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Klima-Lobby

Mehr Inseln des Richtigen

Klima-Lobby: Mehr Inseln des Richtigen
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Jörg Lange hat in Freiburg zwei mustergültige Bauprojekte initiiert. Heute betreibt er im Verein "Klimaschutz im Bundestag" Lobbyarbeit für das Klima. Und profitiert von seinen Erfahrungen im Vauban-Viertel.

"Was schätzen Sie, was auf der letzten Stromrechnung für meine Wohnung steht?", fragt Jörg Lange. Die Antwort: "95 Euro. Nicht im Monat, fürs ganze Jahr 2022." Das Jahr also, in dem sich viele Menschen fragten, ob sie angesichts der gestiegenen Preise ihre Rechnungen noch bezahlen könnten. Und womöglich auf die Ökos schimpften, die durch strengere Umweltauflagen angeblich alles noch schlimmer machen.

Lange lebt im Vauban-Viertel in Freiburg, offiziell Quartier Vauban: "Im Epizentrum der Ökorepublik", wie Peter Unfried in der taz einmal titelte. Er hat dort kurz vor der Jahrtausendwende Deutschlands erstes Mehrfamilien-Passivhaus initiiert und später die "Kleehäuser" in der Paul-Klee-Straße, wo er heute wohnt. Eigentlich ist er Biologe mit Fachgebiet Limnologie – das ist die Lehre von der Ökologie der Binnengewässer –, arbeitet mittlerweile aber als Lobbyist für den Klimaschutz.

Lange ist Mitbegründer und wissenschaftlicher Referent der Initiative "Klimaschutz im Bundestag", die mit Positionspapieren und qualifizierten Online-Diskussionen zu kritischen Themen wie "Klimaschutz als kommunale Pflichtaufgabe" oder "Klimaschädliche Subventionen im Verkehr" für eine wirksame Klimaschutz-Gesetzgebung eintritt. Grund genug, nach Freiburg zu fahren, um ihn am zentralen Platz des Quartiers, vor dem Haus 37 zu treffen, dem selbstverwalteten Stadtteilzentrum, in dem auch der Verein seinen Sitz hat.

Seit 2006 führt eine Straßenbahnlinie zum Vauban: ein 40 Hektar großes Quartier mit mehr als 5.000 Bewohner:innen. Auf dem Weg fällt das Öko-Institut ins Auge, das seit jener Zeit im Kopfbau des "Sonnenschiffs" seinen Sitz hat. Der Architekt, Rolf Disch, hat bereits 1994 das "Heliotrop" gebaut, das erste Plusenergiehaus der Welt ein paar Häuser weiter. Im Quartier sorgt der schöne alte Baumbestand für Schatten und gute Luft: Die Bäume zu erhalten, war eine der Forderungen der Initiative, die sich frühzeitig in die Planungen eingemischt hat.

Vom Ökodorf blieb immerhin ein Ökohaus

"Ich bin relativ früh dazugestoßen, so 1993/94", erinnert sich Lange an die Anfänge. Die Franzosen hatten die in der NS-Zeit erbaute Kaserne 1992 verlassen – das Haus 37, so genannt nach dem Baujahr, ist eines der wenigen erhaltenen Gebäude. Die Stadt erwarb den überwiegenden Teil des Terrains. Nach verschiedenen Vorstufen gründete sich das Forum Vauban, das die Richtung vorgegeben hat: Ein Quartier der kurzen Wege sollte es werden, ohne Autos, mit Nahwärme und Häusern, die wenig Energie verbrauchen.

"Ich wollte damals ein Ökodorf gründen", erzählt Lange, "und habe mich mit allen Themen, die damit zusammenhängen, intensiv beschäftigt." In ganz Deutschland sah er sich nach Vorbildern um. Statt dem Ökodorf wurde es dann ein Haus. Auf die Kampagne "Wohnfrühling" des Forum Vauban, unterstützt vom damaligen Baubürgermeister Sven von Ungern-Sternberg, gründeten sich die ersten Baugruppen. Darunter die zukünftigen Bewohner des viergeschossigen Passivhauses "Wohnen und Arbeiten".

Mit dem Architekten Michael Gies entwickelte Lange das Konzept: Tragende Kalksandsteinwände in wechselnden Abständen, nach Süden Balkone, nach Norden Laubengänge. Verschiedene Wohnungsgrößen, flexible Grundrisse und vier Büros; Mehrkosten von nicht mehr als 300 D-Mark pro Quadratmeter gegenüber einem durchschnittlichen Wohnhaus. Die Bundesstiftung Umwelt förderte das Projekt mit 160.000 D-Mark, das vom Fraunhofer Institut für solare Energiesysteme (ISE ) ein Jahr lang wissenschaftlich begleitet wurde.

