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Prozess gegen "Reichsbürger" Ingo K.

"Dann habe ich geschossen"

Prozess gegen "Reichsbürger" Ingo K.: "Dann habe ich geschossen"
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Als die Polizei am 20. April 2022 die Waffe eines "Reichsbürgers" in Bobstadt einziehen wollte, eskalierte der SEK-Einsatz. Ingo K. soll versucht haben, mehrere Polizist:innen zu erschießen. Vor dem Oberlandesgericht Stuttgart bringt er sein Bedauern zum Ausdruck. Aber ein Video lässt erhebliche Zweifel aufkommen.

Es ist ein früher Morgen im April 2022. Langsam geht die Sonne auf im beschaulichen Bobstadt, einem 400-Seelen-Dorf im Nordosten Baden-Württemberg. Aber dieser Morgen ist kein gewöhnlicher. Denn die Ruhe findet ihr jähes Ende: Blaulicht leuchtet, ein Martinshorn dröhnt. Laute "Polizei"-Rufe sind zu hören.

SEK-Beamt:innen tragen Schusswaffen und Schutzwesten. Mit einer Flex zerschneidet ein Polizist den Grundstückszaun. Sie betreten die Terrasse eines Wohnhauses. Dann zerschneidet er den Rollladen der Terrassentür. Plötzlich eskaliert der Einsatz. Ein Schuss fällt. Unter Schmerzen fällt der Polizist auf den Boden. Dutzende Schüsse folgen. Kurze Zeit später gerät das Wohnhaus in Brand. Niemand stirbt. Aber: Die Schüsse hätten ein Massaker anrichten können. Der Schütze: Ingo K., "Reichsbürger".

All das halten Aufnahmen einer Drohne und mehrerer Helmkameras der SEK-Beamt:innen fest. Ein Video, das einige Aufnahmen enthält, wird am sechsten Prozesstag im Sitzungssaal 2 gezeigt. Seit April dieses Jahres führt der Staatsschutzsenat vor dem Oberlandesgericht Stuttgart den Prozess gegen Ingo K. Der Vorwurf: 14-facher Mordversuch. Der Prozess zeigt einmal mehr, wie gefährlich und gewaltbereit die "Reichsbürger"-Szene ist – und wohin die Radikalisierung durch Verschwörungsmythen führen kann.

Von Ost nach Süd

Ingo K. ist Mitte 50. Er ist 1967 in Plauen geboren, einer sächsischen Kleinstadt in der ehemaligen DDR. 20 Jahre später, 1987, machte seine Mutter eine Reise in den Westen. Es ist ihre Ausreise. 1989 folgte der Sohn, erst nach Bottrop, dann zogen die beiden nach Baden-Württemberg. Ingo K. eröffnete ein Kampfsportstudio, machte Sicherheitsdienste in Diskotheken, später wurde er Personenschützer im Griechischen Konsulat in Stuttgart – und durfte eine Waffe führen.

Seine Biografie scheint eine Biografie des Scheiterns zu sein. Die Versuche, eine glückliche Ehe zu führen, sind gescheitert. Ingo K. ist mehrfach geschieden. Die Versuche, eine weiße Weste zu bewahren, sind gescheitert. Er ist mehrfach vorbestraft. Die Versuche, ein dauerhaft erfolgreiches Kampfsportstudio aufzubauen, sind gescheitert. Ingo K. ging insolvent. Er soll mehr als 200.000 Euro Schulden haben. Die Versuche, einen festen Arbeitsplatz in der Security-Branche zu finden, sind gescheitert. Ihm wurde im März 2022 fristlos gekündigt. Nur wenige Wochen vor der Tat.

Ein militanter "Reichsbürger"

Lange Zeit wohnte Ingo K. in Rüsselhausen. Das Dorf liegt im Nordosten Baden-Württembergs. In der dortigen Mietwohnung sei er "glücklich und zufrieden" gewesen, sagt K. vor Gericht. Aber 2019 starb seine Mutter, zwei Jahre später wurde ihm die Wohnung wegen Eigenbedarfs gekündigt. In Bobstadt fand er eine neue. Das Dorf ist rund 20 Autominuten von Rüsselhausen entfernt. Ingo K. zog mit seinem Sohn, der eine psychische Krankheit hat, in eine Erdgeschosswohnung. Die Familie A., die Eigentümer:innen, wohnte im Obergeschoss, sie betrieb einen "Selbstversorgerbauernhof". Im Erdgeschoss musste Ingo K. ein paar Dinge renovieren. Kaum hatte er die Renovierung abgeschlossen, geschah die Bluttat.

