KONTEXT:Wochenzeitung
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Chaoten hier, Chaoten da

Chaoten hier, Chaoten da
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Die Schlagzeilen waren vielleicht etwas überzogen, aber in der Tendenz durchaus zutreffend: "Finanz-Chaot macht ernst: So zerstört der durchgeknallte Chef-Liberale die Zukunft unserer Kinder", titelte die "Bild"-Zeitung, während die "Welt" nur wenig nüchterner vom "Offenbarungseid eines verantwortungslosen Ministerdarstellers" schrieb, und die NZZ von jenseits des Rheins befand, "Olaf Scholz muss sich fragen lassen, wie lange er noch diesen Mangel an Kompetenz und Weitsicht in einem der wichtigsten Kabinettsposten dulden will."

Ja, schon recht, alles völlig fiktiv, man wird sich ja wohl noch ein bisschen in Tagträumen verlieren dürfen. Tatsächlich war es in den vergangenen Wochen nicht Bundesfinanzminister Christian Lindner von der FDP, der medial auf die Nuss bekam, sondern Familienministerin Lisa Paus (Grüne), weil sie Lindners "Wachstumschancengesetz" blockierte und dadurch, so die verbreitete Lesart, für neuen Streit in der Koalition sorge. Und Streit in der Politik mag man ja hierzulande nicht besonders. Kaum ein Wort darüber, dass Paus ihre Kritik schon seit Monaten geäußert und Lindner immer wieder abgeblockt hatte, dass Streit und Blockade also voraussehbar waren, und nur wenig Reflexionen darüber, was es bedeutet, wenn Lindner statt der im Koalitionsvertrag festgeschriebenen zwölf Milliarden Euro für die neue Kindergrundsicherung nur noch zwei Milliarden zur Verfügung stellen möchte. Dass Paus Nachverhandlungen erzwang, brachte dann, naja, statt zwei nun 2,4 Milliarden, aus einem Sechstel von zwölf Milliarden wurde ein Fünftel, immer noch mehr als dürftig. Aber trotzdem noch einmal danke, Frau Paus, dass Sie es wenigstens versucht haben.

Noch vor den Nachverhandlungen hatten sich Mitglieder der "Omas for Future" Schwäbisch Gmünd so über Lindner geärgert, dass sie ihm einen offenen Brief schrieben – den wir in dieser Ausgabe in voller Länge dokumentieren. Mitautorin Regina Wiedemann fragten wir bei der Gelegenheit auch, wie sie die verbreitete Polemik gegen die Klimaaktivist:innen der "Letzten Generation" findet. Nicht nur angesichts einer Einladung bei der Polizeihochschule Villingen-Schwenningen werden diese in manchen Medien nur noch ganz selbstverständlich "Klima-Chaoten" genannt. Diese Polarisierung fände sie schlimm, sagte Wiedemann, denn "eigentlich sind diese jungen Menschen sehr mutig".

Eine Sichtweise, die offenbar auch die Solbach-Freise-Stiftung aus dem niedersächsischen Emmerthal teilt. Weswegen sie der "Letzten Generation" am vergangenen Samstag den mit 5.000 Euro dotierten Preis "Demokratie wagen – Zivilcourage zeigen" verlieh. Prompt brach wieder die notorische Schmäh-Lawine in den sozialen Netzwerken los, und all denen, die jetzt wieder von "Extremisten" oder einer "kriminellen" oder gar "terroristischen Vereinigung" schwadronieren, empfehlen wir die von Kontext-Autorin Johanna Henkel-Waidhofer dokumentierte Einschätzung von Thomas Haldenwang, Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz.

Radio Dreyeckland: Razzien rechtswidrig

Am Ende noch ein kleiner Lichtblick: Am 22. August entschied das Karlsruher Landgericht letztinstanzlich, dass die Hausdurchsuchungen gegen den freien Sender "Radio Dreyeckland" (Kontext berichtete) rechtswidrig waren – und zwar alle, sowohl die in den Wohnungen zweier Mitarbeiter als auch in den Räumen der RDL-Redaktion. "Das Landgericht warnt in seiner Begründung selbst davor, dass die unverhältnismäßigen Durchsuchungen unter Verletzung des Redaktionsgeheimnisses eine erhebliche einschüchternde Wirkung haben können", kommentierte die Gesellschaft für Freiheitsrechte (GFF). Noch nicht vom Landgericht entschieden ist indes, ob sich der angeklagte RDL-Redakteur und Kontext-Autor Fabian Kienert strafbar gemacht hat oder nicht – das muss nun im Hauptverfahren erfolgen. Dieses Strafverfahren sieht die GFF als Beispiel dafür, "dass Staatsanwaltschaften zurzeit besonders scharf gegen vermeintlich linke Aktivist*innen und Akteure vorgehen und dabei immer wieder die Pressefreiheit verletzen". Bleibt zu hoffen, dass die Karlsruher Richter auch hier zugunsten der Pressefreiheit entscheiden.


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