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Die Versuchung des Autoritären

Die Versuchung des Autoritären
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Beweist COVID-19 gerade, dass autoritäre Systeme im Krisenmanagement besser sind? Einen solchen Schluss fände unser Autor fatal. Er plädiert dafür, sich gerade jetzt auf die Stärken der liberalen Demokratie zu besinnen. Und aufzupassen, dass sich Krisenverordnungen nicht verstetigen.

Festzustellen, dass die Corona-Krise eine politische Krise sei, ist eigentlich eine Banalität. Diese Stadt reagiert so, jenes Land so, mal kommen die Verordnungen früher, mal später, hier wurden effektive Maßnahmen ergriffen, dort nur halbherzige, und so weiter. Doch die Fokussierung auf das tagesaktuelle Klein-Klein des Krisenmanagements verstellt den Blick auf die eigentliche politische Tragweite der Pandemie in mittel- und langfristiger Sicht. Was sich abzeichnet, ist ein neuerlicher Wettbewerb der politischen Systeme und Mentalitäten.

Sollte es autoritären und totalitären Staaten gelingen, die Krise besser in den Griff zu bekommen als liberaldemokratischen – wobei Nachrichten aus ersteren bekanntlich mit Skepsis zu genießen sind –, wird das Folgen für die ohnehin in Bedrängnis geratenen liberalen Demokratien haben. Autoritäre und totalitäre Charaktere werden COVID-19 als Beweis dafür instrumentalisieren, dass die liberale Demokratie nicht nur mit Blick auf Krisenmanagement alt und schwach geworden sei, sondern dass es sich allgemein um ein in die Jahre gekommenes Schönwettersystem handle. Ist die Weltgesundheitsorganisation WHO nicht voll des Lobes für China?

Deshalb ist es so wichtig, dass hierzulande jedeR Einzelne auch einen politischen Beitrag leistet. Es geht nicht nur darum, sich selbst und seine Angehörigen über die Runden zu bringen und gesundheitlich unbeschadet davonzukommen. Es geht auch darum, in der Konfrontation mit der Krise ein Bewusstsein dafür zu entwickeln, dass wir Teilhaber eines historisch jungen, immer noch fragilen politischen Systems sind und alle mit unserem Verhalten zu dessen Gedeih und Verderb beitragen. Anderswo kann Verantwortung an Führerfiguren delegiert werden. Hier tragen alle mit. Im schlimmsten Fall führt die Krise dazu, dass ein apolitisches Biedermeier entsteht, der erzwungene Rückzug ins Private sich verstetigt, der grassierenden Tribalisierung – also der Orientierung auf die "eigene Gruppe" und Abgrenzung von anderen – ein Schub verliehen und die Autorität von Behörden und Experten unangemessen gestärkt wird.

Eigenverantwortung und Solidarität feiern!

Die Corona-Krise böte aber auch eine Gelegenheit, Colin Crouchs Diagnose, die kurze Hochphase der sozialstaatlich organisierten liberalen Demokratien nach dem Zweiten Weltkrieg sei in eine "Postdemokratie" gemündet, zu durchkreuzen. Der britische Politikwissenschaftler argumentiert, die westlichen liberalen Demokratien seien nurmehr formal liberaldemokratisch, nicht aber von echtem liberaldemokratischem Willen und echtem liberaldemokratischem Engagement getragen. Von Solidarität ganz zu schweigen. Gerade jetzt wäre es an der Zeit, sich auf die Stärken der liberalen Demokratie zu besinnen, sie zu leben, sie zu feiern – Stärken, die nicht im Diktat einer Machtzentrale, sondern in der freiwilligen Zusammenarbeit, im selbstständigen Mitdenken und Mitmachen, in nicht-erzwungener Solidarität an der Basis liegen.

Wenn aber Berlin Corona-Partys anberaumt oder die Gelbwesten in Frankreich trotz der Pandemie demonstrieren, dann ist das weit entfernt nicht nur von liberaler Eigenverantwortung, sondern auch von klassischen linken Tugenden wie Vernunft und Solidarität. Trump ist da konsequenter und hält sich brav ans rechtspopulistische Drehbuch – das Virus sei "ausländisch" und die US-Administration mache einen großartigen Job. Wobei, "rechtspopulistisch" – der Kommunist Xi Jinping hat sich in China auf dieselbe Strategie verlegt. Immer, wenn man das Hufeisen gerade verschrotten will ...

Am Beispiel der USA tritt die fundamentale politische Dimension der Krise noch in anderer Hinsicht zutage. Wenn es vielen Amerikanern gar nicht möglich ist, ohne finanziellen Ruin temporär von der Arbeit fernzubleiben; wenn sie sich deshalb trotz gesundheitlicher Beeinträchtigung in die Öffentlichkeit begeben, dann können sie auch nicht frei, vernünftig und verantwortungsvoll handeln. Hier zeigen sich die wahren Qualitäten dessen, was libertäre Populisten als "Nanny-Staat" verunglimpfen. Ein liberaldemokratischer Sozialstaat entmündigt eben nicht zwingend; vielmehr schafft er oft erst die Bedingung der Möglichkeit für die Einzelnen, freie und sinnvolle, auf Vernunfturteilen und Empathie basierende Entscheidungen treffen zu können.

