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"Make Metal small again!"

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Brachiale Klänge frei Haus: Der Heavy-Metal-Lieferservice Malmzeit macht's möglich. Vor 15 Jahren von den Stuttgarter Musikern Jörg Scheller und Jochen Neuffer gegründet, hat er schon jede Menge Vernissagen, Privatpartys und Firmenfeiern beschallt. Und beinahe auch Angela Merkel.

Diesen Herren würde man bedenkenlos eine Versicherung abkaufen. Dezent gekleidet strahlen beide höchste Seriosität aus, mit hoher Stirn und gewinnendem Lächeln der eine, mit dunkler Brille unterm Seitenscheitel etwas zurückhaltender wirkend der andere, vor ihnen zwei Tassen Tee. Irritierend nur die Instrumente, die sie auf dem Schoß haben: ein E-Bass und eine E-Gitarre.

Voilà: Das Duo Malmzeit. Der erste und mutmaßlich immer noch <link http: malmzeit.de _blank external-link>einzige Heavy-Metal-Lieferservice Deutschlands, nein, der ganzen Welt. Seit 2003 beliefern Jochen Neuffer und Jörg Scheller Privatkunden ebenso wie große Firmen, auch hochrangige Politiker wurden schon beschallt. Im Lieferumfang enthalten sind rund 20 Songs – ausschließlich eigene, kein Coverprogramm – der Standardsatz pro Auftritt beträgt 666,66 Euro. Der sei aber "nicht in Stahl gemeißelt", sondern Verhandlungssache, sagt Scheller, kleine Kunden kommen auch günstiger weg. Nun feiern die beiden den 15. Geburtstag ihres Projekts und beliefern dafür am kommenden Freitag das Theater Rampe in Stuttgart.

Zu Beginn war das Ganze laut Scheller "eine Witzidee", wenngleich mitnichten eine Schnapsidee. Denn Alkohol war keiner im Spiel, so lautet zumindest die bandinterne Mythologie. Bei einem Konzert im Jahr 2003 hatten sich die beiden Stuttgarter kennengelernt, kamen an der Bar "über dem einen oder anderen Glas Apfelschorle" ihren ähnlichen musikalischen Wurzeln auf die Spur: In ihrer Jugend hatten beide in Heavy-Metal-Bands gespielt, waren dann aber im Laufe der Zeit dem ganz harten Sound abhold geworden. Doch nun, "nach Jahren der Abstinenz", hatten sie wieder das Bedürfnis, Metal zu spielen. Allerdings nicht ganz ohne ironische Brechung.

Metal: zutiefst bürgerlich

Gegründet wurde Malmzeit – der Name ist einem erdgeschichtlichen Abschnitt innerhalb des Jura entlehnt – als "bequemes Duo": Scheller alias Earl Grey zupft den Bass und singt (also röchelt oder grunzt), während Neuffer alias Sumatra Bop Gitarre spielt, für die Beats sorgte anfangs ein Drumcomputer. Durchaus klassisch im Genresinne mag noch die musikalische Seite sein – zwischen Thrash und Death Metal, gerne auch eine Prise Power Metal – ansonsten frönen die beiden einem munteren Spiel mit Metal-Klischees.

Erst kurz nach der Bandgründung sei die Idee für den Lieferservice entstanden, so Scheller, die Grundüberlegung dabei: "Wir wollen Metal dahin bringen, wo er hingehört: Ins Wohnzimmer." Ins Wohnzimmer? Aber ja, der typische Metal-Hörer sei ja eher bürgerlich und konservativ, sagt Scheller. Was der promovierte Kunstwissenschaftler (seine Doktorarbeit schrieb er über <link http: www.steiner-verlag.de titel _blank external-link>Arnold Schwarzenegger aus kunsthistorischer Sicht) auch wort- und geistreich zu erklären weiß.

Heavy Metal, Ende der 1970er Jahre in Großbritannien entstanden (wobei die Musikhistoriker die Ursprünge freilich früher verorten), sei von Anfang an eine Art Alternative zum etwa zeitgleich populär gewordenen Punk gewesen. "Während es bei Punk sehr darum ging, raus auf die Straße zu gehen, agitatorisch und politisch zu sein, gegen das Establishment, war Metal nie mit einer aktivistischen Bewegung verbunden und eher eskapistisch", erzählt Scheller. Die Texte handeln entsprechend von Parallelwelten, von Fantasiewelten mit Drachen und ähnlichem. Darüber hinaus habe Metal, auch dies sehr bürgerlich, viel mit handwerklichem Arbeitsethos zu tun. "Du musst viel üben, um Metal richtig spielen zu können", sagt Scheller, ganz im Gegensatz zum Punk, wo drei Akkorde reichten und das perfekte Beherrschen des Instruments eher verpönt sei.

