Das frühere Restaurant Botenfischer liegt etwas versteckt in einer Hofeinfahrt an der Nagolder Straße in Herrenberg. Momentan herrscht dort Baustelle, sogar eine doppelte: Vom Kneipenbetrieb zeugen im ersten Raum links noch die Wirtshaustische und -stühle und der lange Tresen. Rechts, im größeren Saal, steht die Stuttgarter Innenstadt auf dem Boden. Der Hauptbahnhof ist aufgebockt, mitsamt Gleisvorfeld – das berühmte Tunnelgebirge –, und teilweise auch schon verkabelt. Kartons mit Kleinteilen stehen herum. Ein Tisch aus dem ehemaligen Restaurant erleichtert das Sortieren.
Rainer Braun ist dabei, die Modelleisenbahnanlage von Wolfgang Frey wiederaufzubauen, die er im vergangenen Jahr erworben hat. Über 30 Jahre hinweg hatte Frey den Stuttgarter Hauptbahnhof, Teile der Innenstadt, das Gleisvorfeld bis zum Nordbahnhof, bis zum Neckar und bis nach Bad Cannstatt sowie den Westbahnhof in unermüdlicher Kleinarbeit im Maßstab 1:160 originalgetreu nachgebaut. 780 Quadratmeter groß war die Anlage. Bis zu 2500 Züge fuhren täglich über die 540 Weichen im Stuttgarter Modell-Hauptbahnhof ein und aus. 2012 verstarb der Modellbauer im Alter von nur 52 Jahren. Aber seine kleine Stadt lebt weiter.
Mysterium für echte Modellbaufans
Und das sogar im Originalzustand vergangener Zeiten: Häuser, die in der Realität links und rechts der Bahnlinie abgerissen wurden, bleiben in Freys Anlage stehen. Unterhalb der Heilbronner Straße sind nicht LBBW, Stadtbibliothek und Milaneo zu sehen, sondern der alte Güterbahnhof mit dem Schenker-Terminal zum Umladen auf LKW. Den hölzernen Fußgängersteg über den Neckar und den Elefantensteg gibt es noch, das Bahnpostamt bleibt in Betrieb, am Inneren Nordbahnhof fahren weiterhin Züge, die Bahndirektion ist noch intakt.
Wolfgang Frey arbeitete auch im wirklichen Leben im Stellwerk des Stuttgarter Hauptbahnhofs. Er hatte aber nicht nur zum Geldverdienen dort angeheuert. Was ihn eigentlich trieb, war die Frage, wie das Stellwerk funktioniert. Im Maßstab eins zu eins baute er die acht Meter lange Stelltafel nach, mitsamt den acht Pulten, um damit die unzähligen Weichen und Signale seiner Spur-N-Modellbahnanlage zu steuern. Dabei war Freys Abbild so genau, dass in der Vergangenheit an seinem Stellwerk sogar Fahrdienstleiter der echten Bahn ausgebildet wurden.
Unter Modelleisenbahnfreunden aber war die Anlage jahrzehntelang ein Mysterium. Nur wenige Menschen hatten sie je ganz gesehen. Selbst dem ehemalige Bahnvorsteher Egon Hopfenzitz war damals nur bekannt, dass Modellbahnfreunde bei der Deutschen Bahn dem Bastler und seinem Werk einen Raum an der S-Bahn-Station Schwabstraße zur Verfügung gestellt hatten. Nur wenige Modellbahn-Fans waren bisher dort gewesen. Unter ihnen Verkehrsminister Winfried Hermann und Ulrich Goll, der FDP-Landtagsabgeordnete.
Auch Klaus Gebhard, der Parkschützer, interessierte sich für die Anlage: Eine erstaunliche Koalition von Modelleisenbahnfans, die in Bezug auf den echten Bahnhof konträre Ansichten vertraten, fand sich in der Sorge um Freys Erbe vereint. Das Problem war: Der Raum in der S-Bahn-Station war nicht öffentlich zugänglich. Es fehlten Fluchtwege, es fehlte überhaupt Platz für mehr als eine Handvoll Besucher. Kurz nach Freys Tod im Jahr 2012 schlug Ulrich Goll vor, die Anlage im Wilhelmspalais auszustellen und so öffentlich zugänglich zu machen.
