KONTEXT:Wochenzeitung
KONTEXT:Wochenzeitung

Nonsens statt Konsens

Nonsens statt Konsens
|

Datum:

Der Hamburger Punk-Avantgardist Schorsch Kamerun inszeniert im Stuttgarter Schauspiel Nord Theater gegen den Stillstand jugendlichen Aufbegehrens. Es ist ein wilder Gaga-Ritt durch Konzert, Performance, Installation und Party, ein Tanz um die Frage, an was man sich heute eigentlich noch reiben kann.

Es gab mal eine Zeit, da war "Mainstream" ein Schimpfwort. Benutzt von den Kindern derer, die schon in ihrer Jugend nicht zum "Establishment" gehören wollten. Keine Macht für niemanden forderten. Rebellierten. Ihre Eltern mit "entarteter Musik" malträtierten. Und niemals so werden wollten wie sie. Okay, das war ein bis zwei Generationen nachdem die eigenen Väter und Großväter die halbe Welt zerfetzt haben und danach immer noch ihre braunen Hintern in diversen Ämtern breitdrückten. Doch selbst bis in die 1990er konnte man dagegen sein. Sich auf Technoparties wenigstens die Birne wegballern, "Gothic", "Hip-Hopper" oder "Grunger" werden. Egal ob auf neonfarbenen, fellbesetzten Plateau-Sohlen, in Patschuli gebadeten Vampir-Klamotten oder mit Nirvana-Shirt und Holzfäller-Flanellhemd um die Hüften: Jung zu sein, hieß anti zu sein. Im Zweifel anti irgendwas. Anti alles. Hauptsache laut und exzessiv.

Heute ist "Mainstream" das neue Anti der 14- bis 17-Jährigen. Die aktuelle SINUS-Jugendstudie "Wie ticken Jugendliche 2016?" zeigt, dass Provokation und Abgrenzung out ist. Große Jugend-Subkulturen passé. Man will so sein "wie alle", akzeptiert Anpassungsbereitschaft und Leistungsnormen als Preis für die Sehnsucht nach Halt und Orientierung in zunehmend unübersichtlicheren Verhältnissen. Die Jugendstudie "Wo bitte geht's zum Generationenkonflikt?" der Konrad-Adenauer-Stiftung mündete 2013 im Ergebnis, dass sich die Generationen immer ähnlicher werden. Insofern gibt es doch eine neue Jugendbewegung: den Neokonservatismus. Ein Blick in die Schaufenster angesagter Modeketten spricht jedenfalls dafür. Wer hätte gedacht, dass es irgendwann mal "cool" sein würde, auszusehen wie die Oma der eigenen Oma? Rebellion ist zu einem Merchandise-Artikel verkrüppelt. "Revolution" ein Begriff, mit dem Autos, Computer und Wimperntusche beworben werden. Selbst den ollen Ché Guevara trägt man nicht mehr im Herzen, sondern auf einem Made-in-Bangladesh-Shirt. Oder war es ein Konterfei von Colonel Sanders – dem Gründer der Fast-Food-Kette Kentucky Fried Chicken? Auch egal.

Rebellion ist out

"Das glaubst du ja wohl selber nicht!", will man da schreien. Schorsch Kamerun, Theaterregisseur und Sänger der Hamburger Punkband Die Goldenen Zitronen, tut das jetzt im Stuttgarter Schauspiel Nord. Der 1963 geborene Punk-Avantgardist weiß, wovon er spricht. Noch bevor Bands wie Tocotronic, Blumfeld oder Die Sterne die Musikszene der Hamburger Schule prägten, zeigten "die Zitronen" um Kamerun dem Mainstream den Mittelfinger. Verweigerten sich trotz Erfolg zahlreichen Major-Label-Angeboten. Avancierten mit dem Album "Kampfstern Mallorca dockt an" (1988) oder "Das bisschen Totschlag" (1994) zur Antithese der Generation Golf. Wenn ihnen die Fans zu viel wurden, nannten sie ein Album auch schon mal "Fuck you" – in der Hoffnung, sie wieder loszuwerden und nicht zum gefürchteten Mainstream zu verkommen.

