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Klimaziele in Politik und Theorie

Klimaneutral in 220 Jahren

Klimaziele in Politik und Theorie: Klimaneutral in 220 Jahren
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Wie prosperierende Wirtschafts- und Industrieregionen ihre Versprechen zum Klimaschutz verlässlich einlösen können, ist unklar. Wie es bestimmt nicht funktioniert, offenbart eine neue Studie.

"Wir wollen Baden-Württemberg klimaneutral machen", schreiben Grüne und CDU in ihrem Koalitionsvertrag vor zweieinhalb Jahren. "Klimaneutral" – der Begriff, der so viele Debatten mitbestimmt, kommt insgesamt 52 Mal vor. Im Zusammenhang mit Wind und Sonne, mit der energetischen Sanierung von Landesgebäuden und neuen Wohngebieten, mit den für "spätestens" 2040 angestrebten Netto-Null-Emissionen, mit der Hoffnung auf private Investitionen, eine innovative Industrie oder die Mobilitätswende. Unstrittig ambitioniert sind die Vorgaben, unstrittig auch, wie der alte Plan, mit grünen Ideen schwarze Zahlen zu schreiben, vielerorts erfolgreich umgesetzt wird.

Und doch: Der Kampf gegen die Erderwärmung ist so nicht zu gewinnen. Immer breiter werden die erheblich gewachsenen Zweifel daran diskutiert, dass Länder mit hohem Einkommen und mit hohen CO2-Emissionen pro Kopf tatsächlich schnell genug dekarbonisiert werden können. Auf Wirtschaftswachstum zu setzen und zugleich die Verpflichtungen aus dem Pariser Abkommen zu erfüllen, mutiert zur Quadratur des Kreises. In "The Lancet Planetary Health" haben zwei renommierte Wissenschaftler, Jefim Vogel und Jason Hickel, soeben eine Rechnung veröffentlicht, wonach es bei dem in wohlhabenden Ländern eingeschlagenen Tempo 220 Jahre dauern würde, um das 1,5-Grad-Ziel zu erreichen.

Alle Anstrengungen müssten verzehnfacht werden

Unumstrittene Grundlage im Kampf gegen die Erderwärmung ist die Entkoppelung des Wirtschaftswachstums von Ressourcenverbrauch. Verglichen wurden deshalb die erreichten Entkoppelungsraten von 36 reichen Ländern mit den zukünftigen, die erforderlich wären, um ihre Kohlenstoffbudgets bei anhaltendem Wachstum zu erfüllen. Ermittelt haben Hickel und Vogel, dass die Anstrengungen verzehnfacht werden müssten, dass bei einem "Weiter so" auf bisherigen Abbaupfaden 27 Mal so viel emittiert wird wie im Pariser Abkommen vereinbart, dass alle Anstrengungen um den Faktor zehn erhöht werden müssten. "Das Problem besteht darin", geben die beiden zu bedenken, "dass in jedem Szenario des technologischen Wandels ein Anstieg der Gesamtproduktion und des Gesamtverbrauchs einen höheren Energiebedarf und folglich mehr CO mit sich bringt."

Der eine, Vogel, kommt von der Universität of Leeds in England und beschreibt sich als Experten in der Frage der Neuordnung von Volkswirtschaften, um die Grundbedürfnisse aller zu befriedigen und gleichzeitig einen nachhaltigen Energieverbrauch zu decken. Der andere, Hickel, forschte im spanischen Barcelona und tourt als Vortragender von Uni zu Uni, um das Bewusstsein dafür zu schärfen, dass der Traum vom grünen Wachstum ausgeträumt ist. Gesellschaftliche Entscheidungsträger:innen müssten dringend nach alternativen Strategien suchen, denn: "Wir sind auf einem Irrweg."

Zum grünen Markenkern gehört die Überzeugung vom Gegenteil. Gerade weil Wirtschaftswachstum über viele Jahrzehnte mit großen Schäden an Natur und Umwelt einherging und geht, war die Parole von den profitablen ökologischen Ideen so verlockend. "Damit haben wir die Welt verändert", erinnerte sich Ministerpräsident Winfried Kretschmann in der Euphorie nach seinem Amtsantritt 2011. Unvergessen der Spruch vom dicken Brett, das viele Jahre lang gebohrt worden sei – "und jetzt sind wir durch".

