Während Mauern geschlossene Flächen bilden, sind Zäune blickdurchlässig – und mitunter, wie einst der Limes, auch durchbrochene, heterogene Gebilde, die streckenweise ins Mauernhafte wachsen, streckenweise eher symbolpolitischen Charakter haben. Im besten Fall kann die poröse Zaunarchitektur die Hoffnung am Leben halten, dass eine Grenze nicht absolut ist, dass sie verhandelbar bleibt. Und wer nur klein genug ist, schlüpft schon mal zwischen den Stäben hindurch.
Durch Zäune hindurch sind grundsätzlich Dialoge möglich, bleibt das abgegrenzte Andere zumindest als Bild ein Teil der eigenen Lebensrealität. Auch Berührungen sind, je nach Bauweise, nicht ausgeschlossen. Da sich im April dieses Jahres vom Liebesvirus Infizierte durch den Grenzzaun zwischen Konstanz und Kreuzlingen hindurch umarmten, gar tröpfchentauschend küssten, wurde flugs ein zweiter Zaun errichtet. Der virushemmende Zwischenstreifen erinnerte an das klassische Niemandsland zwischen zwei Hohheitsgebieten, wie es vor nicht allzu langer Zeit in Europa noch Alltag war. In ihrer Porösität und Transparenz können sich Zäune aber auch umso grausamer erweisen – dass das Gefangenenlager von Guantanamo Bay von Zäunen umgeben ist, hinter denen die Freiheit nicht nur liegt, sondern auch sichtbar ist, dürfte die Internierung für manche Insassen noch härter machen.
Welt ohne Zäune? Auch nicht besser
So bleibt am Ende die Einsicht, dass eine Welt ohne Zäune auch keine bessere wäre – schon gar nicht für die Blattläuse. Aber auch mit Zäunen ist sie nicht besser. Es bleibt alles vertrackt, es bleibt alles in der Schwebe. Ein Zaun kann Proteststätte und Heiligtum sein, er kann die Schwachen vor den Starken schützen, und er kann den Alltag ein wenig vereinfachen, müssen Grenzen doch nicht unablässig neu gezogen werden. Überall dort aber, wo Zäune zu Mauern werden, sind Skepsis und Widerspruch angesagt.
Die Frage ist somit nicht, ob Zaun ja oder nein, Zaun gut oder böse, Welt ohne Grenzen oder Welt mit Grenzen. Die Frage ist, ob es uns gelingt, ein zaunkönighaftes Verhältnis zu Zäunen zu entwickeln. In Grimms Märchen "Der Zaunkönig" gelingt es einem kleinen Vogel, beim Wettbewerb um den Job des Vogelkönigs alle anderen Vögel auszutricksen. Weil ihnen der Winzling an List und Raffinesse überlegen ist, zieht er den Hass seiner Artgenossen auf sich. Fortan muss er sich verstecken: "Er schlüpft in den Zäunen herum, und wenn er ganz sicher ist, ruft er wohl zuweilen: 'König bün ick!'." Der Zaun als Versteck für den verletzlichen König der Raffinierten – das ist eine weitere unerwartete Wendung in der Zaungeschichte. Wer das Märchen aufmerksam liest, kommt nicht umhin, das eine oder andere versteckspendende Rankgewächs entlang seiner Zäune zu pflanzen.
0 Kommentare verfügbar
Schreiben Sie den ersten Kommentar!