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Einwanderung ausländischer Ärzt:innen

Vom ewigen Warten

Einwanderung ausländischer Ärzt:innen: Vom ewigen Warten
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Während Gemeinden und Krankenhäuser händeringend Ärzt:innen suchen, warten in Baden-Württemberg aktuell 3.000 ausländische Mediziner:innen darauf, ihren Job machen zu dürfen. Aufgehalten werden sie von einer beeindruckend komplizierten Bürokratie.

Im grünen Anästhesisten-Kittel sitzt Marco Marrero in der Küche der Kontext-Redaktion. Er hat zehn Jahre lang studiert, um genau eines zu sein: Arzt. Den Titel in der Tasche arbeitete der 31-Jährige ein Jahr lang als Landarzt in seiner Heimat Venezuela, bevor er im November vergangenen Jahres nach Deutschland kam und hier seine Approbation beantragte. Seitdem wartet Marrero auf die Anerkennung seines Abschlusses.

Dass Deutschland dringend Mediziner:innen braucht, ist bekannt. Knapp 55.000 berufstätige Ärzt:innen gab es 2022 in Baden-Württemberg, mehr als im Jahr zuvor und doch zu wenig, unter anderem weil zu wenig ausgebildet wurden, immer mehr in Teilzeit und immer weniger als Hausärzt:innen arbeiten. Und fast ein Viertel davon war 60 Jahre oder älter. Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) fordert zusätzliche Studienplätze für Medizin an den Universitäten. Marco Marrero und seine Kolleg:innen fordern die schnellere Anerkennung ihrer Studientitel.

Ärzt:innen, die ihr Studium in der EU, in Norwegen, Liechtenstein, Island oder der Schweiz absolviert haben, wird die Berufsqualifikation mehr oder weniger automatisch anerkannt, lediglich das Führungszeugnis sowie sprachliche und gesundheitliche Voraussetzungen werden überprüft. Bei Ärzt:innen aus einem Drittstaat wird untersucht, ob der ausländische Abschluss dem deutschen Medizinstudium gleichwertig ist. Es gibt keine Listen nach dem Motto: Das Medizinstudium in den Staaten X und Y ist gleichwertig, das aus Z nicht. Nein, jedes Zeugnis wird individuell geprüft. Im Fall von Marrero bedeutet das Folgendes: Schritt eins: Er reicht alle benötigten Unterlagen beim Regierungspräsidium Stuttgart ein. Schritt zwei: Beamt:innen des Referats 95 im Regierungspräsidium überprüfen die Unterlagen auf Vollständigkeit. Schritt drei: Marrero legt eine Fachsprachenprüfung bei der Ärztekammer ab. Wenn er die besteht, darf er zwei Jahre als angestellter Arzt arbeiten. Schritt vier: Nun wählt Marrero entweder den Weg über ein Gutachten oder den direkten Weg über die Kenntnisprüfung. Entscheidet er sich für ersteres, prüfen Gutachter:innen in Bonn, ob seine Berufsqualifikation einem deutschen Medizinstudium entspricht. Ist dem nicht so, muss er eine mündliche Kenntnisprüfung ablegen. Oder aber er meldet sich direkt für die Kenntnisprüfung an. Klingt kompliziert, ist es auch. Und dauert vor allem lange – in Baden-Württemberg derzeit bis zu zwei Jahre.

Bundesweit sind bereits 60.000 Ärzt:innen aus dem Ausland diesen Weg gegangen. Dabei könnten es noch viel mehr sein: Allein in Baden-Württemberg warten 3.000 Antragsteller:innen derzeit auf die Bearbeitung ihrer Anerkennungsanträge – 2.700 von ihnen kommen aus Drittstaaten. "Die Bürokratie hier ist total dysfunktional", sagt Marrero und schiebt seine Brille mit Halbrandfassung hoch. Der gewiefte Arzt befindet sich bei Schritt zwei – seit Dezember 2022. Wie lange er noch auf die Zulassung zur Fachsprachenprüfung warten muss, weiß er nicht.

Zehn Beamt:innen gegen 2.700 Anträge

Die zuständige Anerkennungsstelle in Baden-Württemberg, das Referat 95 des Regierungspräsidiums Stuttgart, sieht die Ursache des Problems in erster Linie bei den Antragstellenden. Referatsleiter Clemens Homoth-Kuhs schätzt, dass in mehr als 90 Prozent aller Fälle die Unterlagen unvollständig eingereicht würden. "Wenn Unterlagen nicht vollständig vorgelegt werden und/oder auf Anforderung weiterer Unterlagen nicht reagiert wird, verzögert sich ein Verfahren leider unnötig", schreibt das Regierungspräsidium auf Kontext-Anfrage.

