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Mangelnder Klimaschutz

"Desaströs verantwortungslos"

Mangelnder Klimaschutz: "Desaströs verantwortungslos"
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Winfried Kretschmann erteilt zusätzlichen Klima-Sofortmaßnahmen eine Absage, die CDU-geführten Ministerien in der grün-schwarzen Landesregierung liefern nicht. Jetzt will nicht nur die Deutsche Umwelthilfe Druck machen. Auch die Grüne Jugend begehrt auf.

Die gute Nachricht zuerst: Der Ministerpräsident kann Knöpfe annähen. Jedenfalls versucht Winfried Kretschmann sich mit dieser Mitteilung mäßig elegant aus der Affäre zu ziehen, als er Anfang Juni gefragt wird, ob an die Hängepartie zwischen den Koalitionspartner:innen im Kampf gegen die Erderwärmung doch noch irgendwann ein Knopf drankommt. Er kommt dran, der Knopf, irgendwann. Eine nähere Zeitangabe verweigert Kretschmann. 

Irgendwann jedoch kann deutlich zu spät sein. Nicht nur, weil das Bundesverfassungsgericht schon vor vier Jahren verlangt hatte, die Lasten der CO2-Reduktion nicht einseitig auf zukünftige Generationen zu verschieben. 2022 gab der Verwaltungsgerichtshof Mannheim der Deutschen Umwelthilfe (DUH) schon einmal recht in ihrem Verlangen, die baden-württembergische Landesregierung müsse ein konkretes Konzept vorlegen zur Umsetzung eigener Ziele. Wenn eine erhebliche Verfehlung dieser Ziele festgestellt wird, müsste die Landesregierung laut Klimaschutzgesetz ein Sofortprogramm erarbeiten. Seit Monaten verweigert das die CDU-Fraktion und jetzt rückt sogar Kretschmann höchstpersönlich von diesen Plänen ab. Dem Ministerpräsidenten dämmert, zusätzliche Maßnahmen seien gar nicht nötig, weil "wir selber laufend nachsteuern". Die DUH hat mit einer erneuten Klage vor dem Verwaltungsgerichtshof nachgelegt, verlangt Sofortmaßnahmen und ist optimistisch abermals Recht zu bekommen. 

Denn der große Grüne hätte sich besser mal mit ein paar Klicks über den aktuellen Stand der Dinge informiert. Das in der baden-württembergischen Klimagesetzgebung festgeschriebene Maßnahmenregister ist transparent und jederzeit öffentlich einsehbar. Für die Ressorts ländlicher Raum, Finanzen, Wohnen, Kultus, Wissenschaft, Soziales und sogar für Kretschmanns Staatsministerium gibt es keinen einzigen Eintrag seit dem 1. Juni 2024. Das Wirtschaftsministerium hat vor fast einem Jahr die vorerst letzten Vorhaben neu eingetragen, von der Fachkräftesicherung bis hin zum "regelmäßigen Austausch" über das Thema CO2-Management. Zur "Wirkungsweise" einzelner Maßnahmen heißt es gleich fünf Mal wörtlich: "Indirekter Beitrag zur Emissionsminderung (vorbereitend/flankierend)." Etwa bei der Breitbandförderung, die das Innenministerium als grundlegenden Beitrag zur Erreichung der Klimaschutzziele bewertet, denn dieser ermögliche "unmittelbar anderen Tätigkeiten, einen wesentlichen Beitrag zu einem oder mehreren dieser Ziele zu leisten".

Grüne Jugend macht CDU verantwortlich

Ernsthaft aktiv im Sinne der von Kretschmann behaupteten laufenden Nachsteuerung sind das Verkehrs- und das Umweltministerium. Die Chefin in letzterem, Thekla Walker (Grüne), appelliert auch an andere, denn: "Die Hände in den Schoss zu legen, tut uns in keinem Bereich gut." Die frühere Landesvorsitzende ihrer Partei, die schon den Koalitionsvertrag 2016 mitverhandelt hatte, ist diplomatisch – in der Hoffnung, dass die CDU doch noch einlenkt. 

Die Grüne Jugend hingegen wird sehr viel deutlicher und erinnert – ebenfalls schon zum wiederholten Male – an den Bericht des Klimasachverständigenrats, demzufolge die Landesregierung ihre Klimaziele verfehle. Seit fast einem Jahr liegt er vor. "Wenn die CDU nun die eigenen Fachleute ignoriert, ist das nichts anderes als Realitätsverweigerung und eine desaströse Verantwortungslosigkeit", sagt der Landesvorsitzende Tim Bühler auf Kontext-Anfrage. Wer die Warnungen der Wissenschaft missachte, "der gefährdet nicht nur unsere Lebensgrundlagen, sondern auch den wirtschaftlichen Zukunftsmotor unseres Landes". Bühler wirft den Koalitionspartner:innen "politischen Leichtsinn auf Kosten unserer Generation" vor. Seine Co-Vorsitzende Tamara Stoll honoriert zwar bisherige Anstrengungen der Grünen, vergleicht die Landesregierung und die Haltung der CDU aber mit Autofahrer:innen, die den Blinker setzen, um richtig abzubiegen, und dann aber doch "mit voller Geschwindigkeit geradeaus auf eine Wand zu fahren". 

Die Grüne Jugend will Druck machen, damit konkrete Pläne zumindest Eingang ins Landtagswahlprogramm 2026 finden. Bühler nennt Vorschläge: Investitionen in Geothermie und Sanierungsprogramme, "die schnell Schwung in den Klimaschutz im Gebäudesektor bringen", eine landesweite Flächenbörse zum vernetzten Ausbau der Erneuerbaren oder Vorgaben des Landes, dass Kommunen bis 2030 jeden fünften innerstädtischen Parkplatz in eine grüne Oase verwandeln müssen. Die Lösungen lägen längst auf dem Tisch, sie müssten nur umgesetzt werden.