Zur Premiere der musiktheatralischen Reihe "Das glaubst du ja wohl selber nicht!" springt Kamerun auf eine Kiste, begrüßt die BesucherInnen wie ein vertrauter Party-Gastgeber und ermutigt zwei Jugendliche, nicht aufzuhören, ihn zu fotografieren. "Genauso ist es richtig. Lassen Sie Ihre Handys bitte an, damit wir Sie gegebenenfalls orten können, falls Sie verlorengehen." Im Foyer des Schauspiels Nord herrscht reges Gedränge. Nach der kurzen Ansprache werden die Karten eingerissen, und alle folgen dem weißen Kaninchen durch ein verwunschenes Loch in Kameruns Anti-Wunderland. Denn das, was sich das Schauspiel Stuttgart da für vier Wochen ins Haus geholt hat, ist ein Crashkurs im Dagegensein. Jede Woche ein neues Schwerpunkt-Thema. Jedes Woche eine neue Premiere. Was genau passiert, weiß der Meister selbst nicht genau. Von der ersten ("1) Das Exzessive") bis zur letzten Vorstellung ("10) Das Unfassbare") Anfang Juni dekliniert Kamerun alle Spielarten von Protest- und Reformbewegungen durch. Verpasst dem angriffsmüden Mitte-Extremismus eine Wurmkur gegen eine Gesellschaft, die nichts mehr riskiert.

Was sich in fast zwei Stunden unter Kameruns Leitung im Nord abspielt, ist eine Mischung aus der Verfilmung von Hunter S. Thompsons Klassikers "Fear and Loathing in Las Vegas" und diversen Folgen der telemedialen Grenzerfahrung "U 3000" von Christoph Schlingensief. Keine klar definierte Bühne, keine Zuschauerränge, keine Konzept – so scheint es zumindest. Doch das wiederum ist Teil des Konzepts. Während sich in einer großen Halle eine riesige runde "Eisfläche" mit treppenartigen, orangenen Sitzgelegenheiten dreht, tragen Jugendliche Gartenmöbel aus Plastik durch die Gegend. Eine Gruppe in weißen Bademänteln und Gurkenmasken folgt ihnen. Auf Tageslichtprojektoren rühren Frauen mit großen Hüten Spülmittel an und projizieren psychedelische Lichtspiele an die Wand. Eine menschliche Agaven-Frucht wandert geschäftig umher. Überall hängen Schwarz-Weiß-Monitore und Überwachungskameras, die abwechselnd Publikum und Schorsch Kamerun in einem Nebenraum zeigen. "Weicher Computer, wir haben dir nichts angetan", singt er minutenlang liturgisch aus dem Off zusammen mit der Sopranistin Jeanne Seguin. Während das wirre Treiben zunächst nur unbeteiligt durch bunte Plastik-Planen zu beobachten ist, verschwimmen die Grenzen zwischen ZuschauerInnen und Ensemble im weiteren Verlauf. Dann überall weißer Rauch. Eine Frau in einem aufwendigen Wasserpfeifen-Kostüm streckt einladend ihre Mundstück-Arme an die Köpfe des verwirrten Publikums. Die Badebemäntelten zerschnippeln Ausgaben der taz mit einer Schere.

Im Raum nebenan, wo Kamerun und Seguin am Mikrofon stehen, bauen zwei Geistliche ein Camping-Zelt auf. Ihre "Bibel" ist eine Version des Reiseführers "Lonely Planet: Die Welt". Dann wird eine Bar namens Davutoğlu erföffnet. Hier können die BesucherInnen neben Sekt und anderen Getränken Meskal kaufen – ein mexikanischer Schnaps, der aus dem Herzen der Agave hergestellt wird und darüber hinaus sprachlich an die vom Gonzo-Journalisten Hunter S. Thompson gefeierte Droge Meskalin erinnert. Ein umherwandernder Astronaut, der irgendwas von Termiten und Medikamenten in seinen Helm faselt, und eine wirre Frau, die irre vor sich her schimpft, könnten zumindest an ebendieser Droge geschnuppert haben. Ein wandernder Chor in Regencapes (Chor-Art-Stuttgart e. V.) sowie eine Gruppe Tänzerinnen (Professional Dance Academy) in bunten Ganzkörper-Strumpfhosen tun ihr Übriges, um die Eintrittskarte in ein legales LSD-Ticket zu verwandeln. Dass eine Moderatorin des Freien Radios Stuttgarts darüber hinaus inmitten der unfassbar absurden Szenen völlig unbekümmert ein Interview mit Martina Grohmann (Intendantin Theater Rampe) aufzeichnet, wundert auf diesem exzessiven Gaga-Trip niemanden mehr. Auch, dass irgendwann ein nackter Mann mit Windel in einem Plexiglas-Kasten durch die Menge geschoben wird und die Scheiben von innen mit brauner GG-Allin-Gedenkfarbe beschmiert, wirkt irgendwann nur folgerichtig.