Hickel, Vogel und viele andere wie der emeritierte Umweltökonom Joan Martinez-Alier oder der Kölner Nachhaltigkeitsexperte Joachim Spangenberg erklären zum Teil schon seit Jahren, dass eben diese Einschätzung nicht zutrifft. Ein Team an der Wiener Universität für Bodenkultur hat nicht weniger als 800 Einzelstudien ausgewertet und kommt zu dem Schluss, Wirtschaftswachstum könne gerade nicht auf die erhoffte Weise vom Ressourcenverbrauch entkoppelt werden. "Es geht auch darum zu erkennen, dass unser Lebensstandard sich in dem ausdrückt, was wir täglich benutzen, und nicht in dem, was wir täglich neu kaufen", sagt Spangenberg und fragt in einem seiner vielen Interviews: "Warum hängt unser Sozialprestige daran, dass wir das Neueste zu Hause haben, und nicht daran, dass wir die Dinge möglichst lange benutzen?" Ähnlich weit war Winfried Kretschmann schon vor seiner ersten Vereidigung als Ministerpräsident: "Weniger Autos sind natürlich besser als mehr." Noch ein Kretschmann-Satz also, einer der ihm bekanntlich nicht gut bekam und den er nicht mehr wiederholt, schließlich regiert er eines der drei großen Autoländer der Republik.

Errechnete Sektorziele reichen nicht aus

Transformation heißt schon seit einiger Zeit das neue Zauberwort. "Um Paris-konforme Emissionsreduktionen zu erreichen, müssen Länder mit hohem Einkommen die Wirtschaft auf Suffizienz, Gerechtigkeit und menschliches Wohlergehen ausrichten und gleichzeitig den technologischen Wandel und Effizienzsteigerungen beschleunigen", schreiben dagegen Hickel und Jason. Das Pariser Abkommen enthalte eben nicht nur Klimaziele und Gerechtigkeitsverpflichtungen. Eine ehrliche Eindämmung erfordere neben den technologischen Dekarbonisierungsbemühungen "Strategien zur Verringerung der Nachfrage nach dem Wachstum".

Massiv unter Druck müssten deshalb auch bisher entwickelte Szenarien kommen. Selbst jene für Baden-Württemberg von dem Wissenschaftskonsortium unter Führung des Zentrums für Sonnenenergie- und Wasserstoff-Forschung (ZWS) errechneten Sektorziele – ohnehin hochambitioniert und vom Koalitionspartner CDU skeptisch beäugt. Konflikte in erheblicher Schärfe sind programmiert, wenn zum Beispiel gar nicht mehr ausreicht nur auf Inlandsflüge zu verzichten, freiwillig, später womöglich doch durch Verbot. Ein Vorschlag, für den sich Umweltministerin Thekla Walker (Grüne) schon allein bezogen auf Landesbeschäftigte harsche Kritik eingehandelt hat. Oder wenn es konkret ans Düngen in der Landwirtschaft, sogar an die Rinderbestände geht, die größten Anstrengungen aber zu wenig bringen, um ausreichend Emissionen einzusparen.

Auch die mit 470 Ja-Stimmen am Dienstag zum Auftakt des politischen Herbstes im Europaparlament beschlossene Kurskorrektur für alle 27 Mitgliedsstaaten würden nach Einschätzung der Postwachstum-Apologeten nicht reichen. Jetzt sollen der CO2-Abbau beschleunigt und die bisher 22 Prozent bis 2030 fast verdoppelt werden. Die Frage danach, wie das gelingen kann, umgeht Terry Reintke, die Grünen-Fraktionschefin in Brüssel und Straßburg, mit einer reinen Behauptung: "Es muss machbar sein."

Dabei ist der Praxistest gerade erst reichlich schiefgegangen. Die tumultuarische Geschichte von Robert Habecks Gebäudeenergiegesetz hat vorgeführt, wie schnell politische Mehrheiten dahinschmelzen, sobald die auch massenmedial genährte Furcht um sich greift, der Kampf gegen die Erderwärmung werde alsbald im eigenen Keller und auf dem eigenen Konto ankommen. So gesehen haben es die Fachleute, die die Abkehr vom Wirtschaftswachstum predigen, deutlich leichter. Denn ihre teilweise sehr konkreten Vorschläge – von der Reparatur-Garantie über den Verzicht auf Neubauten selbst mit Recycling-Beton bis zum Veggie-Day sieben Tage die Woche und der Einschränkung des individuellen PKW-Verkehrs – stehen nur auf dem Papier. Noch.


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