KONTEXT:Wochenzeitung
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You'll Never Walk Alone

You'll Never Walk Alone
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 Fotos: Joachim E. Röttgers 

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Datum:

20 000 Menschen zählte die Polizei, 40 000 die Veranstalter. Die Wahrheit liegt wohl irgendwo dazwischen und war schön anzusehen. Zu den Bildern der Demo stellen wir die starken Reden von Familienbrauereichef Gottfried Härle und vom evangelischen Landesbischof Jochen Cornelius-Bundschuh.

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"Zerreißen Sie den Plan"

Von Gottfried Härle

Der Allgäuer Bierbrauer sieht Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel als Lobbyisten der Großkonzerne.

Viele werden erstaunt und überrascht sein, dass ein Unternehmer bei einer Anti-CETA- und Anti-TTIP-Demonstration auf der Kundgebungsbühne steht und das Wort ergreift. Also jemand, der eigentlich von diesen Abkommen profitieren sollte – so jedenfalls die ständige Behauptung der TTIP- und CETA-Befürworter aus Politik und Wirtschaft. Gerade die angeblich großen Vorteile für kleine und mittlere Unternehmen werden immer wieder ins Feld geführt, wenn es darum geht, diese Abkommen zu verteidigen.

Doch stimmt diese Behauptung wirklich? Oder ist hier mehr Propaganda als Wahrheitsgehalt im Spiel?

Schauen wir ganz nüchtern auf die Zahlen: Laut den neuesten Statistiken der Europäischen Kommission gibt es in der EU rund 21 Millionen kleine und mittlere Unternehmen (KMU). Davon exportieren gerade mal 150 000 Betriebe in die USA. Das sind deutlich weniger als ein Prozent. Und mit Kanada machen noch erheblich weniger europäische Klein- und Mittelbetriebe Geschäfte. Also profitieren maximal 150 000 sogenannte KMUs möglicherweise von den Freihandelsabkommen – unter optimalen Bedingungen. Und was passiert mit den restlichen 20,8 Millionen Unternehmen in Europa? Manche von ihnen würden wohl weder positive noch negative Auswirkungen dieser Abkommen verspüren. Aber sehr viele Unternehmen hätten deutliche Nachteile zu befürchten.

So zum Beispiel viele Betriebe in der Lebensmittelbranche, die seit vielen Jahren ganz gezielt auf gentechnikfreie Rohstoffe und Produkte setzen. Würden CETA und TTIP Wirklichkeit, dann wäre dies in Zukunft wesentlich schwieriger. Denn es ist kein Geheimnis, dass insbesondere die Agrarlobby in den USA und Kanada eine Lockerung der Kennzeichnungspflichten für gentechnisch veränderte Produkte erreichen will, um diese auf dem europäischen Markt zu platzieren. Und in den aktuellen CETA-Texten ist festgeschrieben, dass Kanada und die EU das Ziel verfolgen, Handelshemmnisse im Bereich biotechnologisch veränderte Produkte zu minimieren. Das heißt auf gut Deutsch: Hürden für den Export von Genprodukten und -rohstoffen abzubauen. Damit ist zu befürchten, dass genmanipulierte Lebensmittel in Europa zunehmend Verbreitung finden und dass es damit immer schwieriger wird, gentechnikfreie Rohstoffe zu beschaffen und zu hochwertigen Produkten zu verarbeiten.

Ebenso im Entwurf für das CETA-Abkommen findet sich eine weitere Passage, die bei vielen Herstellern traditioneller Lebensmittel in Europa die Alarmglocken läuten lässt: der Schutz der geschützten Herkunftsbezeichnungen für traditionelle regionale Produkte soll verwässert oder gar aufgehoben werden. Betroffen ist dabei auch meine Branche – und zwar die Bezeichnung "bayerisches Bier". Dieses darf bisher nur von bayerischen Brauereien hergestellt werden. Tritt CETA nun in Kraft, dürfen Brauereien in Kanada zwar nicht "bayrisches Bier" auf den Markt bringen, sehr wohl aber "bavarian beer" oder "bière bavaroise" – also unter der englischen oder französischen Bezeichnung. So kann in Zukunft "bavarian beer" in Montreal gebraut und in München unter diesem Namen verkauft werden. Wie bezeichnet man eine solche Regelung? Ganz einfach als Etikettenschwindel. Zulasten der Verbraucher und zulasten der heimischen Brauereien, mit allen damit verbundenen wirtschaftlichen Nachteilen.