Marrero sieht darin eine "Ausrede der Bürokraten", lediglich sein B2-Sprachzertifikat konnte er erst im Januar nachliefern. Seitdem liegen seine Unterlagen dem Referat 95 vollständig vor. "Die Beamten öffnen die Akten nach acht Monaten und dann fällt ihnen auf, dass der Lebenslauf zu alt oder nicht mehr aktuell ist", sagt er. Ist ein aktualisiertes oder fehlendes Dokument eingereicht, dauere es laut Marrero erneut drei bis vier Monate, bis dieses geprüft werde.

Unbestreitbar verantwortlich für die lahmende Anerkennung ist der seit Jahren immense Anstieg an Anträgen, verursacht durch verstärkte Zuwanderung, den Fachkräftemangel und die Anwerbungen ausländischer Fachkräfte etwa durch Kliniken, aber auch durch die Politik. Allein von 2021 auf 2022 sind die Anträge auf Approbation von Ärzt:innen aus Drittstaaten von 760 auf knapp 1.220 angestiegen. Hinzu kamen rund 980 Anträge auf Erteilung einer vorläufigen Berufserlaubnis und rund 500 Approbations-Anträge von EU-Bürger:innen. Macht insgesamt 2.700 Anträge. Im Referat 95 sind dafür zehn Personen zuständig, alle Stellen seien besetzt, der Krankenstand "weit unterdurchschnittlich", die Mitarbeitenden aber "außerordentlich gefordert", schreibt die Pressestelle des Regierungspräsidiums.

Wer nicht schwäbisch kann, ist raus

Neben Marrero sitzt Elif Yelken (Name geändert), schenkt sich Kaffee nach und lächelt zauberhaft. Ihren echten Namen will die junge Frau nicht in der Zeitung lesen, da sie Nachteile für ihr Anerkennungsverfahren befürchtet. Auch Yelken ist Ärztin. Abgeschlossenes Medizinstudium in der Türkei, vier Jahre Berufserfahrung, 33 Jahre jung, höchst motiviert. Die volle Palette und trotzdem seit über zweieinhalb Jahren arbeitslos in Deutschland. Sie kam Anfang 2020 mit einem Sprachkurs-Visum aus der Türkei hierher, lernte Deutsch und beantragte im Oktober 2022 die Anerkennung ihres Abschlusses. Ihre Unterlagen waren von Anfang an vollständig. Vergangene Woche, fast elf Monate später, kam endlich die erfreuliche Nachricht: Die Unterlagen wurden geprüft, die Anmeldung zur Fachsprachenprüfung wurde vorgenommen – Schritt drei also.

Marrero hat viel recherchiert, mit vielen Betroffenen geredet, auch jetzt fällt ihm sofort eine Anekdote ein: Eine Freundin von ihm aus Venezuela habe in Madrid studiert und dann ihre Approbation in der Schweiz sowie in Deutschland, Baden-Württemberg, beantragt. Beim Arzt-Patienten-Gespräch, das zu der dreiteiligen Fachsprachenprüfung gehört, spielte einer der Prüfer, ein erfahrener Arzt, den Patienten – die zu prüfende Ärztin sollte eine Anamnese durchführen. Soweit alles normal. Aber: Die Ärztin verstand den "Patienten" nicht, denn dieser habe sich geweigert, hochdeutsch zu sprechen und stattdessen mit Floskeln im feinsten Schwäbisch um sich geworfen. Die Ärztin fiel durch. Der nächste Prüfungstermin wurde erst auf sechs Monate später gelegt, denn Schwäbisch sei nun mal eine schwierige Sprache, habe der Prüfer gesagt. Doch die Schweiz war schneller, hat sie anerkannt. Dort arbeitet die Ärztin nun und ist sehr zufrieden. Über so viel Absurdität können Yelken und Marrero nur noch lachen.

Ihre Arbeitgeber warten auf sie

Zur langsamen Anerkennung und den vielen Schritten bis zur Approbation kommen in vielen Fällen Probleme mit dem Aufenthaltsrecht hinzu. Mit seinem derzeitigen Sprachkurs-Visum darf Marrero weder arbeiten noch aus Deutschland ausreisen noch ist er krankenversichert. Dabei hat er seit März eine Jobzusage als Laborassistent im Deutschen Krebsforschungszentrum in Heidelberg. Für ihn wäre das eine geeignete Überbrückung bis zur Berufserlaubnis – aber da spielt die Bürokratie nicht mit.