Im Ergebnis lagen die CO2-Emissionen um 77 Prozent unter den Durchschnittswerten, die verbrauchte Energie sogar um 85 Prozent. Eigentlich hatte Lange auch noch ein ökologisches Sanitärkonzept geplant, um die Toilettenabwässer zu Biogas und Düngemittel zu verarbeiten, was dann aber die Insolvenz einer Firma verhinderte. "Von den Ideen, die wir damals hatten, sind ungefähr 40 Prozent umgesetzt worden", resümiert er. Gleichwohl war es ein international beachtetes Pilotprojekt.

Es braucht mehr als ein paar Leuchtturmprojekte

Die Kleehäuser im Vauban sind ähnlich gebaut. Zwei Wohnhäuser, drei und fünf Stockwerke hoch, mit zwölf Eigentums-, elf Miet- und zwei Ferienwohnungen. 67 Menschen leben dort, vom Kleinkind- bis zum Rentenalter. Die Häuser sind nach dem Zerohaus-Standard zertifiziert, der nicht nur von Rechenmodellen, sondern von realen Messergebnissen ausgeht und auch Strom und Kühlung mit einkalkuliert. Leitbild war die 2.000-Watt-Gesellschaft. Davon soll nicht mehr als ein Viertel, also 500 Watt pro Kopf, auf das Wohnen entfallen.

2.000-Watt-Gesellschaft: Von Wissenschaftlern der Eidgenössischen Technischen Hochschule (ETH) Zürich entwickeltes Modell, demzufolge kein Mensch auf der Welt mehr als 2000 Watt Energie-Dauerleistung in Anspruch nehmen und nicht mehr als eine Tonne CO₂ pro Jahr ausstoßen soll. Derzeit beansprucht der Durchschnittsmensch in Deutschland rund 5.700 Watt.  (dh)

Photovoltaik auf dem Dach, neuerdings auch an den Balkonen; ein Anteil an einer Windkraftanlage im Schwarzwald; Wärmedämmung und kontrollierte Lüftung mit Wärmerückgewinnung; gemeinsam genutzte Tiefkühltruhen und Waschmaschinen im Keller; inzwischen auch eine Wärmepumpe: das sind die wesentlichen Ingredienzien des Energiekonzepts. Dazu kommt für die kalten Tage im Winter ein Blockheizkraftwerk, das im Moment noch auf Erdgas angewiesen ist.

Das könnte sich jedoch bald ändern. "In wenigen Jahren werden wir auf den Dächern der Kleehäuser in Spitzenzeiten viel mehr Strom erzeugen, als wir verbrauchen können", prognostiziert Lange. Er nennt zwei Möglichkeiten, damit umzugehen: Kurzfristig die Energie in dezentralen Wärmespeichern sammeln, das heißt Wasser zu erhitzen. Das reicht für ein bis zwei Tage. "Ab 2030 wollen wir dann per Elektrolyse Wasserstoff erzeugen", so Lange, "der dann, zum Teil vielleicht umgewandelt in Methangas, das Blockheizkraftwerk betreibt. Damit würde sich das Erdgas erübrigen und die Kleehäuser wären im Betrieb treibhausgasneutral."

Die Passivhäuser, die Lange im Vauban-Viertel initiiert hat, haben viel Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Mit dem Projekt "Wohnen und Arbeiten" konnte er bereits 1999 nachweisen, wie viel Energieeinsparung möglich war. "Die Hoffnung war, dass andere sich das zum Vorbild nehmen oder weiter entwickeln", meint Lange heute. "Das ist jedoch nicht passiert. Letztendlich nützt es dem Klima aber nichts, wenn es ein paar Leuchtturmprojekte gibt."

Lokale Agenda 21: Nach den Vorgaben des Abschlussdokuments der Konferenz von Rio de Janeiro 1992 erarbeiten Gemeinden eine Lokale Agenda für mehr Nachhaltigkeit. Die zugrunde liegende Erkenntnis: Nachhaltigkeit fängt vor Ort, in den Kommunen an.  (dh)

Global denken – lokal handeln: Nirgends bewahrheitet sich der Leitspruch der Lokalen Agenda so sehr wie beim Klimaschutz. Es bedarf der Initiativen vor Ort wie im Freiburger Vauban-Viertel oder der Elektrizitätswerke Schönau, die für den Klimaschutz eintreten. Aber solange sie allein bleiben, kleine Inseln des Richtigen im Meer des Falschen, ändert das wenig. Um auf nationaler Ebene voranzukommen, gründete Lange mit den Schönauer "Stromrebellen" und anderen 2017 den Verein CO2-Abgabe. Mit dem Wirtschaftsnobelpreisträger William D. Nordhaus teilen sie die Überzeugung, dass eine Steuer auf klimaschädliche Emissionen das wirksamste Lenkungsinstrument sei.