Viele Unternehmen, die sich nachhaltigem und verantwortungsbewusstem Wirtschaften verschrieben haben, werden durch CETA und TTIP einem erhöhten Wettbewerbsdruck ausgesetzt. Das gilt für solche in der Biobranche genauso wie für Anbieter öffentlicher Dienstleistungen, für Bäckereien und für Molkereien, und vor allem auch für viele Betriebe in der Landwirtschaft. Sie alle haben ihr Geschäftsmodell an hohen Sozial- und Umweltstandards ausgerichtet und werden durch die amerikanische und kanadische Konkurrenz bedroht.

Einer der Kernpunkte des CETA-Abkommens ist der sogenannte Investitionsschutz, mit dem Unternehmen und Investoren Schadenersatzforderungen gegenüber Staaten außerhalb der regulären Gerichtsbarkeit geltend machen können. Dieses Instrument ist nicht nur aus rechtsstaatlichen Gründen äußerst fragwürdig. Es führt zugleich zu einer massiven Diskriminierung von kleineren und mittleren Unternehmen, die nicht im Export nach Kanada tätig sind. Diese haben nicht die Möglichkeit, gegen ihre eigenen Staaten auf Schadenersatz zu klagen, wenn sie sich durch Gesetze benachteiligt fühlen. Und sie haben auch nicht die finanziellen Reserven, um solche Schiedsverfahren anzustrengen. Immerhin liegen die durchschnittlichen Verfahrenskosten bei etwa acht Millionen Euro.

Doch leider will unser Wirtschaftsminister davon nichts hören. Statt die Befürchtungen und Sorgen von Tausenden kleiner und mittlerer Betriebe ernst zu nehmen, beugt sich Sigmar Gabriel den Interessen von Großkonzernen und deren Lobbyverbänden.

Wenn CETA – wie vielfach behauptet wird – die Blaupause für TTIP abgeben soll, dann kann nur gelten: Wenn schon der Plan, also die Blaupause, in die falsche Richtung führt, dann kann auf dessen Grundlage kein stabiles und dauerhaftes Vertragsgebäude errichtet werden. Also kann nur gelten, werte Politiker in Stuttgart, Berlin und Brüssel: Zerreißen Sie diesen Plan und setzen Sie sich ein für eine gerechte, nachhaltige und zukunftsfähige Weltwirtschaftsordnung.

 

Gottfried Härle führt die Leutkircher Familienbrauerei Clemens Härle seit 30 Jahren. Er sitzt auch im Vorstand von <link http: www.unternehmensgruen.org external-link-new-window>UnternehmensGrün.

 

"Die Welt gehört nicht uns"

Von Jochen Cornelius-Bundschuh

Die Kirchen im Land lehnen CETA und TTIP ab – solange sie kein menschenwürdiges Leben für alle bringen. Sagt der evangelische Bischof.

Maude Barlow hat es gerade noch einmal gesagt: Das bisherige Handelssystem nützt wenigen und schadet vielen Menschen und der Natur. Wir brauchen mehr Mut für Gerechtigkeit. Wir brauchen einen Handel, der "der Menschheit dient, beginnend mit den Ärmsten und Schwächsten" (Papst Franziskus).

Es geht uns nicht in erster Linie um ein Nein. Unsere Vision geht weiter: Wir wollen Globalisierung gerechter gestalten! Sie muss eine "bessere gemeinsame Zukunft" für alle Menschen "ermöglichen und die Rechte der heutigen wie auch kommender Generationen beachten" (Empfehlung der EU- und US-amerikanischen Bischöfe zu den Verhandlungen über TTIP).

Ich bin von einigen Freunden gefragt worden: Schwimmt ihr jetzt mit dem Widerstand gegen CETA und TTIP auch mit auf der Welle gegen die Globalisierung und gegen Europa? Setzt ihr jetzt auch auf Abgrenzung oder auf den Rückzug in nationale Sicherheit? Nein, das wollen wir nicht, und das unterscheidet uns klar von allen falschen Freundinnen und Freunden. Wir leben gemeinsam in einer Welt. Wir wollen diese eine Welt gerechter und friedlicher und nachhaltiger gestalten. Wir sind nicht gegen Europa, sondern für ein offenes und menschenfreundliches Europa. Für ein Europa, das das globale Miteinander positiv verändert: ein Europa, das sich für die Menschenrechte engagiert und für mehr Gerechtigkeit weltweit.

Wir treten gemeinsam für einen Handel ein, der fair, nachhaltig und partnerschaftlich ist. Zukunftsfähig ist ein Handelsabkommen nur dann, wenn es "zum Abbau von Ungleichheiten und Ungerechtigkeit beiträgt" (Empfehlung der EU- und US-amerikanischen Bischöfe zu den Verhandlungen über TTIP). Es muss helfen, die Schere zwischen armen und reichen Ländern zu schließen.

