Es ist ein früher Morgen im April 2022. Langsam geht die Sonne auf im beschaulichen Bobstadt, einem 400-Seelen-Dorf im Nordosten Baden-Württemberg. Aber dieser Morgen ist kein gewöhnlicher. Denn die Ruhe findet ihr jähes Ende: Blaulicht leuchtet, ein Martinshorn dröhnt. Laute "Polizei"-Rufe sind zu hören.
SEK-Beamt:innen tragen Schusswaffen und Schutzwesten. Mit einer Flex zerschneidet ein Polizist den Grundstückszaun. Sie betreten die Terrasse eines Wohnhauses. Dann zerschneidet er den Rollladen der Terrassentür. Plötzlich eskaliert der Einsatz. Ein Schuss fällt. Unter Schmerzen fällt der Polizist auf den Boden. Dutzende Schüsse folgen. Kurze Zeit später gerät das Wohnhaus in Brand. Niemand stirbt. Aber: Die Schüsse hätten ein Massaker anrichten können. Der Schütze: Ingo K., "Reichsbürger".
All das halten Aufnahmen einer Drohne und mehrerer Helmkameras der SEK-Beamt:innen fest. Ein Video, das einige Aufnahmen enthält, wird am sechsten Prozesstag im Sitzungssaal 2 gezeigt. Seit April dieses Jahres führt der Staatsschutzsenat vor dem Oberlandesgericht Stuttgart den Prozess gegen Ingo K. Der Vorwurf: 14-facher Mordversuch. Der Prozess zeigt einmal mehr, wie gefährlich und gewaltbereit die "Reichsbürger"-Szene ist – und wohin die Radikalisierung durch Verschwörungsmythen führen kann.
Von Ost nach Süd
Ingo K. ist Mitte 50. Er ist 1967 in Plauen geboren, einer sächsischen Kleinstadt in der ehemaligen DDR. 20 Jahre später, 1987, machte seine Mutter eine Reise in den Westen. Es ist ihre Ausreise. 1989 folgte der Sohn, erst nach Bottrop, dann zogen die beiden nach Baden-Württemberg. Ingo K. eröffnete ein Kampfsportstudio, machte Sicherheitsdienste in Diskotheken, später wurde er Personenschützer im Griechischen Konsulat in Stuttgart – und durfte eine Waffe führen.
Seine Biografie scheint eine Biografie des Scheiterns zu sein. Die Versuche, eine glückliche Ehe zu führen, sind gescheitert. Ingo K. ist mehrfach geschieden. Die Versuche, eine weiße Weste zu bewahren, sind gescheitert. Er ist mehrfach vorbestraft. Die Versuche, ein dauerhaft erfolgreiches Kampfsportstudio aufzubauen, sind gescheitert. Ingo K. ging insolvent. Er soll mehr als 200.000 Euro Schulden haben. Die Versuche, einen festen Arbeitsplatz in der Security-Branche zu finden, sind gescheitert. Ihm wurde im März 2022 fristlos gekündigt. Nur wenige Wochen vor der Tat.
Ein militanter "Reichsbürger"
Lange Zeit wohnte Ingo K. in Rüsselhausen. Das Dorf liegt im Nordosten Baden-Württembergs. In der dortigen Mietwohnung sei er "glücklich und zufrieden" gewesen, sagt K. vor Gericht. Aber 2019 starb seine Mutter, zwei Jahre später wurde ihm die Wohnung wegen Eigenbedarfs gekündigt. In Bobstadt fand er eine neue. Das Dorf ist rund 20 Autominuten von Rüsselhausen entfernt. Ingo K. zog mit seinem Sohn, der eine psychische Krankheit hat, in eine Erdgeschosswohnung. Die Familie A., die Eigentümer:innen, wohnte im Obergeschoss, sie betrieb einen "Selbstversorgerbauernhof". Im Erdgeschoss musste Ingo K. ein paar Dinge renovieren. Kaum hatte er die Renovierung abgeschlossen, geschah die Bluttat.
