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Pressehaus und Journalismus

Süßwaren auf dem Boulevard

Pressehaus und Journalismus: Süßwaren auf dem Boulevard
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Die grüne Landtagspräsidentin Muhterem Aras bittet inständig um politische Berichterstattung. Doch das Stuttgarter Pressehaus hat daran wenig Interesse. Klickzahlen würden nicht mit Protokollen aus dem Gemeinderat erzeugt, meint Chefredakteurin Swantje Dake. Ein Kollege von der Basis widerspricht.

Die Klage eines altgedienten schwäbischen Lokalredakteurs klingt mir – ebenfalls seit gut 20 Jahren im Lokalen unterwegs – auch nach Jahren noch in den Ohren: "Wenn mein neuer Auftrag darin besteht, Polizeimeldungen suchmaschinenoptimiert aufzuarbeiten, ist das für mich kein Journalismus mehr."

Aber was ist denn Qualitätsjournalismus? Das hätte man gerne gewusst bei der Diskussion des DGB und der Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart vergangenen Freitag im Willi-Bleicher-Haus. Swantje Dake, Geschäftsführerin der ZGS Digital GmbH und Chefredakteurin Digital Stuttgarter Zeitung/Stuttgarter Nachrichten, wirkte auf dem Podium, als habe sie beim besten Willen die Frage nicht verstanden. Wie wenn ich eine Süßwarenherstellerin nach Bio-Vollwertkost befrage. Im Hinterkopf habe ich womöglich politische Vitamine, analytische Spurenelemente und auch mal schwer Verdauliches, während die Befragte sich Gedanken über das bunteste und verführerischste Display macht.

"Die Öffentlichkeit ist darauf angewiesen, dass über Politik berichtet wird", sagt Landtagspräsidentin Muhterem Aras (Grüne). Eine Studie aus der Schweiz habe klar gezeigt, dass die Höhe der Wahlbeteiligung vom Ausmaß der lokalen Berichterstattung abhänge. Michael Blume, Antisemitismus-Beauftragter der Landesregierung, stimmt ihr zu: Lokale Medien seien entscheidend für die "Selbstwirksamkeit" der Bürger. Nur wer informiert sei und den Eindruck habe, dass man etwas bewirken kann, beteilige sich.

Ludwigsburg als gallisches Dorf

Ganz Gallien ist in der Hand der Südwestdeutschen Medien Holding GmbH (SWMH)? Nein, nicht der ganze Südwesten. Die nach wie vor unabhängige "Ludwigsburger Kreiszeitung" (LKZ) leistet sich eine eigene Vollredaktion. "Wir sind vor Ort", verspricht die Chefredakteurin Ulrike Trampus, auch wenn sie einräumt, dass das bei 39 Kommunen im Verbreitungsgebiet selbst mit allen Redakteur:innen und freien Mitarbeiter:innen nicht ganz vollständig gelingen kann. Sie will "viele Stimmen zu Wort kommen lassen und sich vor Ort ein Bild machen". Und sie bedauert, dass ihre Leute keine Kolleg:innen mehr von der "Stuttgarter Zeitung" im Gemeinderat treffen.

Die von der IVW gemeldeten Quartalsauflagen zeigen, dass die Ludwigsburger wohl vieles richtig machen: Vom 3. Quartal 2012 bis zum 3. Quartal 2022, also in einem Jahrzehnt, haben sie in Print und E-Paper zusammen weit unterdurchschnittliche sechs Prozent Auflage verloren – der starke Rückgang im Print wurde durch knapp 11.000 neue E-Paper-Abos fast aufgefangen. Vergleichen wir mit der in etwa gleich großen Stadt Esslingen am Neckar: Dort verlor die "Esslinger Zeitung", im Oktober 2016 von der SWMH übernommen, im gleichen Zeitraum in Print und E-Paper ein glattes Drittel ihrer Auflage. Es wäre spannend gewesen, bei der Diskussion mehr von der offensichtlich erfolgreicheren Arbeit der Ludwigsburger Redaktion zu hören.

