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NSU-Akten

Viel zu lang geheim

NSU-Akten: Viel zu lang geheim
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Jan Böhmermann und „Frag den Staat“ veröffentlichen geheime NSU-Akten des Verfassungsschutzes. Das Neue ist überschaubar, statt dessen Bekanntes einmal mehr belegt: Ermittlungsbehörden haben im Umgang mit Rechtsterrorist:innen versagt.

Boxberg-Bobstadt im April 2022, am 20., Hitlers Geburtstag. Ein polizeiliches Spezialeinsatzkommando (SEK) marschiert vor einem Haus auf, das durchsucht werden soll. Der Bewohner soll illegale Waffen besitzen. Er eröffnet das Feuer. Erst seit Ende September dieses Jahres ist bekannt, dass er nicht nur einen, sondern zwei Polizisten verletzt hat. Das entdeckte Waffenarsenal, darunter Kriegsgerät, nennt der Heilbronner Polizeipräsident Hans Becker "riesig".

Laut Andreas Stenger, Chef des baden-württembergischen Landeskriminalamts, hat der Hausbesitzer mit Kriegswaffen geschossen, darunter eine vermutlich auf dem Balkan nachgebaute Kalaschnikow. Anfang Mai findet eine zweite Durchsuchung statt. Inzwischen geht es laut Bundesgerichtshof um versuchten Mord. Denn der Mann habe "mittels eines vollautomatischen Gewehrs mehrere Dutzend Mal aus fünf verschiedenen Schusspositionen" auf 14 Polizisten geschossen". Zitat von Innenminister Thomas Strobl (CDU), der seit Jahren betont, es dürfe "keine Waffen in Händen von Extremisten" geben.

So weit, so schlecht. Denn nach zwei parlamentarischen Untersuchungsausschüssen im baden-württembergischen Landtag zum NSU – und weiteren zwölf bundesweit – ist schleierhaft, wie es so weit kommen kann. Dass es sogenannte "Reichsbürger" gibt in Bobstadt, war bekannt, die Gruppe war aktiv für die AfD im Bundestagswahlkampf. Bekannt waren auch die großen roten Runen an zwei Häusern in dem keine 500 Einwohner zählenden Flecken. "Eines der Symbole ist die Tyr-Rune", schreibt das "Netzwerk gegen rechts Main-Tauber", im Nationalsozialismus verwendet von der Hitlerjugend und der SA. Und noch heute in der extremen Rechten, darunter in der Schweiz.

Auf Neonazis ist niemand gekommen

Hier kommen Jan Böhmermann und "Frag den Staat" ins Spiel, weil ohne Leaks ganz offensichtlich kein Licht ins Dunkel kommt und alle Transparenzversprechen unerfüllt bleiben – in Revieren, in den Ämtern, in den Etagen, in denen höhere Chargen ihre Schreibtische stehen haben. "Obwohl das NSU-Trio von etwa 40 Spitzeln und Zuträgern der verschiedenen Verfassungsschutzämter eingekreist war, gelang es den Sicherheitsbehörden über Jahre nicht, die Mordserie aufzuklären", schreibt Annette Ramelsberger in der "Süddeutschen Zeitung", eine der profiliertesten Kenner:innen der rechtsextremen Szene. Polizei und Verfassungsschutz hätten "wahlweise die Familien der Opfer, die türkische Mafia, Drogenkartelle oder die Wettmafia verdächtigt, nur auf Neonazis kam niemand".

Der Grund: Noch nach der Selbstenttarnung des NSU vor elf Jahren in Eisenach und Zwickau und auch nach unglaublichen Ermittlungsfehlern wurde weiter nebeneinanderher gearbeitet. Und aneinander vorbei. Längst Bekanntes wurde wiedergekäut, an Systematik war niemand interessiert. Hier passt der hessische Verfassungsschutz ins Bild, dessen NSU-Akten jetzt teilweise von Böhmermann ans Tageslicht befördert wurden.

Der Bericht sollte satte 120 Jahre unter Verschluss bleiben, jetzt steht er im Netz. Neu abgeschrieben, um das Schriftbild zu verändern, und nach den gängigen Regeln geschwärzt. 

Vermutet wurde, dass die später auf 30 Jahre verkürzte Dauer der Sperrfrist auch mit der Rolle des damaligen V-Mann-Führers Andreas Temme zu tun hat. Im April 2006 war er leibhaftig anwesend im Kasseler Internetcafé des jungen Deutschtürken Halit Yozgat, dessen zeitgleiche Ermordung er aber nicht mitgekriegt haben will. Aufgeklärt wurde Temmes Rolle nie, weil Volker Bouffier (CDU) als Innenminister dies kraft Amtes verhinderte, später als Ministerpräsident auch mit Billigung der Grünen, die 2014 in die Landesregierung miteingezogen waren. Temme kommt ein gutes halbes Dutzend Mal vor auf den 173 Seiten, unter anderem, weil intern über den Stand der Ermittlungen gegen ihn berichtet wird.