Das Landratsamt hatte Ingo K. aufgrund seiner Vorstrafen die Waffenbesitzerlaubnis entzogen. Er musste seine Waffe, eine Pistole der Marke Glock, abgeben. Aber K. ließ die Fristen zur Waffenabgabe verstreichen. Die Polizei entschied, die Pistole im Rahmen eines SEK-Einsatzes einzuziehen. Denn Ingo K. fiel in der Vergangenheit durch Behördenschreiben mit einschlägigem "Reichsbürger"-Vokabular auf.
In den Schreiben war von der "Firma Bundesrepublik Deutschland" und vom "Oberkommando der Alliierten" die Rede, die Schreiben waren mit der Kopfzeile "Ingo (K.), Mensch, Deutscher durch Geburt und Ahnennachweis" und der Unterschrift "Ingo aus dem Hause K." versehen. Typisches Vokabular der "Reichsbürger"-Szene. Vor Gericht sagte der Angeklagte aus, er habe in den Schreiben eine "Provokation" gesehen. "Ich kenne mich damit nicht aus." Sein Vermieter Heiko A. habe sie aufgesetzt, er selbst habe nur unterzeichnet.
Erst im Zuge des SEK-Einsatzes wurde bekannt: Ingo K. besaß nicht nur eine Glock Pistole. Er hatte eine Waffenkammer mit unzähligen Kurz- und Langwaffen. Teils halb-, teils vollautomatisch. Unter den Waffen waren mehrere Kriegswaffen. Vor Gericht erklärte der Angeklagte, er habe bloß historisches Interesse an den Waffen gehabt. Auf die Frage, warum er auch tausende Schuss Munition besaß, hatte er keine Antwort parat.
Gegen Asyl- und Coronapolitik
Ingo K., der mutmaßliche Schütze, war seit Jahren in der extremen Rechten aktiv. Bereits 2018 besuchte er die rechtsextremen Demonstrationen im südpfälzischen Kandel. Damals protestierten tausende Menschen gegen Asyl und Migration. Anlass war der Mord eines Geflüchteten, dieser hatte seine deutsche Ex-Freundin erstochen. Der rassistische Protest skandierte: "Kandel ist überall!". Auch in seiner Heimatregion protestierte Ingo K. gegen Migrant:innen. Beispielsweise nahm er im Jahr 2020 an einer Demonstration im hohenlohischen Öhringen teil. Das Motto lautete: "Hohenlohe wacht auf".
Während der Corona-Pandemie unterstützte Ingo K. einen regionalen "Querdenken"-Ableger. Er radikalisierte sich während der Pandemie, soll Corona-Tests und das Maskentragen verweigert haben. In den Masken seien Würmer, war er überzeugt, sie würden in die Atemorgane eindringen und die Menschen krankmachen. Unzählige Zeug:innen aus seinem Umfeld berichten über Verschwörungsmythen, denen Ingo K. anhing. So habe er behauptet, die Welt würde "von Außerirdischen regiert" und "Chemtrails" würden Unfruchtbarkeit verursachen. Die Mythen, die er verbreitet haben soll, sind absurd, aber auch antisemitisch und rassistisch: Juden würden Kinder schlachten und deren Fleisch verkaufen. Die Bundesregierung würde "Millionen arabischer Flüchtlinge" in Bunkern verstecken, um sie "auf einen Schlag" auf die Deutschen "loszulassen".
Auch ein AfD-Wähler
Vor Gericht sagte der Angeklagte über seine Verschwörungsmythen, er habe "nur drüber geredet" und habe "nicht behauptet, dass es so ist". Mehr noch: Er "provoziere" und "verarsche" gerne. Sämtliche Zeug:innen aus seinem Umfeld – von der Nachbarschaft bis zum Polizisten, der Kampfsport mit Ingo K. trainierte – wussten Bescheid. Über seine "Reichsbürger"-Ideologie und über seine Verschwörungsmythen. Zugleich schätzte sein Umfeld, wie freundlich, hilfsbereit und verständnisvoll der Angeklagte war. Ein positiver Mensch, der die Natur und seinen Hund liebte. Aber: Mit seinem Dobermann hatte er im Jahr 2019 die Direktorin des Amtsgerichts Bad Mergentheim in ihrem Büro bedroht. Ein Messer, das er mitführte, wurde ihm an der Eingangskontrolle immerhin abgenommen.
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bedellus
am 02.08.2023