Ein Top-Ergebnis bei den europaweiten Wahlen im nächsten Juni soll jedenfalls im Zusammenspiel mit den nationalistischen Kräften in Österreich und Frankreich, den Niederlanden oder Schweden und erst recht mit Victor Orbáns Fidesz für neue Mehrheiten im EU-Parlament sorgen. Vor allem will die Partei danach möglichst viel Geld abgreifen, Mammon, wie Sänze sagte, für eigene Vorfeld-Organisationen, für die Partei-Stiftung, für Publikationen und dafür, "den politischen Wahnsinn" der anderen Parteien zu enttarnen, so Anja Arndt (Listenplatz 13) aus Ostfriesland.
Die 56-Jährige ("Ich liebe unser Volk") ist daheim die neue Kreisvorsitzende und hat die Mitgliederzahl binnen Jahresfrist von 86 auf 147 hochgeschraubt. Hinzu kommt ein auffallend gutes Abschneiden bei der niedersächsischen Landtagswahl. Sie hat sehr klare Vorstellungen davon, wie sie Fuß fassen will in der europäischen Politik. Die frühere Gymnasiallehrerin für Politik, Wirtschaft und Sport kündigt an, sich den "Beutelsbacher Konsens" zu Nutze zu machen. Die in der Remstal-Gemeinde getroffene Vereinbarung der Kultusministerkonferenz von 1976 garantiert Schülern und Schülerinnen eine freie Meinungsbildung. Für Arndt heißt das, dass sie ihr EU-Mandat nutzen wird, so lange darüber zu informieren "bis es der Letzte weiß", dass der Klimanotstand "eine wissenschaftliche Fiktion" ist, der Menschen im blinden Gehorsam und "mit Verachtung für Tatsachen" folgten. Sie hingegen werde sich die gezielte Aufklärung junger Menschen auf die Fahnen schreiben.
Und die EVP wanzt sich an die Rechtsextremen ran
Vielleicht richtet sich dieser und sonstiger Wahnsinn selbst, vielleicht kann der gespenstische Hochlauf nicht nur gestoppt, sondern noch umgekehrt werden. Vielleicht sind viel weniger Menschen, als es die AfD erwartet, empfänglich für Botschaften à la "Ursula von der Leyen ist eine grundschlechte und grundböse Frau". Oder: "Diese EU muss sterben, damit das wahre Europa leben kann." Oder: "Wir wollen die letzte Generation von Politikern im europäischen Parlament sein." Aber vielleicht eben auch nicht. Dann ist Standfestigkeit gefragt, vor allem in der Europäischen Volkspartei (EVP).
Stattdessen sucht Manfred Weber (CSU), der Niederbayer an der Spitze der konservativen EVP im Europaparlament, schon seit Monaten die Nähe zu ganz rechts, so als gäbe es gar keine Brandmauer. Er liebäugelt offen mit dem, was er "italienisches Modell" nennt, also die Zusammenarbeit von Bürgerlichen mit äußerst Radikalen. Viele der neuen Verbündeten der AfD in extrem rechten ID sind schon einen großen Schritt weiter.
In Österreich haben die Nationalpopulist:innen von der FPÖ zweimal mit der bürgerlichen ÖVP regiert. Die ehedem ehrenwerte spanische Partito Popular hätte nach den Wahlen vor eineinhalb Wochen ohne Zögern eine Regierung mit der rechtsextremen VOX gebildet, wenn beide eine Mehrheit erreicht hätten im Madrider Parlament. In Schweden landeten die ebenfalls zu Europas bürgerlicher Parteienfamilie gehörenden Moderaterna mit mageren 19 Prozent nur auf Platz drei bei den Reichstagswahlen im Vorjahr, während die Sozialdemokraten um zwei auf 33 Prozent zulegten. Trotzdem wurde Ulf Kristersson von den Moderaten Ministerpräsident, weil er sich von den rechten Schwedendemokraten tolerieren lässt.
Auf solche Entwicklungen und möglichst viele Nachahmer:innen setzt die AfD. "Wir sind nicht klein", brüllt einer der Kandidaten in Magdeburg, "wir wollen keine randständige Partei mehr sein, sondern wir wollen Mehrheit haben gegen die etablierten Parteien, die sich Europa zur Beute gemacht haben." Töne wie diese werden AfD-Listenparteitage künftig insgesamt bestimmen. So werden die besonders Radikalen geradezu in die Parlamente geschwemmt, weil Maß und Zwischenton nicht mehr gefragt sind. "Solange die EU noch besteht und wir Mitglied sein müssen, werden wir dafür sorgen, dass im Parlament deutsch gesprochen wird, deutsch gedacht und politisch deutsch gehandelt", verlangt ein weiterer Kandidat. Und Petr Bystron (Listenplatz zwei), bis zu seinem Einzug in den Bundestag vom bayerischen Verfassungsschutz beobachtet, benutzt ungeniert den Begriff "Globalist" aus dem antisemitischen Zettelkasten.
Listenwahlrecht hilft da auch nicht
Immerhin hat der Verfassungsschutz auch in Magdeburg aufgepasst und wird – nicht nur am kommenden Wochenende – weiter aufpassen. Für dessen Präsidenten Thomas Haldenwang zeigte sich schon nach der Besetzung der ersten 15 Listenplätze, "dass Personen, die in der Vergangenheit mit Positionen aufgefallen sind, die nicht mit unserer freiheitlichen demokratischen Grundordnung vereinbar sind, der AfD-Delegation im kommenden Europäischen Parlament angehören werden". Vertreter des gemäßigteren Lagers hätten so gut wie keine Rolle mehr gespielt, einige gewählte Kandidaten hätten vielmehr "rechtsextremistische Verschwörungstheorien" geäußert.
Und da kommt das Listenwahlrecht ins Spiel. Jörg Meuthen, der frühere Landtagsfraktionschef im Südwesten und inzwischen aus der Partei ausgetretene Europaabgeordnete, meinte vor Jahren, mit dem baden-württembergischen Wahlrecht ganz ohne Liste den Einzug höchst mediokrer Parlamentskollegen erklären zu können, von Wolfgang Gedeon bis Heinrich Fiechtner. In einem Hinterzimmer versammele sich ein Kreisverband, so erläuterte er seine Theorie einmal vor Medienvertreter:innen in Brüssel – "und der eine, der lesen und schreiben kann, wird nominiert". Damals erhoffte sich der Kehler Professor "eine gewisse Normalisierung" durch das angekündigte Listenwahlrecht. Eingetreten ist das Gegenteil. In ihrer Blase legen AfD-Mitglieder, die ein Mandat erlangen wollen, immer noch weiter nach, um sich extremer zu positionieren und zu profilieren. So gesehen wird die Einsicht in die Notwendigkeit, die Brandmauer stehen zu lassen, in den beiden Unionsparteien noch viel wichtiger als sie ohnehin schon ist. Im Interesse Europas, der Republik und in ihrem eigenen.
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Ulrich Hartmann
am 04.08.2023