Das Landratsamt hatte Ingo K. aufgrund seiner Vorstrafen die Waffenbesitzerlaubnis entzogen. Er musste seine Waffe, eine Pistole der Marke Glock, abgeben. Aber K. ließ die Fristen zur Waffenabgabe verstreichen. Die Polizei entschied, die Pistole im Rahmen eines SEK-Einsatzes einzuziehen. Denn Ingo K. fiel in der Vergangenheit durch Behördenschreiben mit einschlägigem "Reichsbürger"-Vokabular auf.

In den Schreiben war von der "Firma Bundesrepublik Deutschland" und vom "Oberkommando der Alliierten" die Rede, die Schreiben waren mit der Kopfzeile "Ingo (K.), Mensch, Deutscher durch Geburt und Ahnennachweis" und der Unterschrift "Ingo aus dem Hause K." versehen. Typisches Vokabular der "Reichsbürger"-Szene. Vor Gericht sagte der Angeklagte aus, er habe in den Schreiben eine "Provokation" gesehen. "Ich kenne mich damit nicht aus." Sein Vermieter Heiko A. habe sie aufgesetzt, er selbst habe nur unterzeichnet.

Erst im Zuge des SEK-Einsatzes wurde bekannt: Ingo K. besaß nicht nur eine Glock Pistole. Er hatte eine Waffenkammer mit unzähligen Kurz- und Langwaffen. Teils halb-, teils vollautomatisch. Unter den Waffen waren mehrere Kriegswaffen. Vor Gericht erklärte der Angeklagte, er habe bloß historisches Interesse an den Waffen gehabt. Auf die Frage, warum er auch tausende Schuss Munition besaß, hatte er keine Antwort parat.

Gegen Asyl- und Coronapolitik

Ingo K., der mutmaßliche Schütze, war seit Jahren in der extremen Rechten aktiv. Bereits 2018 besuchte er die rechtsextremen Demonstrationen im südpfälzischen Kandel. Damals protestierten tausende Menschen gegen Asyl und Migration. Anlass war der Mord eines Geflüchteten, dieser hatte seine deutsche Ex-Freundin erstochen. Der rassistische Protest skandierte: "Kandel ist überall!". Auch in seiner Heimatregion protestierte Ingo K. gegen Migrant:innen. Beispielsweise nahm er im Jahr 2020 an einer Demonstration im hohenlohischen Öhringen teil. Das Motto lautete: "Hohenlohe wacht auf".

Während der Corona-Pandemie unterstützte Ingo K. einen regionalen "Querdenken"-Ableger. Er radikalisierte sich während der Pandemie, soll Corona-Tests und das Maskentragen verweigert haben. In den Masken seien Würmer, war er überzeugt, sie würden in die Atemorgane eindringen und die Menschen krankmachen. Unzählige Zeug:innen aus seinem Umfeld berichten über Verschwörungsmythen, denen Ingo K. anhing. So habe er behauptet, die Welt würde "von Außerirdischen regiert" und "Chemtrails" würden Unfruchtbarkeit verursachen. Die Mythen, die er verbreitet haben soll, sind absurd, aber auch antisemitisch und rassistisch: Juden würden Kinder schlachten und deren Fleisch verkaufen. Die Bundesregierung würde "Millionen arabischer Flüchtlinge" in Bunkern verstecken, um sie "auf einen Schlag" auf die Deutschen "loszulassen".

Auch ein AfD-Wähler

Vor Gericht sagte der Angeklagte über seine Verschwörungsmythen, er habe "nur drüber geredet" und habe "nicht behauptet, dass es so ist". Mehr noch: Er "provoziere" und "verarsche" gerne. Sämtliche Zeug:innen aus seinem Umfeld – von der Nachbarschaft bis zum Polizisten, der Kampfsport mit Ingo K. trainierte – wussten Bescheid. Über seine "Reichsbürger"-Ideologie und über seine Verschwörungsmythen. Zugleich schätzte sein Umfeld, wie freundlich, hilfsbereit und verständnisvoll der Angeklagte war. Ein positiver Mensch, der die Natur und seinen Hund liebte. Aber: Mit seinem Dobermann hatte er im Jahr 2019 die Direktorin des Amtsgerichts Bad Mergentheim in ihrem Büro bedroht. Ein Messer, das er mitführte, wurde ihm an der Eingangskontrolle immerhin abgenommen.