Bei einer Tasse Tee übers Wetter singen

Den bürgerlichen Tugenden stellen Neuffer und Scheller nun auch eine bürgerliche Vortragsform anheim: Malmzeit treten stets sitzend und in gesitteter Kleidung auf, zum Auftritt getrunken wird "eine gute Tasse Tee". Ein höchst folgerichtiges kammermusikalisches Metal-Konzept, aber in der traditionellen, nach außen auf viel martialisches Brimborium setzenden Metal-Welt "das Rebellischste, was man sich vorstellen kann", sagt Scheller. Auch die Texte der vorgetragenen Songs handeln nicht von den "ausgelutschten Metal-Themen Tod und Sex" , sondern "von dem, was wirklich zählt: dem Wetter".

Von Anfang an drehten sich sämtliche Malmzeit-Songs um meteorologische Sujets. Da geht es etwa um die finsteren Machenschaften des früheren ZDF-Wetterexperten Uwe Wesp, der mittels Voodoo-Zauber Stürme erzeugt, um diese später vorhersagen zu können, um Wetterpropheten im schweizerischen Muotathal oder auch um den Klimawandel (Scheller: "Klima ist eigentlich verlängertes Wetter"). So wird im Song "Skies of the Extreme" die Frage aufgeworfen, "ob die Klimaerwärmung nicht auch zu einem erotischeren Miteinander führen könnte", so Scheller – peripher kann es also ausnahmsweise doch auch mal um Sex gehen.

Seit ihrer Gründung haben Malmzeit etwa 150 Auftritte geliefert, etwa ein Drittel davon für Privatkunden, "in Wohnungen oder Garagen". Daneben viele Buchungen von Institutionen oder Firmen, das Spektrum reicht von Mitarbeiterfeiern bis zu großen Unternehmensjubiläen, von Vernissagen in Stuttgarter Galerien bis zum Gig im Palazzo Trevisan in Venedig zur Architekturbiennale 2014. Dabei kam ein bunter Strauß an Resonanzerfahrungen zusammen.

Pogo auf der Silberhochzeit, Skepsis im Schloss Donzdorf

"Letztes Jahr hat uns ein Anwalt aus Dresden, der uns übers Internet gefunden hat, für seinen 60. Geburtstag gebucht", erzählt Scheller. "Gefeiert wurde in einem hochpreisigen Hotel, es wurden Häppchen gereicht, vor uns spielte eine Jazzband, die Gäste waren alle sehr gut situiert." Malmzeits Beitrag sei eher ambivalent aufgenommen worden, "kurz nach unserem Auftritt stand die Ehe des Anwalts auf der Kippe", erinnert sich Scheller. Doch nach allem, was er wisse, sei das Paar zusammengeblieben. Eher höfliche Skepsis rief wohl auch eine Darbietung vor 60- bis 70-jährigen Gästen 2015 im Schloss Donzdorf hervor, während ein Auftritt vor teils etwa gleichaltrigem Publikum anlässlich einer silbernen Hochzeit in einer Stuttgarter Garage vor Kurzem der Renner gewesen sei. "Viele Gäste haben Pogo getanzt, gerade die Älteren."

Dabei wird das Publikum von Malmzeit stets behutsam an den brachialen Sound herangeführt. Allen Songs gehen längere Ansagen voraus, die auch Metal-Banausen zum Schmunzeln bringen können. "Das ist effizienzsteigernd", erläutert Scheller, "du musst ja lange nicht so viel komponieren, wenn du die Ansagen ausdehnst. Und wir komponieren sehr langsam." Bei puristischen Metal-Fans komme dies freilich nicht besonders gut an, "aber auch da zeigt sich wieder unser rebellischer Aspekt".