Weder CETA noch TTIP tun das. Vielmehr drohen beide den Abstand zwischen dem reichen Norden und dem armen Süden noch zu vergrößern und die Armut in den ärmsten Ländern zu verschärfen. Beide Abkommen verfolgen eine exklusive Strategie. Ihr Ziel ist es, den ökonomischen Vorsprung der führenden Industrienationen weiter auszubauen. CETA und TTIP werden den Graben weiter vertiefen: den Graben zwischen denen, die sich fast alles leisten können, und jenen Menschen, die täglich um ihr Überleben kämpfen.

Das gilt vor allem für jene, die auf der Südhalbkugel von der Landwirtschaft und ihren Produkten abhängig sind. Der bei TTIP geplante Zollabbau nützt der industriellen Landwirtschaft im Norden. Die EU und die USA werden nach dem Abkommen ihre landwirtschaftlichen Produkte noch kostengünstiger produzieren und exportieren. Sie werden noch mehr in die Entwicklungsländer exportieren. Die lokalen Produzenten im globalen Süden werden da nicht mithalten können, zumal bisherige Präferenzen für diese Länder an Bedeutung verlieren werden. Wir befürchten: Die Absatzchancen für Produkte aus Ländern des Südens auf den europäischen Märkten werden sinken.

An jede Bestimmung der Abkommen stellen wir die Frage: Verbessert sie den Marktzugang für die am wenigsten entwickelten Länder? In ihren Verträgen haben sich alle EU-Länder verpflichtet, ihre Handelspolitik an überprüfbaren entwicklungspolitischen und menschenrechtlichen Standards auszurichten. Also noch einmal: Fördern CETA und TTIP ein menschenwürdiges Leben für alle Menschen? Verringern diese Handelsabkommen die Armut und die Ungleichheit zwischen Nord und Süd? Weder bei CETA noch bei TTIP hat eine solche Prüfung stattgefunden. Bevor beide Abkommen diese Fragen nicht klar positiv beantworten, lehnen wir sie ab!

Noch nie gab es so viele und brutale kriegerische Auseinandersetzungen auf dieser Erde wie zurzeit; noch nie waren so viele Menschen auf der Flucht. In fast allen Konflikten spielen soziale Ursachen eine oder sogar die entscheidende Rolle. Wir fordern als Kirchen und Entwicklungshilfeorganisationen, dass sich gerade das wirtschaftliche Handeln an Gerechtigkeit und Nächstenliebe orientiert. Nur wenn es zu einer nachhaltigen Entwicklung für die Armen kommt; nur wenn die benachteiligten Menschen und Staaten mehr Teilhaberechte erhalten, bekommt der Frieden auf Erden eine Chance.

Das ist unsere Vision einer zukunftsfähigen globalen Handelspolitik: dass sie Gerechtigkeit und Menschenwürde für alle anstrebt; dass sie den Schwachen eine neue, bessere Lebensperspektive eröffnet; dass sie dazu beiträgt, die Schöpfung Gottes für alle Menschen zu bewahren! Alles andere ist nicht enkeltauglich! Das haben wir doch in den letzten Jahren gelernt: Wenn Menschen für ihre Kinder und Enkel keine Zukunftsperspektive in ihrem Land mehr sehen, brechen sie auf, um ein besseres Leben zu suchen, selbst wenn es noch so riskant oder teuer ist.

Wir leben in einer Welt, die nicht uns gehört! Sie ist uns gemeinsam anvertraut, damit wir sie gemeinsam bewahren, für alle Menschen auf dieser Erde, für unsere Kinder und Enkelkinder und für die Kinder und Enkelkinder im globalen Süden, für die Vielfalt des Lebens auf dieser Erde. Wir sollen und können sie so gestalten, dass alle genug haben!

 

Jochen Cornelius-Bundschuh ist Bischof der evangelischen Landeskirche Baden. Er sprach im Namen der vier evangelischen und katholischen Kirchen in Baden und Württemberg.

 

Info:

Wer alle Reden der Stuttgarter Demo gegen TTIP und CETA nachhören will, findet sie <link https: www.youtube.com external-link-new-window>hier auf Youtube.


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10 Kommentare verfügbar

  • Hartmut Hendrich
    am 24.09.2016
    Antworten
    Der ironisch amüsante Beitrag des Ernst Hallmackeneder hat einen durchaus ernsten des Nachdenkens werten Kern. Ich weiß nicht, was der Forist Fritz hier verteidigen oder richtig stellen möchte, denn schon der Begriff „Export“-Bier bezeichnete nicht wie hierzulande ein Allerweltsbier, sondern deutete…
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