Wolfgang Frey hat einfach immer weiter gebaut
Doch die Anlage aus dem Raum herauszuholen, schien unmöglich. Zwar hatte Frey 2010 im SWR-Fernsehprogramm "Eisenbahnromantik" zu Moderator Hagen von Ortloff gesagt, er wolle noch 20 Jahre weiter bauen. Aber die Anlage stieß damals schon überall an die Wände. Frey hatte einfach immer weiter gebaut, ohne sich über die Zukunft Gedanken zu machen.
Das Wilhelmspalais sollte sich als zu klein erweisen. Nun hat Rainer Braun Nägel mit Köpfen gemacht. Der Herrenberger, 16 Jahre lang Angestellter bei IBM und seit 2002 selbständiger Unternehmensberater, ist wie Goll und Gebhard Modelleisenbahnfan. Sein Vater und sein Großvater waren Eisenbahner. Als Kind ging er mit ihnen auf Wochenendausflügen zum Essen in die Stellwerkskantine. Bereits 2011 hatte er per E-Mail mit Wolfgang Frey Kontakt aufgenommen, wollte dessen Werk der Öffentlichkeit zugänglich machen. Doch Frey beschied ihm, die Anlage auszubauen, sei völlig unmöglich.
Vier Jahre später besichtigte Braun das Miniatur-Wunderland in der Hamburger Speicherstadt, mit rund 1500 Quadratmetern die größte Modelleisenbahnanlage der Welt. Der Besuch bestärkte ihn erst recht in seiner Ansicht, Freys Anlage sei als originalgetreues Abbild der Wirklichkeit einzigartig. Er nahm mit Freys Witwe Kontakt auf. Im März 2016 bekam er die Anlage erstmals zu Gesicht. Am selben Tag hatte seine Schwester Geburtstag, erzählt er. Die betrieb mit ihrem Mann das besagte Restaurant Botenfischer, wollte aber zum Jahresende aufhören. Braun begann zu rechnen: War der Raum groß genug?
Der Modelleisenbahnclub Herrenberg packt mit an
"Es war höchste Zeit", meint Braun heute. Vier Jahre nach Freys Tod befand sich nicht mehr alles im besten Zustand. Frey hatte verwendet, was ihm gerade zur Hand war. Zuglaufschilder, die früher in die Eisenbahnwagen eingehängt wurden, um den Start- und Zielbahnhof und die Zwischenstationen anzuzeigen, waren sein bevorzugtes Material. Er bearbeitete sie mit dem Skalpell, um Gleise darauf zu verlegen oder Häuser daraus zu bauen. Denn von der Stuttgarter Innenstadt gab es keine fertigen Modellbausätze.
Die größte Schwierigkeit war, die Anlage aus dem Raum in der Schwabstraße auszubauen. Brauns Trick: Er packte den Modelleisenbahnclub Herrenberg bei seiner Ehre. Unter größter Sorgfalt sägten Braun und die Clubmitglieder die Anlage in handliche Teile, die durch die Türe passten. Vorher montierten sie Kleinteile wie Masten, Signale, Bäume oder Gepäckwagen ab und verpackten sie getrennt, das alles in hunderten Stunden liebevoller Kleinarbeit.
Auch die originalgroße Stelltafel hat Braun zerlegt und nach Herrenberg gebracht. Ursprünglich hielt er dies selbst für unmöglich. <link http: www.stellwerk-s.de external-link-new-window>Stellwerk S nennt Braun nun sein Projekt, im Herbst 2017 wird es eine Teileröffnung geben. Braun hat außer dem Lokal und der Anlage auch das rollende Material gekauft: Ungefähr 250 Lokomotiven und 1000 Waggons. Eine einzige Spur-N-Lok kann bereits mehrere hundert Euro kosten. Aber Braun war "infiziert", wie er selbst sagt.
Im ehemaligen Botenfischer in Herrenberg ist es ein wenig, als würde die Vergangenheit auferstehen. Stück für Stück wird dort ein lang vergangenes Bild wiederaufgebaut. Der Hauptbahnhof hat noch seinen Nord- und seinen Südflügel. Und auf dem Gleisvorfeld sollen bald wieder Züge rollen.
3 Kommentare verfügbar
Michael Heller, Stgt.
am 09.07.2017