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Offener Brief der "Omas for Future"

Bremsen wäre fatal

Offener Brief der "Omas for Future": Bremsen wäre fatal
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Nur 2,4 statt zwölf Milliarden: Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) hat die Bundesmittel für die Kindergrundsicherung extrem gestutzt. Das empört die "Omas for Future" aus Schwäbisch Gmünd so sehr, dass sie einen offenen Brief geschrieben haben, den wir hier dokumentieren.

Wenn für Kinder kein Geld da sei, für Straßenbaumaßnamen aber sehr wohl, dann stimme doch etwas an den Prioritäten nicht, empört sich Regina Wiedemann. Bereits im April hatte FDP-Bundesfinanzminister Christian Lindner gesagt, er sehe wenig finanziellen Spielraum, um Familien mit Kindern stärker zu unterstützen. "Die Aussage von Christian Lindner, dass es am Geld hängt, ob die Kindergrundsicherung kommt, hat mich so sehr geärgert!" Deshalb hat die 65-jährige Kinder- und Jugendpsychotherapeutin gemeinsam mit ihren Mitstreiterinnen Marie Baumann und Ingrid Groer beschlossen, einen offenen Brief an Lindner zu schreiben, um ihn daran zu erinnern, "zukunftsweisende Prioritäten zu setzen".

Regina Wiedemann wohnt in Schwäbisch-Gmünd und ist Mitglied der dortigen Regionalgruppe der "Omas for Future". Gegründet wurden die "Omas" als bundesweite Bewegung 2019 von Cordula Weimann aus Leipzig, dort ist auch heute noch die Zentrale der Initiative. Mittlerweile gibt es über 70 Regionalgruppen in Deutschland, und sogar eine in den Niederlanden und eine in Österreich. Mit allein 19 Gruppen ist Baden-Württemberg ziemlich stark vertreten.

Die grundsätzlichen Ziele der "Omas for Future" sind die gleichen wie bei den "Fridays for Future": Es geht darum, dem Klimawandel und dessen Folgen entgegenzuwirken. Offen ist die Gruppe für alle Menschen über 50 – auch für Opas und solche ohne eigene Enkelinnen und Enkel. Die Omas machen Straßenstände, Infoveranstaltungen, Ausstellungen, im März dieses Jahres gab es eine Baumpflanz-Aktion auf dem Marktplatz von Schwäbisch Gmünd, bei der Wiedemann dabei war.

Aufruf zu mehr Generationengerechtigkeit

Seit dem Klimastreik 2020 sei sie bei den "Omas", erzählt die Gmünderin. Früher sei sie auch immer wieder auf Anti-Atom- oder Umwelt-Demos gewesen, aber das regelmäßige Engagement in einer Initiative sei ihr erst jetzt, da sie beruflich etwas zurückgefahren habe, möglich. Die Gruppe der über 50-Jährigen mache in Deutschland 56 Prozent der Bevölkerung aus, erzählt sie, und tue durch ihre CO-2-intensive Lebensweise viel dafür, dass die kommenden Generationen eine Riesenaufgabe vor sich haben. "Die müssen das alles aufräumen, was wir ihnen überlassen", sagt Wiedemann, "und haben kaum Chancen, das zu schaffen." Eine Lobby hätten Kinder und Jugendliche nicht, "deshalb wollen wir ihnen den Rücken stärken".

In diesem Sinne ist der offene Brief an Lindner auch ein Aufruf zu mehr Generationengerechtigkeit. Es geht darin nicht allein um Klima- und Energiepolitik, sondern auch um Sozialpolitik: Die "Omas for Future" fordern nicht nur eine umfassende Kindergrundsicherung und mehr Investitionen in Bildung, sondern auch ein gerechteres Gesundheits- und Rentensystem und eine umfassende Steuerreform, "in der Einkommen aus Kapital und Vermögen ebenso besteuert werden wie Einkommen aus Arbeit". Und auch an den von der FDP gerne bemühten Freiheitsbegriff wird appelliert: Verzögern und Bremsen bedeute jetzt, "künftig erwartbare Katastrophen, höhere Kosten und damit gravierendere Einschränkungen der Freiheit unserer Kinder und Enkel wissentlich in Kauf zu nehmen".

Bislang ist der Brief nur ein Projekt der Aktivistinnen aus Schwäbisch Gmünd, aber sie hätten ihn auch an die Omas-Zentrale nach Leipzig geschickt, sagt Wiedemann. "Es geht ja darum, dass wir als Omas unsere Enkel aufwachsen sehen", sagt sie, "und dass wir ihnen eine Erde überlassen wollen, die noch lebenswert ist."