Schade: Merkels Horizonterweiterung vereitelt

Zu den Höhepunkten der Malmzeit'schen Liefergeschichte zählte bislang zweifellos ein Auftritt bei der Stallwächterparty der Landesvertretung Baden-Württemberg am 6. Juli 2017 in Berlin. "Ein Ministerialdirektor a. D. hatte einen Beitrag über uns im Radio gehört und uns daraufhin gebucht, obwohl er eigentlich nichts mit Metal am Hut hatte", so Scheller. Ministerpräsident Winfried Kretschmann war zugegen, außerdem der ehemalige Grünen-Vorsitzende Jürgen Trittin, "und Angela Merkel hätte auch kommen sollen". Doch die Bundeskanzlerin, die gerade beim G-20-Gipfel in Hamburg weilte, konnte nicht weg, weil die Krawalle in der Stadt die Mobilität der Gipfelbesucher stark einschränkten. "Seitdem sind wir sehr böse auf den Schwarzen Block", sagt Scheller. "G20 hat uns die Bespaßung der Kanzlerin vermasselt" klagt er, habe verhindert, dass sie ihren Horizont erweitert. Denn diese Erfahrung hätte einiges geändert, davon geht Scheller aus: "Die Koalitionsverhandlungen wären wahrscheinlich zu Kollisionsverhandlungen geworden."

Mag Malmzeits Einfluss auf die bundesdeutsche Politik auch einstweilen schmal geblieben sein, die beiden Musiker sehen sich trotzdem als Trendsetter. "Wir veröffentlichen keine Tonträger, wir spielen nur live", sagt Scheller, "damit haben wir diesen ganzen Performance-Trend in der aktuellen Kunst vorweggenommen, die Betonung des einmaligen Erlebens gegenüber dem erratischen Kunstwerk, das im Museum herumsteht und verstaubt." Überdies hätten sie sich in ihren Texten früher als viele andere mit dem Klima befasst – und tragen dem drohenden Klimawandel auch durch die Bandstruktur Rechnung: Ohne große Trucks, Verstärker, Lichtorgien und spritfressende Drummer sei Malmzeit "die einzige annähernd CO2-neutrale Metal-Band". Sustainable Metal, sozusagen. Oder, wie auf der Band-Homepage gefordert wird: "Make Metal small again!"

Visionär: Sustainable Metal gegen Klimawandel

Malmzeits Angebot hat sich in den vergangenen 15 Jahren zwar nur minimal verändert – der Drumcomputer wich einem Smartphone und man bezeichnet sich mittlerweile als "Heavy- Me(n)tal-Lieferservice" (unter "mental" versteht der Anglophone auch "verrückt") –, die Lebensumstände der beiden Musiker aber schon. Scheller war 2003 noch Student in Stuttgart, inzwischen ist der Enddreißiger Dozent für Kunstgeschichte und Kunsttheorie an der Züricher Hochschule der Künste (ZhdK) und lebt in der Schweizer Bankenstadt, Mittvierziger Neuffer wiederum ist vom Softwareentwickler zum Ingenieur beim Stuttgarter Softwarehersteller Vector geworden.

Berufstätigkeit und räumliche Distanz lassen nicht mehr so viele Auftritte wie früher zu, doch ab und an sorgen auch die Jobs für ungewohnte Synergien. So ermöglichte die Kooperation der ZHdK mit dem Festival "Public Space Days" in der moldawischen Hauptstadt Chisinau, dass Malmzeit im Mai dieses Jahres einen Auftritt in dem osteuropäischen Land hatten. Sie spielten im Freien, nahe einer Durchgangsstraße, mehrere hundert Leute waren da, größtenteils russischsprachiges Publikum. Vor allem den Älteren habe es sehr behagt, das Bier sei in Strömen geflossen. Irgendwann sei eine Gruppe Roma dazu gekommen, habe direkt vor der Bühne wild angefangen zu tanzen, worauf sich bald auch die wohlerzogenen Schweizer Studenten dazu gesellten, zu einem "lustigen, internationalen Moshpit", erinnert sich Scheller. Und ergänzt: "Das ist das Schöne an Malmzeit. Wir kommen immer wieder an Orte, an die man als Heavy-Metal-Band sonst nicht kommt."


Info:

Malmzeit spielen am Freitag, dem 12. Oktober um 22 Uhr im Theater Rampe in Stuttgart-Süd (Filderstraße 47). Infos, Referenzen und Live-Videos von Malmzeit auf der <link http: malmzeit.de _blank external-link>Band-Homepage.


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