Bei Verschwörungstheorien: dagegenhalten

Anstatt lächerliche Artikel zu publizieren, wie man während einer paarwöchigen Quarantäne nicht an Langeweile stirbt – Stichwort Wohlstandsverwahrlosung – oder sein Erspartes in die – dialektisch immerhin schlüssige – Kombination von Klopapier und Dosenwurst zu investieren, sollte man die Corona-Krise somit als Schleifstein für die Schärfung des eigenen politischen Bewusstseins nutzen und dieses auch öffentlich kommunizieren. Etwa in den sozialen Netzwerken. Es genügt nicht, dort keine Verschwörungstheorien zu verbreiten, sich vornehm zurückzuhalten. Man muss aktiv dagegenhalten, muss helfen, substanzielle Beiträge zu verbreiten, muss niederträchtige Posts, die die Krise für reaktionäre oder sonstige ideologische Zwecke missbrauchen, kontern.

Auf Teilen von Twitter läuft bereits das übliche klientelistische Laientheaterprogramm. Autolobbyisten nutzen die Krise, um gegen den öffentlichen Personenverkehr mobil zu machen. Nationalisten rufen: weniger Ausländer, weniger Viren! Kapitalismuskritiker sehen in der Krise eine kapitalistische, Globalisierungskritiker eine globalistische und Säkularisierungskritiker, natürlich, eine Strafe Gottes. Und immer so weiter. Hellsichtig twitterte hingegen Nasir Ahmad: "In Zeiten des #coronavirus sind wir als Menschheit gefragt. Können wir es schaffen den Krieg ggn etwas zu gewinnen, das nicht 'links', 'rechts', 'islamistisch', 'faschistisch' usw. ist? Können wir es schaffen als #Menschheit zsm zu arbeiten & zsm zu halten? Ist das möglich?" Hinzugefügt werden sollte, dass Krisen, die eine ganze Gesellschaft betreffen, nur temporär politische Differenzen überlagern. Sie sind keine Alternative zu aufreibenden demokratischen Prozessen. Wenn der gemeinsame Gegner erst einmal weg ist, brechen die alten Grabenkämpfe umso heftiger wieder aus.

Not macht erfinderisch

Auch jenseits der virtuellen Öffentlichkeit sollte die Krise ein Ansporn sein, aktiv und kreativ zu werden. Dies ist keine Zeit für Zerknirschtheit und Selbstzweifel. Als Soundtrack der kommenden Wochen und Monate könnte Lou Reeds "There Is No Time" (1989) dienen: "This is no time for private vendettas / This is no time to not know who you are / Self knowledge is a dangerous thing / The freedom of who you are / This is no time to ignore warnings / This is no time to clear the plate / Let's not be sorry after the fact / And let the past become our fate."

Wenn der Philosoph Nils Markwardt auf Twitter schreibt: "Wer in den nächsten 5 Wochen nicht per Fernkurs Mandarin, Isländisch und Suaheli lernt, sich Harfe spielen beibringt sowie das Modul 'Makroökonomik II' abschließt, ist dann natürlich auch n bisschen selbst schuld. Jetzt zeigt sich, wer das Mindset eines Machers hat, klar", dann ist das einerseits ein guter Witz. Und andererseits absolut einleuchtend, absolut ernst zu nehmen – wenn die Aktivitäten denn nur über den privaten Zugewinn hinausreichen. Jeder Riss in der Trägheit des Alltags eröffnet die Möglichkeit, den Alltag neu zu denken, sich selbst zu hinterfragen, neue Kenntnisse und Kompetenzen aufzubauen, die im besten Fall, früher oder später, allen zugute kommen. Ein bisschen Not macht, im Gegensatz zum Elend, erfinderisch. Und COVID-19 ist, im historischen Vergleich, nur ein bisschen Not. Das Virus lässt also viel Raum für Erfinderisches. Genau davon lebt die liberale Demokratie.

Ausnahmezustand wird leicht Normalzustand

Last, but not least ist es angebracht, wachsam zu bleiben. Die drastischen Maßnahmen, die nun ergriffen werden – werden sie zeitlich begrenzt bleiben? Werden manche Regierungen sie für autoritäre Experimente nutzen oder sie als Feigenblätter für eine Renaissance des Nationalismus missbrauchen? Auch hier muss gelten: Die Krise ist politisch und muss von einem geschärften politischen Bewusstsein jenseits privaten Opportunitätsdenkens begleitet werden. Die Erfahrung lehrt, dass so manche Krisenverordnung nach dem Ende der Krise beibehalten wird. Dass der Ausnahmezustand schleichend zum Normalzustand wird. So verhält es sich mit der Rasterfahndung, die als Reaktion auf den linksextremistischen Terror der 1970er-Jahre eingeführt wurde. Und so verhält es sich mit der historisch beispiellosen Bespitzelung von Bürgern, der umfassenden Überwachung ganzer Gesellschaften durch den Staat nach den islamistischen Terroranschlägen des 11. Septembers 2001. Eine Immuntherapie gegen die Versuchung des Autoritären und Paternalistischen steht noch aus.


Jörg Scheller ist Professor für Kunstgeschichte im Departement Fine Arts der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK) und regelmäßiger Gastdozent an der Kunsthochschule Poznań, Polen. Seine Essays erscheinen unter anderem in der "Zeit", NZZ, FAZ und "Camera Austria". Seit 2003 ist er Sänger und Bassist des Metal-Duos Malmzeit und betreibt einen Heavy-Metal-Lieferservice. Er twittert unter twitter.com/joergscheller1.


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