Zur Homepage der Omas for Future geht’s hier.

 

Sehr geehrter Herr Finanzminister, sehr geehrter Christian Lindner,

Kinder sind unsere Zukunft. Wir von den "Omas for Future" haben uns als Fürsprecher für eine lebenswerte Zukunft unserer Kinder und Enkel organisiert und wenden uns in höchster Sorge an Sie. Wir fordern Sie als Finanzminister auf, bei der Geldverteilung zukunftsweisende Prioritäten zu setzen. Es ist dringend!

Als Vertreter/innen der älteren Generation, die eine Epoche des stabilen Friedens in Europa und des breit gestreuten materiellen Wohlstands in Deutschland und ebenso die geglückte Wieder-vereinigung unseres geteilten Landes erleben durften, sind wir zutiefst beunruhigt über die Lage unserer Enkelgeneration. Sie wird gewaltige Schuldenberge abtragen und aufgrund der bekannten demographischen Entwicklung riesige Rentenansprüche einer alternden Gesellschaft finanzieren müssen. Außerdem muss sie den Klimawandel bekämpfen und die ökologischen Kosten bezahlen, die unser sorgloser Umgang mit Ressourcen in den vergangenen Jahrzehnten verursacht hat.

In Anbetracht dieser Schieflage kann von einem ausgewogenen Generationenvertrag, auf dem die bisherige Sozialpolitik seit Bismarck basierte, keine Rede mehr sein. Wir nehmen außerdem wahr, dass die Einbußen von Kindern und Jugendlichen während der Corona-Krise bisher nicht ausgeglichen wurden, wie der Ethikrat es angemahnt hat. Sie brauchen angemessene Angebote zur Kompensation psychischer Belastungen und entgangener Freiheits- und Entwicklungsmöglichkeiten infolge der Schulschließungen und rigiden Kontaktbeschränkungen. Grundsätzlich ist es wichtig, dass die junge Generation nicht wiederholt ins Hintertreffen gerät.

In unseren Augen bedeutet Generationengerechtigkeit eine echte Querschnittsaufgabe, die tiefgreifendes Umdenken und konsequentes Umsteuern von politischer Seite erfordert:

Wir alle, doch ganz besonders unsere Kinder und Enkel, sind auf ein funktionierendes Gleichgewicht natürlicher Kreisläufe, auf saubere Luft, auf gutes Wasser und gesunde Nahrung existentiell angewiesen. Es lohnt sich also, in die Zukunft unserer Kinder und Enkel zu investieren, auch wenn wir dafür an bestimmten Stellen Bequemlichkeit und Freiheit bewusst aufgeben müssen. Wir können es uns nicht leisten, die Natur wie bisher grenzenlos auszubeuten und in intakte Naturkreisläufe einzugreifen, denn artenreiche Wälder und Landschaften sind ein unbezahlbarer unwiederbringlicher Schatz, auf den wir alle für unsere Gesundheit und unser Wohlbefinden angewiesen sind und den wir mit unserer Lebensweise aufs Spiel setzen.

Entsprechend plädieren wir dafür, dass Steuergelder nur noch für den Erhalt unserer Ressourcen eingesetzt werden.

Das Pariser Klimaabkommen mit dem 1,5-Grad-Ziel sollte durch die forcierte Abkehr von fossilen Energieträgern rasch umgesetzt werden, wie es junge Menschen in sozialen Bewegungen wie Fridays for Future, Extinction Rebellion und Last Generation vehement einfordern. Zukunftsweisende Formen der Mobilität mit Schwerpunkt auf dem öffentlichen Nahverkehr hätten ein enormes CO₂-Einsparpotential und würden gesundheitliche Folgekosten durch Lärm und Schadstoffbelastung sowie den Flächenverbrauch reduzieren. Sind wir doch an einem Punkt angelangt, wo sich Feinstaub und Ruß aus Reifenabrieb in unserer Nahrung, z.B. im Salat, nachweisen lassen und sich Mikroplastik überall in Luft, Wasser und Böden wiederfindet. Wegen diesem längst erreichten Notstand verbietet sich ein Aus- und Neubau von Autobahnen zugunsten von Investitionen in den ÖPNV-Sektor. Geschwindigkeitsbegrenzungen, wie sie sich in allen anderen Ländern bewährt haben, sind unvermeidlich.