Ärztin Yelken hat zwar eine Arbeitserlaubnis wegen ihres Familienvisums, da auch ihr Mann hier lebt und arbeitet. Aber: "Ich könnte damit als Putzfrau in einem Krankenhaus arbeiten", sagt sie. Das will sie nicht, zumal sie bereits einen Arbeitsvertrag hat für eine Stelle in einem ländlichen Krankenhaus in der Region Stuttgart. Vertragsbeginn: Anfang Dezember 2022. Immer wieder habe der Chefarzt bei ihr nachgefragt, wie es mit ihrer Anerkennung vorangehe. Ihre Antwort: "Ich warte." Bei der nächsten Nachfrage dasselbe: "Ich warte, ich warte, ich warte immer noch." Mittlerweile seien die Nachfragen seltener geworden, auch sie melde sich nicht mehr oft. Gebe ja eh nichts Neues zu berichten, sagt sie schulterzuckend.

Yelken will nach der Fachsprachenprüfung auf die Kenntnisprüfung verzichten in der Hoffnung, dass ihr Gutachten durch einen Sachbearbeiter positiv ausfällt. Für knapp 4.000 Euro habe sie ihr Curriculum übersetzen lassen und zwei Kilo Papier nach Bonn geschickt, wo das Ganze auf Gleichwertigkeit geprüft wird. Dazu kommen 420 Euro für die Fachsprachenprüfung, etwa 2.000 für das Gutachten und 300 Euro Verwaltungsgebühren. Lediglich die 800 Euro für die Kenntnisprüfung kann sie sich sparen, wenn alles gut läuft. Eine einmalige Unterstützung von 1.500 Euro habe sie bereits erhalten. "Ich bin günstiger als eine Medizinstudentin für den Staat", sagt sie und lacht. Trotzdem sei dieses System "ziemlich schlecht für Deutschland". Ihr Mann müsse wegen ihrer Situation weniger Steuern bezahlen, sie selbst würde Steuern zahlen, dürfte sie endlich arbeiten.

Für Marrero ist es schwieriger, er häuft hier Schulden an, etwa 1.000 Euro pro Monat bringt sein Bruder für ihn auf. "Über einen Asylantrag bekäme ich mehr Unterstützung als ein ausländischer Arzt, der hier arbeiten möchte", sagt Marrero. Es gibt zwar ein wenig staatliche finanzielle Förderung für Anerkennungsverfahren, doch auch hier gilt: möglichst kompliziert und bürokratisch.

Selbst ist der Sachbearbeiter

Das Regierungspräsidium Stuttgart reagiert seit Jahren auf die steigenden Aufgaben: mit mehr Personal, mit Abordnungen aus anderen Bereichen, sogar bereits pensionierte Beamt:innen springen ein. Weitere Ressourcen seien trotzdem nötig, betonte Regierungspräsidentin Susanne Bay beim Runden Tisch zur "Zuwanderung in die Gesundheits- und Pflegeberufe in Baden-Württemberg", der im Juli erstmals tagte. Justiz- und Migrationsministerin Marion Gentges (CDU) kündigte bei dem Treffen eine Zentrale Ausländerbehörde an, die Arbeitseinwanderungsanträge schneller bearbeiten soll: "Um die Effizienz dieser Behörde noch zu verbessern, soll sie ausschließlich digital arbeiten."

Da zu erwarten ist, dass die angekündigte Effizienz noch auf sich warten lassen wird, haben Marrero und Yelken einen anderen Vorschlag: "Sie könnten ja uns für zwei Jahre als Beamte anstellen." Ein Scherz? Keineswegs. Marrero checkt jeden Tag die Stellenausschreibungen des Regierungspräsidiums, um sich eventuell irgendwann beim Referat 95 zu bewerben. Sollte er bis dahin nicht seine Approbation in der Hand halten.


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5 Kommentare verfügbar

  • Till
    am 04.09.2023
    Antworten
    Es stellt sich natürlich immer auch die Frage, ob Fachkräfte aus anderen Ländern oder gar Erdteilen so qualifiziert sind, wie wir das erwarten. Meine Hausärztin hat mir erzählt, sie habe eine Ärztin aus Südamerika zum Praktikum in der Praxis gehabt. Der Kenntnisstand sei erschreckend gewesen, so…
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