Bremen machte es 2008 vor

Auch die DUH hat ihre neue Klage mit konkreten Ideen verbunden, die Grün-Schwarz in Baden-Württemberg hätte aufgreifen können und müssen: eine energetische Sanierungsoffensive von Gebäuden oder ein landesweites spezifisches Tempolimit auf der Autobahn. Die Forderung ist schon deshalb besonders interessant, weil der Ministerpräsident gar keine Handhabe dafür sieht und der Umwelthilfe vorwirft, von Baden-Württembergs Landesregierung Maßnahmen zu verlangen, die gar nicht in ihre Zuständigkeit fallen. 

Kretschmann liegt falsch. Sein grüner Parteifreund Reinhard Loske hat für Bremen dieses sogenannte spezifische Tempolimit von 120 Stundenkilometer bereits 2008 für die 61 Kilometer Autobahn auf der Landesfläche eingeführt. Der Volkswirt, später Professor für Transformationsdynamik, hielt schon damals nichts von der verkürzten Rechtfertigung der Gegner:innen, dass ein Tempolimit von 130 Kilometern pro Stunde den CO2-Ausstoß des Verkehrs nur um etwa ein Prozent reduzieren würde. Er wollte Bewusstsein verändern und dauerhaft einen großen Beitrag zu einer "nachhaltigen Mobilitätskultur in Deutschland" leisten, sagte er 2020 im taz-Interview.

Die DUH argumentiert für den Südwesten obendrein mit nackten Zahlen: Das grün-schwarze Klimaschutzgesetz von 2023 schreibe vor, dass das Land 2030 maximal 36 Millionen Tonnen CO2 ausstoßen darf, ein Minus von 65 Prozent im Vergleich zu 1990. 2040 muss das Land klimaneutral sein. Diese Vorgaben würden laut landeseigenem Klimaschutz- und Projektionsbericht deutlich verfehlt: 2030 würden rund 42 Millionen CO2 emittiert, 17 Prozent mehr als die erlaubten 36 Millionen. Besonders drastisch nennt die Umwelthilfe die Verfehlung im Verkehrssektor: Statt der erlaubten neun Millionen Tonnen CO2 werden 2030 voraussichtlich noch 13,7 Millionen Tonnen CO2 ausgestoßen, was einer Verfehlung von 50 Prozent entspricht. Insgesamt werden in fünf von sieben Sektoren die Klimaziele verfehlt, ebenso die Klimaneutralitätspflicht im Jahr 2040 mit über 21 Millionen Tonnen des Treibhausgases.

Gerade in Sachen Verkehr wartet der Ministerpräsident mit einer besonderen Botschaft auf, denn er "nimmt wahr, dass der Hochlauf bei E-Fahrzeugen offenkundig beginnt". Das Land habe für die Landesinfrastruktur gesorgt, jetzt müssten "die Leute diese Autos halt kaufen". Tatsächlich hat der Bestand an privaten E-Autos in Deutschland im Mai 2025 mit über einer Million Fahrzeugen jene Marke übersprungen, die die frühere Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) schon 2010 auf einem Mobilitätsgipfel als Ziel für 2020 ausgegeben hatte. Im internationalen Vergleich dümpeln die Neuzulassungen aber vor sich hin.

Zwei Minister:innen sind bemüht

Walker und ihr Parteifreund, Verkehrsminister Winfried Hermann, wollen ohnehin nicht weiter auf Zeit spielen. Nicht bis der Verwaltungsgerichtshof urteilt, nicht bis die Koalitionsspitzen irgendwann den Knopf an die Kabinettsvorlage machen. Gemeinsam gehen sie nach den Pfingstferien an die Öffentlichkeit, um die Einschätzung ihres Chefs, das Maßnahmen-Register würde laufend fortgeschrieben, mit Leben zu füllen. Walker hat in den Haushaltsverhandlungen 2025/2026 immerhin 100 Millionen Euro für ein neues Förderprogramm zum regionalen Wasserstoffhochlauf herausgeschlagen, Hermann im vergangenen Jahr 29 Projekte im Register transparent gemacht. Und der Verkehrsminister hat nach anhaltendem Widerstand den Schwarzen ein wenn auch abgespecktes Landesmobilitätsgesetz abgerungen. 

Ein aktuelles Schlaglicht auf die Herangehensweise in CDU-geführten Häusern liefern die Ministerinnen Nicole Hoffmeister-Kraut (Wirtschaft) und Nicole Razavi (Wohnen). Die beiden laden in der kommenden Woche zu einem Fachkongress "Innenstädte und Ortszentren neu denken" mit "Good-Practice-Beispielen" und drei Panels. Die Begriffe Klima oder Klimaanpassung kommen in der Einladung kein einziges Mal vor.

Und dennoch wird – bereitwillig nicht nur unter Schwarzen – bereits mit Blick auf die Landtagswahl 2026 hauptsächlich die führende Koalitionspartei fokussiert: "Jetzt könnten die Grünen, ausgerechnet zum Ende von Kretschmanns Amtszeit, noch gerichtlich bescheinigt bekommen, an ihrem eigenen Gesetz gescheitert zu sein", mutmaßt die "Badische Zeitung" und prognostiziert, dass dies seine politische Bilanz "gehörig verhageln dürfte". Der Gedanke lässt außer Acht, dass dem voranschreitenden Klimawandel gleichgültig ist, ob Ziele zu ambitioniert erscheinen oder Gesetze scheitern. Wer auch immer das Erbe des Ministerpräsidenten antritt, er wird an mitverantworteten Versäumnissen noch schwer zu tragen haben.

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