Mitte Oktober, auf einer Tagung im Generallandesarchiv in Karlsruhe zum NSU, machte Ulrich Stoll vom ZDF-Magazin "Frontal" deutlich, wie dringend nötig ein zweiter parlamentarischer Untersuchungsausschuss in Hessen wäre. Anders als in vielen anderen Ländern und im Bundestag kam es in Wiesbaden aber nie dazu.

Kein Jahrestag ohne Strobls Mitgefühl

In Baden-Württemberg hat es zwei Ausschüsse gegeben, aber wenig Konsequenzen aus deren Empfehlungen. Hier müsste dringend nachgearbeitet werden. Unter anderem zu dem schlichten Zweck, dass Polizst:innen lernen, Nazi-Runen zu erkennen. Andererseits vergeht kein Jahrestag, an dem Minister Strobl nicht sein Mitgefühl beteuert. 2016 auf der Heilbronner Theresienwiese vor dem Gedenkstein für Michéle Kiesewetter galt dieses "den Angehörigen der Opfer der Terrorgruppe NSU, denen unendlich schreckliches Leid zugefügt und zugemutet wurde". Sie seien "mit ihrer Trauer, ihrem Schmerz und ihrem Erinnern nicht alleine".

Immerhin soll es mit gemeinsamem Erinnern nicht mehr getan sein. Im ersten Koalitionsvertrag 2016, auf Basis der Arbeit des ersten NSU-Untersuchungsausschuss im Landtag, versprachen Grüne und CDU dessen Handlungsempfehlungen umzusetzen. Im zweiten grün-schwarzen Koalitionsvertrag von 2021 verpflichteten sich die alten und neuen Partner:innen, die Dokumentationsstelle Rechtsextremismus am Generallandesarchiv in Karlsruhe um eine universitäre Forschungsstelle Rechtsextremismus zu ergänzen. Die erste Frist zur Einreichung der Konzeptskizzen der Hochschulen ist Ende Juli 2022 abgelaufen, die Auswahlkommission arbeitet. Jetzt werden Vollanträge eingeholt, über die im Winter 2023 entschieden werden soll, damit die neue Forschungsstelle ihre Arbeit aufnehmen kann.

Bereits reformiert ist die Arbeit des Parlamentarischen Kontrollgremiums, das öfter und wenigstens einmal im Jahr auch öffentlich tagt und die Arbeit der Geheimdienste überprüfen soll. "Der Verfassungsschutz funktioniert nicht dann am besten, wenn er im Geheimen vor sich hinwurstelt", sagt der neue Vorsitzende Oliver Hildenbrand (Grüne). Es brauche eine starke parlamentarische Kontrolle und größtmögliche Transparenz. Denn: "Nur das schafft Legitimation und Vertrauen, nur so können Fehlentwicklungen erkannt und Missstände behoben werden." Verstärkt will der Fraktionsvize und frühere Landesvorsitzende auch die Arbeitsweise und die Strukturen des Verfassungsschutzes in den Blick nehmen.

Main-Tauber wäre sicher ein lohnendes Betätigungsfeld. Das "Netzwerk gegen rechts" listet seit 2013 akribisch Straftaten auf, darunter die Orte, an denen Hakenkreuz- und Reichskriegsflaggen hingen, wo der 20. April mit Hakenkreuztorte gefeiert wurde, wo das Banner mit Runen und Hakenkreuz gezogen wurde. Solche rechtsradikalen Netzwerke zu erkennen, tun sich Baden-Württembergs Ermittlungsbehörden ganz offensichtlich schwer. Sie sind in schlechter Gesellschaft mit Kolleg:innen aus Thüringen oder aus Hessen, wo manches auch ganz schnell gehen kann. Das Landesamt für Verfassungsschutz in Wiesbaden hat am Montag Anzeige gegen Böhmermann und "Frag den Staat" erstattet.


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1 Kommentar verfügbar

  • Wolfgang Wilhelm Offenloch
    am 09.11.2022
    Antworten
    Zum Artikel „Viel zu lange geheim“
    „Das Landesamt für Verfassungsschutz in Wiesbaden hat am Montag Anzeige gegen Böhmermann und "Frag den Staat" erstattet.“
    So stellt man sich Demokratie vor. Julian Assange lässt grüßen.
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