KONTEXT:Wochenzeitung
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"Ahuuuuu!"

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Glitzerhaarspangen und Feenstaub-Schminke funkeln um die Wette, die Jungs tragen Bob-der-Baumeister-Shirts und Superman-Sandalen, der Stuhlkreis ist zwar mehr ein Stuhl-Ei geworden, aber – es herrscht tierisch gute Laune an diesem Montagmorgen im städtischen Kindergarten im Max-Liebermann-Weg. Denn seit Samstag zeigen die Kinder in einer ganz besonderen Ausstellung, was sie die vergangenen Monate gemacht haben: Kulturelle Bildung konkret.

Wie macht ein Wolf? Vincent heult mit spitzen Lippen ein "Ahuuuuu!" an die Decke. Und eine Ente? "Quak, quak!", ruft Dimitri. "Miauuuu! So macht die Katze!", ruft Kübra. Und noch mal alle gemeinsam den Wolf: "Ahuuuuu! Ahuuuu!", bis die Kinder fast von ihren Stühlen kullern vor Lachen.

Es ist ein bunter und herzlicher Haufen kleiner Menschen aus allen Teilen der Welt, der da im Kreis sitzt. Efe, Kübra und Serenay aus der Türkei neben Dimitri und Dominik aus Russland, Luca aus Italien, Mariam aus dem Jemen, Vincent aus Deutschland, Rania, halb Ägypterin, halb Bosnierin, Miriam und Alaa kommen aus Syrien. Alaa ist sechs. Vor einem halben Jahr sind seine Eltern vor dem Krieg in ihrer Heimat geflohen. Jetzt leben sie auf der Sindelfinger Viehweide in einem Viertel, in dem die höchsten Häuser der Stadt stehen, mit Briefkastenbatterien so groß wie die Parkplätze von Einfamilienhäusern. Dort ist das, was man einen sozialen Brennpunkt nennt.

Mit dem Sindelfinger Maler Felix Sommer haben die "Großen" in den vergangenen Monaten zur Geschichte von "Peter und der Wolf" gearbeitet. Die Kinder haben Wölfe gemalt, eine Menge Enten und Gänse, sie haben Emotionen gezeichnet, die Peter während der Geschichte erlebt, und dessen Körpersprache nachgemalt. Seit Samstag vergangener Woche sind die Bilder in der Galerie der Stadt Sindelfingen zu sehen.

Rund 300 Kinder aus 17 Kitas stellen dort auf drei Stockwerken aus, was sie mit regionalen Malern, Holzkünstlern, Fotografen und Keramikern ein halbes Jahr lang erarbeitet haben. "Kunststoff" nennt sich das Projekt, organisiert wird es vom Sindelfinger Förderverein "Kids@Kita". Er bringt das zu den Kleinsten, was die Stadt nicht alleine finanzieren und die Erzieherinnen nicht alleine leisten können: Kunst, Kreativität, den "Blick von außen", eine Menge Spaß, all das eben, was sich unter dem staubigen Begriff der "Kulturellen Bildung" verbirgt (Kontext berichtete <link http: www.kontextwochenzeitung.de kultur multimedia-opernball-2973.html _blank>hier und <link http: www.kontextwochenzeitung.de kultur glueckliche-gesichter-2531.html _blank>hier).

Urknall an der Wand

Selbst gebastelte Raumanzüge mit alten CDs als Ohren hängen von der Decke der Galerie, fotografierte Lichtmalereien, Graffiti, selbst gebaute Zeitmaschinen. Eine der Gruppen hat sogar Feuerwerkskörper in Tonkugeln gesteckt und den Urknall simuliert. Was die Knaller übrig gelassen haben, hängt sauber nach Größen sortiert an der Wand.

Für jeden Raum und jedes Projekt haben Künstler und Erzieherinnen einen Begriff erarbeitet, der viel Lerninhalt verbirgt und sich gut künstlerisch umsetzen lässt. Vom Thema "Kreis" als Form über die Uhr zur Zeit, zur Welt, die sich dreht. Oder das Thema "Goldbergwerk": Gold ist wertvoll, was ist noch golden? Getreide! Das ernährt die Menschen und ist deshalb auch wertvoll. Was ist noch wertvoll? Unsere Geschichte! Und auch die ist wie das Gold vergraben unter vielen Schichten, aus denen die Erde zusammengesetzt ist.

Jedes Projekt beginnt mit einer solchen Erzählung. Sie ist der rote Faden, um den herum die Kinder ihre eigenen Geschichten weben können. Die Kinder vom Kindergarten Goldberg sind so ein halbes Jahr lang vom heute, dem Handy-Zeitalter, über Dampfmaschinen, höfische Damen, mutige Ritter bis zu den Mammutjägern und Dinosauriern gereist. Was ist Zukunft und was Vergangenheit und Gegenwart und wann ist was was? "Abstrakte Begriffe, die für Kinder nur schwer zu greifen sind", sagt Felix Sommer. Mit Bildern erarbeiten sie sich die Welt, sagt er, deshalb seien Zeichnungen so wichtig. "Ein Kind malt nicht, was es sieht, sondern nur, was es versteht."