Überraschung: FDP lehnte schon 2021 Tempolimit ab

Drei Monate vor der vergangenen Bundestagswahl startete der Verein unter dem Hashtag #waehlbar2021 eine neue Initiative. Federführend: Jörg Lange. Sie definierten 19 Maßnahmenpakete, von "Klimaschutz als Pflichtaufgabe rechtlich konkretisieren" bis "Weltweite Koalitionen für den Klimaschutz mit einheitlichen Standards" und wollten von Bundestagskandidat:innen wissen, welche Ziele sie unterstützen. 1.119 davon haben mitgemacht, davon zogen 331 in den Bundestag ein, das sind immerhin 45 Prozent der Abgeordneten.

Generell war die Zustimmung hoch, am stärksten bei den Grünen. Dagegen lehnten vor allem die 46 FDP-Abgeordneten vier Maßnahmen fast durchweg ab: an erster Stelle ein generelles Tempolimit, gefolgt von einer fahrleistungsbezogenen Pkw-Maut. Lange, der dazu auch eine Kampagne leitet, kann darüber nur den Kopf schütteln: "An einem Tempolimit führt überhaupt nichts vorbei, wenn wir die Klimaziele erreichen wollen", bemerkt er.

Nachdem schon die Initiative #Wählbar2021 das Spektrum der Themen über eine CO2-Abgabe hinaus erheblich erweitert hat, beschloss der Verein, der inzwischen an die 1.000 Mitglieder hat, im Mai letzten Jahres, sich in "Klimaschutz im Bundestag" umzubenennen. Lange hat den Vorsitz im Januar an Craig Morris abgetreten, bleibt aber als wissenschaftlicher Referent weiterhin eine treibende Kraft.

Handwerkserfahrung für die Bundestagsabgeordneten

Zwölf Online-Diskussionen mit Expert:innen und Bundestagsabgeordneten haben sie seither durchgeführt. "Ziel war vor allem, die Praxisperspektive einzubringen", meint Lange. Handwerker und andere Personen, die eigene Erfahrungen mitbringen. Die Expert:innen im Bundestag seien sonst in aller Regel nur Verbandsvertreter:innen.

Es geht um brisante Themen. Was hilft es etwa, wenn eine Stadt oder ein Land sich das Ziel setzt, bis zu einem bestimmten Zeitpunkt klimaneutral werden zu wollen, wenn klimaschädliche Produkte einfach anderswo eingekauft werden? Denn die übliche, vom Heidelberger ifeu-Institut entwickelte Bilanzierungssystematik kommunal misst nur die Emissionen auf dem Gebiet der jeweiligen Kommune.

ifeu-Institut: Das Institut für Energie- und Umweltforschung (ifeu) in Heidelberg, 1978 gegründet – ein Jahr nach dem Öko-Institut in Freiburg –, ist eines der wichtigsten unabhängigen Forschungsinstitute zu Umweltfragen.  (dh)

Nach dieser Logik hat ein Ort, an dem sich ein Zementwerk befindet, keinerlei Chance, klimaneutral zu werden, während es kein Problem darstellt, wenn eine Stadt Millionen Tonnen an Beton verbaut. Der Stuttgarter Flughafen kann sich das Ziel setzen, bis 2040 klimaneutral werden zu wollen: Die Emissionen entstehen ja nicht am Flughafen. Die Forderung des Vereins lautet daher, für alle Produkte schrittweise einen digitalen Produktpass einzuführen, in dem die Emissionen über die gesamte Lieferkette aufgeführt sind.

Die Lobbyarbeit in Berlin und die Situation im Freiburger Vauban hängen manchmal eng zusammen. Eigentlich hatte Lange nur ein Steckersolargerät an seinem Balkon anbringen wollen. Und schon war er wieder mittendrin in den ungeklärten Verhältnissen der Genehmigung, den Problemen der Statik und der Windlast, der nur im überregulierten Deutschland erforderlichen doppelten Absicherung, damit jemand bei einer Reparatur mit ausgeschalteter Sicherung nicht doch einen Stromschlag bekommt, weil die Solaranlage brummt.

So hat er denn gleich einen Leitfaden Balkonsolaranlagen erarbeitet und eine Petition mit initiiert. Die – statisch gut gesicherten – Balkonanlagen der Kleehäuser tragen übrigens dazu bei, dass Langes Stromrechnung nicht höher ausfällt als 95 Euro im Jahr.


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