Eine Bar namens Davutoğlu

Würde man in dieser herrlichen Freakshow einen Sinn suchen wollen, dann fände man ihn wohl im Eingangsbereich. Hier hängen Texte von William S. Burroughs, Charles Bukowski, Allen Ginsberg und dem Deutschen Jörg Fauser. Sie alle waren zunächst geächtete Underdogs ihrer Zeit, später Helden der ersten modernen literarischen Subkultur. Stark von der Beat-Generation und Drogeneskapaden beeinflusst, gilt Fauser neben Carl Weissner als einer der großen Wegbereiter der Underground-Literatur in Deutschland. Wurde bis zu seinem Unfalltod jedoch vom Establishment der Literaturszene mit Unverständnis und Missachtung gestraft. Seine beiden Werke "Rohstoff" und "Geh nicht allein durch die Kasbah" sind es auch, aus denen der Schauspieler Matti Krause das ganze Schauspiel über stoisch vorliest, während der Kamerun'sche Wahnsinn über ihn und die BesucherInnen hereinbricht. Mit letzterem Werk ist Fauser 1984 beim Ingeborg-Bachmann-Preis in Klagenfurt angetreten, um von den selbstgerechten Jury-Mitgliedern Humbert Fink, Gertrud Fussenegger, Martin Gregor-Dellin, Peter Härtling, Walter Hinck, Walter Jens, Wolfgang Kraus, Manfred Mixner, Klara Obermüller und Marcel Reich-Ranicki gnadenlos vernichtet zu werden.

So endet die Premiere im Nord auch mit dem Reenactment der Klagenfurter Jury-Szene von 1984 und prangert damit eine Kulturindustrie an, die gottgleich über Sein oder Nichtsein entscheidet. Antihelden wie Unkraut ausreißt und Mainstream reproduziert. Letztlich ist Kameruns genreübergreifende Theaterreihe eine Suche nach Identität. Ein Experiment, das die Frage aufwirft, an was wir uns heute noch abarbeiten können. Der Mainstream bietet sich da auch in Zeiten maximaler Beliebtheit noch an. Denn immerhin ist er die ewige Antithese und Asche, aus der Antihelden geboren werden. Es besteht also noch Hoffnung. Zumindest für die Generation Post-Konsens.

Epilog: Schorsch Kamerun fährt nach der Premiere mit der U 12 Richtung Stadtmitte. Sitzt einer Stuttgarter Underground-Musikerin gegenüber und hält Smalltalk mit ihr. Bevor er am Schlossplatz aussteigt, um zu seiner Interimswohung zu laufen, wünscht er drei verblüfften Premieren-Besuchern auf den gegenüberliegenden Sitzen "eine gute Nacht und schöne Träume". Antihelden fahren U-Bahn.

 

Info:

"Das glaubst du ja wohl selber nicht!" läuft bis zum 4. Juni im Schauspiel Nord. Alle Termine finden Sie <link http: www.schauspiel-stuttgart.de spielplan premieren dasglaubstdujawohlselbernicht external-link-new-window>hier.


Gefällt Ihnen dieser Artikel?
Unterstützen Sie KONTEXT!
KONTEXT unterstützen!

Verbreiten Sie unseren Artikel
Artikel drucken


0 Kommentare verfügbar

Schreiben Sie den ersten Kommentar!

Kommentare anzeigen  

Neuen Kommentar schreiben

KONTEXT per E-Mail

Durch diese Anmeldung erhalten Sie regelmäßig immer Mittwoch morgens unsere neueste Ausgabe unkompliziert per E-Mail.

Letzte Kommentare:






Die KONTEXT:Wochenzeitung lebt vor allem von den kleinen und großen Spenden ihrer Leserinnen und Leser.
Unterstützen Sie KONTEXT jetzt!