Der Prozess führt vor Augen, wie wenig Widerspruch die "Reichsbürger"-Szene in ihrem Alltag erfährt. Es zeigt einmal mehr, wie wichtig die alltägliche Gegenrede ist. Die Familie A., die Ingo K. die Erdgeschosswohnung vermietete, wusste nicht nur Bescheid. Familienmitglieder teilten die Ansichten des "Reichsbürgers". Der 50-jährige Heiko A. sagte vor dem Oberlandesgericht Stuttgart, er recherchiere seit 2015 zur deutschen Geschichte. Mit Ingo K., der sich bereits länger damit befasse, habe er Informationen ausgetauscht und geprüft. Auf die Frage, ob die beiden auch Behördenschreiben verschickt hätten, sagte Heiko A., man habe "Fragen gestellt, ob sie berechtigt sind, das zu tun, was sie tun". Über Ingo K.s Waffe sagte er, die Behörden wollten sie ihm aufgrund seiner "politischen Gesinnung" entziehen. Schließlich sei er ein AfD-Wähler.

Die Schützenhilfe der Familie A.

Auch über den 20. April 2022 sprach Heiko A. vor Gericht. Er schilderte, er habe "keinen rechten Plan gehabt, wer schießt und warum". Nach der Tat habe er gehört, die SEK-Beamt:innen hätten ohne Vorwarnung geschossen. Offenbar habe Ingo K. "aus Selbstschutz zurückgeschossen". Auch seine Frau Bianca und sein Sohn Max haben eine klare Position. Bianca A., Ende 40, sprach vom "Überfall" und sagte, die Polizei habe das Wohnhaus angezündet. Eine Untersuchung ergab hingegen, dass eine Nebelgranate – die geworfen wurde, um SEK-Beamt:innen einen sicheren Rückzug zu ermöglichen – den Brand ausgelöst haben könnte. Max A., Mitte 20, berichtete, während der Tat sei er mit Ingo K. eine knappe Viertelstunde in seiner Erdgeschosswohnung und eine halbe Stunde im Treppenhaus zwischen Erd- und Obergeschoss gewesen. Waffen habe er nicht gesehen. Ob Ingo K. geschossen hat, wisse er nicht.

Die Familie A. ist sich einig: Für sie und Ingo K. sei unklar gewesen, dass die Polizei im Einsatz war. Es habe kein Blaulicht und Martinshorn, keine "Polizei"-Rufe gegeben. Auf das SEK-Einsatzvideo angesprochen, das die Signale in Bild und Ton festgehalten hat, behaupteten Heiko und Max A., das Video könne manipuliert worden sein. Auch Ingo K. will die Signale nicht gehört haben. Am 16. Prozesstag, vor wenigen Tagen, schilderte eine Polizistin, nach seiner Festnahme habe der Angeklagte gesagt, er habe weder Blaulicht noch Martinshorn wahrgenommen. Er sei durch Explosionen aufgewacht und habe seinen Sohn gesehen. "Auf dem Boden, wimmernd." Daraufhin habe er lediglich "seinen Sohn beschützen" wollen.

"Die wollten rein, ich bin durchgetickt"

Der Staatsschutzsenat zeigte an diesem Prozesstag das Video von K.s Erstvernehmung, die unmittelbar nach der Tat stattfand. In der Vernehmung räumte Ingo K. ein, "aus einer Reflexhaltung heraus" habe er zur Waffe gegriffen. Und: "Dann habe ich geschossen." Der Grund: "Die wollten rein, ich bin durchgetickt." Der Angeklagte behauptete, er hatte einen "Blackout". Einen "Filmriss". Angst, Panik, keine Erinnerungen und kein Zeitgefühl mehr. "Ich kann nur sagen, dass ich mich gewehrt habe."

Am 20. Prozesstag verlas der Verteidiger eine Erklärung seines Mandanten. In der Erklärung blieb Ingo K. vage. Ob er Blaulicht und Martinshorn wahrgenommen und ob er das Feuer eröffnet hat, ließ der Angeklagte offen. Allerdings sprach er sein "aufrichtiges Bedauern" für die Verletzten aus. Er sei "dankbar, dass niemand sein Leben verloren hat". Das Video des SEK-Einsatzes – das ein brutales und kaltblütiges Vorgehen des Schützen zeigt – hinterlässt einen anderen Eindruck.


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1 Kommentar verfügbar

  • bedellus
    am 02.08.2023
    Antworten
    Herr, wirf Hirn vom Himmel! Ganz viel! Für alle!
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