Grundsätzlich leuchtet uns das von Ihnen vertretene Prinzip der Schuldenbremse im Interesse der nachfolgenden Generationen ein. Dennoch gibt es akuten Handlungsbedarf. Dass jedes fünfte unserer heranwachsenden Kinder unterhalb der Armutsgrenze lebt, ist ein Skandal! Die Jüngsten und Schwächsten brauchen Schutz und Unterstützung, damit sie sich gut und gesund entwickeln, ihr Potential entfalten und irgendwann selbst ihren Beitrag zum Funktionieren unserer Gesellschaft leisten können. Sowohl ihre Zurücksetzung bei der Bewältigung der Corona-Krise als auch prekäre Zukunftsaussichten der Jüngeren machen ein grundsätzliches Umdenken zu ihren Gunsten zu einem ethischen Gebot der Stunde.

Eine umfassende Kindergrundsicherung darf nicht am Geld scheitern! Sie ist die Basis für Teilhabe am gesellschaftlichen und kulturellen Leben und für das Einüben von demokratischem Miteinander. Dringenden Bedarf sehen wir neben Investitionen in die Bildung auch beim Gesundheits- und Rentensystem, die demographisch bedingt in Schieflage geraten sind. Sie erholen sich, wenn alle Berufsgruppen bei den Einzahlungen einbezogen werden. Wir bitten Sie ausdrücklich, von einer weiteren aktienbasierten Absicherung des Rentensystems abzusehen, das nicht krisensicher wäre.

Es brächte ein enormes Einsparpotential, wenn alle Subventionen, z.B. für Dienstwagen, abgeschafft würden, so dass Geld in klimaneutrale, öffentliche Mobilität umgeleitet werden könnte. Diejenigen in unserer Gesellschaft, die wenig Ressourcen verbrauchen und geringe CO₂-Emissionen verursachen, weil sie über wenig Geld verfügen, könnten belohnt werden. Ein effektiver Richtungswechsel käme in Gang, wenn zugleich Wohlhabende, die aufgrund ihres Lebensstils den höchsten CO₂-Ausstoß zu verantworten haben, ihren entsprechenden Beitrag leisten würden.

In Anbetracht der riesigen Finanzierungslücken für unsere Nachkommen darf auch eine umfassende Steuerreform, in der Einkommen aus Kapital und Vermögen ebenso besteuert werden wie Einkommen aus Arbeit, kein Tabu sein. Es gibt reiche Menschen in diesem Land, die bereit sind, sich solidarisch an den Kosten der Corona- und Klimakrise zu beteiligen. Es verdient hohen Respekt, dass sich eine Gruppe von Millionären ihrer Verantwortung stellt und in der Initiative "Tax me now" bemerkenswerte, sehr konkrete Vorschläge macht, die Sie aufgreifen und sofort umsetzen könnten!

Verzögern und Bremsen in einer Situation, in der wir die Auswirkungen des Klimawandels bereits deutlich spüren, bedeutet künftig erwartbare Katastrophen, höhere Kosten und damit gravierendere Einschränkungen der Freiheit unserer Kinder und Enkel wissentlich in Kauf zu nehmen.

Die Zeit drängt! Die junge Generation braucht ein deutliches Signal, dass ihre Interessen berücksichtigt werden und ihre Zukunft zählt. Auch Ihre liberalen Wähler haben Kinder und Enkel, um deren Zukunftssicherung im Anbetracht der drohenden Erderhitzung bei unverminderten CO₂-Emissionen sie besorgt sind. Von Wissenschaftlern prognostizierte Klimaveränderungen betreffen alle gleich.

Sie als Finanzminister tragen höchste Verantwortung. Wir appellieren an Sie: Zeigen Sie sich dieser Verantwortung gewachsen. Durch Umsteuerung und Umsetzung der oben genannten Maßnahmen jenseits parteipolitischer Erwägungen könnten Sie zum Vorreiter für eine nachhaltige Krisenbewältigung werden und als Garant für eine lebenswerte Zukunft unserer Enkel in die Geschichte der Bundesrepublik eingehen!

Omas for Future, Regionalgruppe Schwäbisch Gmünd


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3 Kommentare verfügbar

  • Stefan H.
    am 30.08.2023
    Antworten
    FDP-Minister, der 145 Autobahnneubauprojekte durch 80 Naturschutzgebiete bezahlen will, verlangt von den Ländern zu sparen, weil er kein Geld fürs umweltfreundliche Deutschlandticket hat.
    Und anderer FDP-Minister kürzt an der notwendigen Kindergrundsicherung, damit die Wirtschaft gefördert werden…
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