Doris Hirsch ist Erzieherin der Kita am Goldberg und die zweite Vorsitzende des Vereins Kids@Kita. 2008 hat sie den Verein gemeinsam mit dem heute ersten Vorsitzenden Michael Strauß gegründet. Damals hatte jeder Kindergarten einen eigenen kleinen Förderverein, der Kaffeenachmittage organisierte oder mal einen Flohmarkt, oft gesponsert von der Bäckerei ums Eck oder kleinen Geschäften in der Nähe. 

Hirsch und Strauß begannen nach und nach all die kleinen Fördervereine zu einem großen Gesamtförderverein zusammenzuschließen, weil ein großer Verein mehr Kraft entwickelt und eine festere Basis hat. Auch finanziell. Denn plötzlich war die Sparkasse und die Volksbank mit im Boot, die Stadt und die Stadtwerke. 

"Irgendwann", sagt Doris Hirsch, "dachten wir, es wäre doch toll, wenn wir auch Kunstpädagogen hätten." Da sich die Stadt keine Künstler in den Kitas leisten kann, warfen die Mitglieder des nun größeren Fördervereins ihre Netzwerke an und organisierten sich selbst welche. Das Projekt "Kunststoff" startete mit dem Thema "Wasser". Wo kommt es her, was lebt darin, was erlebt es auf seinem Weg vom Bodensee bis in den Wasserhahn. Die regionalen Zeitungen füllten damit ihr Sommerloch, Otto Pannewitz, der Leiter der städtischen Galerie, stellte seine Räume für eine Ausstellung zur Verfügung.

Kunst schenkt Stolz und Bewunderung

Und plötzlich interessierten sich auch überregionale Firmen für die Kulturelle Bildung in den Sindelfinger Kitas: Ikea, die Kunstsammler von Ritter Sport und Bitzer, einem Kühlmachinen-Hersteller, dessen Chef seine ausgesuchte Privatsammlung moderner Kunst in einer ausrangierten Fabrikhalle ausstellt. Nach und nach wurde aus dem Verein ein festes Bindeglied zwischen der Stadt als Träger, der Wirtschaft als Geldgeber und den Künstlern als Kompetenz.

"Wir Erzieherinnen haben den Kindern lange Zeit nur die Welt aus unserer erwachsenen Sicht erklärt", sagt Doris Hirsch. Dabei sei es so wichtig, dass sie lernen, sie sich selbst zu erarbeiten. "Vereine, Ehrenamt, Engagement an sich gehen immer mehr zurück", sagt Hirsch. Mit Kids@Kita möchten sie und ihre Kollegen den Kindern Lust darauf machen, Verantwortung zu tragen für die eigene Umwelt, zu gestalten, sich für die Stadt, in der sie leben, einzusetzen. Das ist der Kern der Reggio-Pädagogik, der sich Sindelfingen verschrieben hat. Kindern Teilhabe zu ermöglichen und politisches Engagement beizubringen, sagt Hirsch. "Kunst erschafft einen freien Geist." Sie erschafft selbstbewusste, kreative kleine Menschen.

Es ist eine ganz besondere Ausstellung und die bestbesuchte der Sindelfinger Galerie im ganzen Jahr. Sie zeigt Kunst von kleinen Künstlern, so professionell präsentiert wie die der ganz Großen – gerahmt an weißen Wänden, hinter Glas oder zu Installationen arrangiert. Sie versammelt über acht Wochen kunstliebende Eltern und solche, die sich sonst niemals in ein Museum trauen würden. Sie schenkt Kindern Erfolgserlebnisse auf sehr hohem Niveau, Selbstvertrauen, Stolz, Bewunderung und einen exponierten Ort in der Stadt, der sonst nur für "echte" Künstler reserviert ist. Und: Kids@Kita bringt Kinder aus verschiedenen Stadtteilen und mit unterschiedlichen Lebensumständen unter den selben Bedingungen zusammen unter ein Dach.

Felix Sommer hat aus all den Wölfen und Gänsen der Max-Liebermann-Kita eine Filmanimation gemacht. Die Kinder haben sie vertont. Sein Thema war die Sprache. Das wichtigste in einer Kita mit fast hundert Prozent Migrationsanteil. Wie heißt ein Opa noch? Was ist eine Wäscheleine? Wie nennt man es, wenn Peter die Mundwinkel nach oben zieht? Und wie sprechen Tiere? "Ahuuuuu!!", jault der Stuhlkreis. "Na ja, manchmal macht ein Wolf auch 'grooooarrr!'", sagt Dimitri und steckt kichernd den Kopf zwischen die Knie.

"Was hat euch am besten gefallen in der Ausstellung", fragt die Erzieherin, als sich das Prusten und Wolfsgeheul langsam beruhigt. "Meine Ente!", "mein Vogel!", ruft es durcheinander. "Dass die anderen Kinder auch so tolle Dinge gebastelt haben", sagt Alaa, der kleine Syrer mit dem Spiderman auf dem T-Shirt und den knallgelben Schuhen in schon fast perfektem Deutsch.

Info:

Die große Kunst der kleinen Künstler ist noch bis zum 13. September in der <link http: www.galerie-sindelfingen.de>Galerie der Stadt Sindelfingen am Markplatz 1 zu sehen.


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2 Kommentare verfügbar

  • Ulrich Frank
    am 14.07.2015
    Antworten
    PS: Soundtrack auch super!
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