zeigt zufrieden grinsend seine abgewetzten, alten Zähne. "Ich komme aus Bosnien", sagt er. Ab und zu fährt er für ein paar Tage "runter", um seine Familie zu besuchen. In Deutschland lebt er alleine. "Deutschland ist viel besser als Bosnien", sagt er. "Hier gibt es Rente, in Bosnien gibt es nur Stress. Dort ist so viel kaputt vom Krieg und die Leute vertragen sich alle nicht. Jederzeit kann der nächste Krieg ausbrechen." Vor 40 Jahren kam er nach Böblingen, 30 davon hat er in der Stanzerei bei Daimler in Sindelfingen gearbeitet. Wenn er "Stanzerei" sagt, klingt es wie "Staansserrei" und weil er weiß, das sich das manchmal komisch anhört, grinst er noch breiter und sagt das Wort gleich noch zwei mal.

Sallys Vorfahren stammen aus England, sie selbst ist in Deutschland geboren. Der kleine Yorkshire Terrier gehört schon immer der Familie Vögler. Vater Timo kommt aus Kasachstan, seine Frau Olga aus Kirgisien. Sie kam 1995 nach Deutschland, er 2002, beide sind Spätaussiedler. "Wie lange bin denn ich in Deutschland, Papa", fragt Leon, der Sohn. "Seitdem du geboren bist." "Sieben Jahre!" ruft Leon. Manchmal vermisse er seine Tante, sagt der Bub. "Die wohnt gaaanz weit weg." Seine beiden Schwestern Xenia und Vanessa nicken zustimmend.

"Heimat ist dort, wo man sich wohlfühlt", sagt Vanessa aus Bad Cannstatt (rechts im Bild). Sie und ihre Freundin Angela sind Bürokauffrauen und verbringen ihren Feierabend am See. Angela ist 19, sie hat ihre ersten beiden Lebensjahre in Sibirien verbracht, bis ihre Eltern nach Deutschland auswanderten weil es dort Arbeit gab. Heute ist sie 21 und erinnert sich kaum noch an das kleine Dorf in Russland. "Ich war früher mal mit meinen Eltern im Urlaub dort", sagt sie. "Aber ganz ehrlich, wenn ich Urlaub habe, fahre ich dann doch lieber ans Meer in die Sonne statt nach Sibirien."

Carlo Santagati (rechts im Bild) ist 20 Jahre alt, seine Eltern kommen aus Sizilien. Er ist selbstständiger Handelsvertreter und Deutschland ist ihm zu bunt. "Jeder Ausländer, der hierher will, darf hierher kommen", sagt er. "Wenn die sich benehmen und anpassen würden, wäre das ja alles kein Problem. Tun sie aber nicht. Deutschland ist viel zu nett." Warum, fragt er, sollen Türken hier Moscheen bauen dürfen? "Wir dürfen doch in der Türkei auch keine Kirchen bauen." "In der Türkei gibt es Kirchen", sagt sein Freund Muhammed, 18, Türke. "Ne, gibt es nicht", sagt Carlo. "Doch, gibt es wohl", sagt Muhammed. "Nein!" "Doch!" "Mir doch egal", sagt Carlo letztlich.

Salvo (links im Bild) wird bald Wirtschaftsinformatik studieren. Er ist 20 und lebt in der Nachbarschaft einer Flüchtlingsunterkunft in einem Vorort von Böblingen. „Ich habe es noch nie erlebt, dass einer von denen unfreundlich zu mir ist“, sagt er. „Und ich laufe da jeden Tag mit dem Hund vorbei.“ Mit zweieinhalb zog seine Familie von italienischen Turin nach Baden-Württemberg. Sein Kumpel Eric, Vater Franzose, Mutter Deutsche, sagt: „99 Prozent all derer, die hierher kommen, sind tolle Menschen.“ Alle Menschen sollten sich um mehr Akzeptanz bemühen, religiöse wie kulturelle. "Es geht nicht um Anpassung", sagt er. „Wir akzeptieren die Gewohnheiten der Migranten und andersrum ist es auch so. So sollte es eigentlich sein.“ Eric ist 22 und arbeitet bei der Post.

"Früher kamen die Gastarbeiter, heute sind es die Flüchtlinge", sagt die Apothekerin Claudia Sparmann. Sie ist Böblingerin - schon immer. "Aber das ist etwas ganz anderes. Die Gastarbeiter hatten Arbeit, die Flüchtlinge haben oft keine Perspektive und viele Traumata zu bewältigen, wenn sie hier landen." Und gerade deshalb sei es notwendig, dass so viele Einheimische wie möglich Initiative zeigen und den Neuankömmlingen zur Seite stehen. Sie selbst hat einen Iraker mit in ihre Kirchengemeinde genommen. "Der hatte kein Problem mit unserem Kreuz und wenn es Zeit war für sein Gebet ist er eben kurz verschwunden", sagt sie.

Ein paar hundert Meter weiter geht eine ältere Dame vorbei. "Da ist noch eine Menge Platz bei uns", sagt sie. Die Reste ihrer Pizza vom Italiener nebenan trägt sie in einer Schachtel unterm Arm nach Hause. "Wir haben Daimler um die Ecke, wir sind Ausländer gewohnt. Die sollen so viele Flüchtlinge wie möglich hierher nach Böblingen schicken. Hier sind sie sicher", sagt die Frau und winkt zum Abschied.


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3 Kommentare verfügbar

  • Christian
    am 09.08.2015
    Antworten
    Die Vorfahren jedes Menschen sind irgendwann einmal von irgendwoher eingewandert. Wer als Einheimischer oder als Fremder anzusehen ist, ist eine Definitionsfrage.

    Inzwischen erreicht die Zuwanderung allerdings die Größenordnung der (in Deutschland allerdings zu niedrigen ) Geburtenrate und…
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