Angst vor dem Protokoll?

Als Dake betont, man wolle aus den Gemeinderatssitzungen "kein Protokoll mehr" liefern, regt sich Widerspruch – nicht nur bei den rund 50 Anwesenden, sondern auch bei Aras. Mit Verlaub: Um ein Protokoll ging es auch bei meinen eigenen Texten noch nie. Sondern immer um die Frage: Welche Themen auf der Tagesordnung sind wahrscheinlich relevant? Ja, in einem 1800-Seelen-Ort wie Neidlingen gibt es auch einmal eine Tagesordnung, die den Besuch der Sitzung nicht rechtfertigt, die Genehmigung einer Doppelgarage ergibt normalerweise keinen Aufmacher. Aber in der Tendenz fahre ich lieber hin: Sonst wäre dem "Teckboten" manche Überraschung entgangen, die plötzlich am Ende der Sitzung unter "Verschiedenes" auftauchte.

Ist eine Renovierungsruine, die seit 20 Jahren die Neidlinger Ortdurchfahrt verschandelt, die sich die Gemeinde nun per Vorkaufsrecht wenigstens zu 80 Prozent sichern kann, als Thema sexy? Sicher weniger als die Orgasmusfragen, für die sich die jüngeren Leser:innen der Stuttgarter Blätter angeblich interessieren – so begründet die Stuttgarter Chefredakteurin die zunehmenden Sextexte auf der StZ-Webseite. Das sei nun mal die neue Strategie, man setze jetzt eben Schwerpunkte, ohne dass die StZN "boulevardesker" würden. Die Geschichte über die Ruine landete im öffentlichen Ranking der meistgelesenen Artikel übrigens ganz oben.

Den Leser:innen verpflichtet

Das Feedback von Kolleg:nnen ist wichtig und bei der Arbeit als freier Journalist viel zu selten. Aber letztlich bin ich nicht ihnen verpflichtet, sondern den Leser:innen. Auf ihre Rückmeldung gebe ich deshalb noch mehr: Erkennen sie sich wieder, sehen sie sich mit ihrem Anliegen korrekt und fair wiedergegeben? Auch bei einem anderen Tenor des Artikels?

Als ein älterer Leser meinen Bericht vom Auftritt des Kabarettisten Uli Keuler mit den Worten "genau so isch’s gwä" (genau so war es) kommentierte, war dies das höchste Lob, das ich mir vorstellen konnte. Voraussetzung war natürlich, die komplette Vorstellung selbst zu besuchen. Das ist nicht selbstverständlich: Im Remstal habe ich erlebt, wie der freie Mitarbeiter einer Zeitung in der Pause eines Chorkonzertes ging. Nicht, weil das Konzert so schlecht war, sondern weil das bei dem Unterbezahlten so üblich war. Als ich vor Kurzem eine kleine Buchrezension schrieb, kommentierte der Autor: "Endlich einer, der das Buch gelesen hat."

Laut Berechnungen des Betriebsrats wurden bei den beiden Stuttgarter Blättern in den vergangenen sieben Jahren rund 120 Stellen abgebaut. Kein Wunder, wenn deshalb Themen unbearbeitet bleiben. Oder erst dann angepackt werden, wenn es wirklich nicht mehr anders geht. Als Aras moniert, dass ihre "Heimatzeitung" das Thema geschlossene Bürgerbüros in Stuttgart viel zu spät aufgegriffen habe, obwohl es doch zigtausende Menschen betreffe, räumt Dake ein: "Manchmal sind wir nicht die schnellsten." Und zehn Minuten später behauptet sie, dass die demnächst eingeführten neuen Themengruppen wie "Psychologie und Partnerschaft" und "Auto und Maschinenbau" lokal arbeiten werden. Ganz bestimmt. Wer das machen soll, bleibt unklar.

Der Inhalt entscheidet, nicht die Form

Ob ein Text oder ein Interview auf Papier gedruckt, zur Lektüre online gestellt oder im Hörfunk oder als Podcast zu hören ist, ist nicht entscheidend. Entscheidend ist die Frage, ob es um Journalismus, PR oder Geblubbere geht. Guten Journalismus wird es immer geben, er wandert nur, wenn er am bisherigen Ort nicht überleben kann, woanders hin aus. Als die Stuttgarter Blätter sich nicht für die berechtigte Kritik am – im doppelten Sinn unterirdischen – Stuttgarter Haltepunktprojekt interessierten, entstand Kontext. Im Internet finden sich inzwischen viele andere, die einstmals Gewächse von Konzernmedien waren, und betreiben Qualitätsjournalismus von breiter politischer Couleur.

Apropos Auswanderung: Auch die Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart, so die Direktorin Verena Wodtke-Werner, freute sich einerseits über Verstärkung: "Ich habe drei Leute beschäftigt, alle kommen von der 'Stuttgarter Zeitung' und den 'Stuttgarter Nachrichten'." Andererseits findet sie es "furchtbar".

Ein Hoch auf die "Schmuddelkinder"

Warum saß Kontext eigentlich nicht mit auf dem Podium? Als freier Mitarbeiter kann ich nur spekulieren. Was mir aber auffällt: Die neuen, freien Medien zitieren, loben und kritisieren ganz selbstverständlich ihre "älteren Brüder und Schwestern". Wer etwa die linkssozialdemokratisch geprägten "NachDenkSeiten" liest, bekommt dort in Massen Links auf wichtige Beiträge in den klassischen Medienprodukten. Das neue und ambitionierte, klar konservativ positionierte Internetradio "Kontrafunk" verfährt ebenso. Ich bekenne mich dazu: Beide Kanäle sind für mich so wichtig wie die Tageszeitung. Ohne mit allem einverstanden zu sein, was ich da höre und lese. Hoch lebe die Vielfalt, die schwäbische Dialektik, der nach dem Anhören einer völlig gegensätzlichen Meinung ein erhellendes "So isch’s no au wieder" (für Nichtschwaben: aha, von dieser Seite kann man es möglicherwiese auch betrachten, auch das ist nicht 100 Prozent abwegig) entfährt.

Die Neuen verweisen auf die Alten – umgekehrt funktioniert das leider nicht. Das "Spiel nicht mit den Schmuddelkindern, lies nicht ihre Texte"-Totschweigespiel, das die großen Konzernmedien aktuell gegenüber der jungen und agilen Konkurrenz spielen, wird sich noch bitter rächen. Das zeigt auch die Entwicklung der Zugriffszahlen. In seinem eigenen Blog, sagte vor Kurzem ein einstiger Kolumnist der einst angesehenen "Neuen Zürcher Zeitung", habe er inzwischen mehr Leser als früher in der NZZ. Nochmals: Qualitätsjournalismus bleibt und lebt. Wenn ihn die großen Konzerne nicht mehr haben wollen, dann eben woanders.

 

Peter Dietrich ist über 20 Jahren für verschiedene Tageszeitungen im Lokaljournalismus und "im Auftrag des Herrn" für kirchliche Medien unterwegs. Seit Anfang 2022 arbeitet er in Teilzeit als Redakteur beim Evangelischen Pressedienst.


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4 Kommentare verfügbar

  • Badener
    am 04.11.2022
    Antworten
    „Journalismus […] soll zu Angelegenheiten von öffentlichem Interesse Nachrichten beschaffen und verbreiten, dazu Stellung nehmen und Kritik üben und damit an der Meinungsbildung mitwirken.“

    Man muss es nicht zu trocken-wissenschaftlich aufbereiten: Aber - Die vier Grund-Funktionen des…
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