Das komplizierte Erbe des Christoph Nix
Karin Becker tritt in die Fußstapfen von Christoph Nix. Der leitete das Theater Konstanz 14 Jahre lang auf seine ganz eigene Weise. Nimmt man Zuschauerzahlen und Schlagzeilendichte zum Maßstab, dann waren das außerordentlich erfolgreiche Jahre. Meistens kamen um die 100.000 ZuschauerInnen pro Spielzeit in die drei Spielstätten des Konstanzer Theaters. Auch überregional brachte Nix sein Haus immer mal wieder in die Medien. Nicht jede Aktion war glücklich, aber: Christoph Nix verstand es, sein Theater nach außen zu verkaufen.
Der Preis dafür war allerdings oft hoch: Innere Verwerfungen lähmten den Betrieb gelegentlich. Die Belegschaft war nicht immer glücklich mit den bisweilen sprunghaften Entscheidungen ihres Chefs. Und auch mit politischen Entscheidern in der Stadt gab es regelmäßig Streit. Mal aus nachvollziehbaren Gründen, mal eher unnötig. Nix hatte irgendwann in seiner Intendanz Gefallen daran gefunden, sein Theater als Ort der außerparlamentarischen Opposition zur Stadtpolitik zu verstehen. "Wenn es die anderen nicht machen, dann bleibt einem nichts anderes übrig! Einer muss den Job ja machen", sagte er in einem Interview.
Nach der Wahl von Karin Becker gab es Befürchtungen in der Stadt, das Theater könnte mit ihr, einer Frau, die nicht aus dem Regiefach, sondern aus der Theaterverwaltung kommt, nun zu brav werden. Becker hat auf ihre Art darauf geantwortet. Mit einem Spielplan, der sich nicht davor scheut, kritische Fragen zu stellen und in die Auseinandersetzung zu gehen.
Das Theater als Ort respektvollen Streitens
Unter anderem ruft sie dafür die Gesprächsreihe "Lasst uns reinen Tisch machen" ins Leben, in der BürgerInnen über aktuelle Themen streiten sollen. Das Ziel: Austausch fördern, Filter-Bubbles umgehen, miteinander sprechen, zuhören. "Dem anderen mit Respekt und Achtung begegnen, auch wenn er eine andere Meinung hat", sagt die Intendantin. Ihr besonderes Augenmerk gilt der Sprache. Gerade angesichts des verrohenden öffentlichen Diskurses: "Wir müssen wieder mehr darauf achten, welche Worte wir in welchem Kontext verwenden", sagt Becker und meint, Theater könne zur Sensibilisierung beitragen.
Becker stammt aus Stuttgart, sie ist seit fast 30 Jahren im Theaterbetrieb. Angefangen hat sie bei der Württembergischen Landesbühne Esslingen, dem Jura Soyfer Theater in Wien und dem Theaterhaus Stuttgart, später arbeitete sie am Schauspiel des Staatstheaters Stuttgart als Produktionsleiterin und Disponentin. Zuletzt war sie künstlerische Betriebsdirektorin am Thalia Theater in Hamburg.
Karin Becker ist überzeugt davon, dass Theater sich einmischen muss in gesellschaftliche Debatten: "Ich bin absolut dafür, mutig zu sein. Es ist in unserer Zeit wichtiger denn je, den Mund aufzumachen gegen Entwicklungen, die einem Sorgen bereiten. Dinge, die gesagt werden müssen, müssen auch gesagt werden", findet die Intendantin. Das merkt man auch ihrem Spielplan an. Das Eröffnungsstück ihrer Spielzeit ist "Jeder stirbt für sich allein" nach dem Roman von Hans Fallada. Eine Geschichte über ein Ehepaar, das nach dem Tod ihres Sohnes im Krieg zu Gegnern des Nazi-Regimes wird. Und am Ende hingerichtet wird. Der Stoff geht zurück auf die wahre Geschichte des Berliner Arbeiterehepaars Otto und Elise Hampel.
Das gesamte Programm steht unter dem sehr offenen Spielzeit-Motto "Einmal Welt, bitte!" Was darunter zu verstehen ist, erklärt Karin Becker so: "Wie gehen wir mit unserer Welt, den Ressourcen, der Umwelt um? Wie gehen wir miteinander um? Welche Werte vertreten wir? Wer ist eigentlich "wir" und wer gehört dazu? Diese Fragen lassen sich auch weiterdenken und ins Utopische spinnen. Und das Theater versteht sich dabei als Sprachrohr der Gesellschaft." Ein Instrument dafür: das neue Stadtensemble. Menschen zwischen 16 und 99 aus der Region sollen hier ein halbes Jahr lang ein eigenes Stück auf der Grundlage von Ödön von Horváths "Hin und her" entwickeln.
Frischer Wind am Bodensee
Auch sonst findet sich im neuen Spielplan vieles, das Lust macht auf Theater. Heinrich Bölls "Katharina Blum", "Wer hat Angst vor Virgina Woolf?" von Edward Albee, "Farm der Tiere" von George Orwell, die Oscar-Wilde-Komödie "Der ideale Mann". Auch Elfriede Jelinek ("Das Licht im Kasten"), Leo Tolstoi ("Anna Karenina") und William S. Burroughs ("The Black Rider") kommen auf die Bühne. Dazu noch spannende Stückentwicklungen wie der Stadt-Theaterrundgang "Generation Extinction" oder "Nibelungenleader", die aktuelle gesellschaftliche Debatten aufgreifen rund um Klimakrise, Gendergerechtigkeit und die Frage, wie wir heute miteinander leben wollen. Nach 14 Jahren unter Christoph Nix verspricht das neue Spielzeitheft frischen Wind. Aufbruch ist wieder spürbar am Bodensee.
Das hat auch mit dem neuen Geist im Leitungsteam des Stadttheaters zu tun. Denn: Karin Becker ist zwar die Intendantin, kommt aber mit einem Team. Viel mehr Frauen als bislang werden das Profil des Hauses prägen. Chefdramaturgin Doris Happl kommt aus Wien, die Dramaturginnen Romana Lautner, Hannah Stollmayer und Meike Sasse sind ebenso neu wie die künftige Hausregisseurin Franziska Autzen. Einziger Mann im Leitungsteam wird der neue Chef des Kinder- und Jugendtheaters, Kristo Šagor. Auf der Bühne wird sich das neue, weiblichere Bild des Theaters ebenfalls zeigen: Das 26-köpfige Schauspielensemble ist paritätisch zusammengesetzt. Und: Im März 2021 soll erstmals das Frauentheater-Festival "Let’s ally" starten.
Ihre eigene Rolle in ihrem Leitungsteam sieht Karin Becker dabei vor allem als "Kunst-Ermöglicherin". Die 52-Jährige wird in der ersten Spielzeit keine Regie-Arbeit übernehmen, sondern sich darauf konzentrieren, die richtigen Menschen zusammenzubringen. Damit unterscheidet sie sich fundamental von ihrem Vorgänger Christoph Nix. Der verstand seine Intendanz noch im Wesentlichen als One-Man-Show. Karin Becker setzt wohl lieber auf Kooperation als auf Konfrontation. Auf Vergleiche mit Nix will sie sich aber gar nicht erst einlassen: "Herr Nix hat hier 14 Jahre einen tollen Job gemacht. Aber es war seine Wegstrecke und wir müssen jetzt unseren eigenen Weg gehen", sagt Becker.
Statt Videos: Vorstellungen auch vor nur 50 Leuten
Die größte Herausforderung für ihre erste Konstanzer Spielzeit hat sechs Buchstaben: Corona. Als Antwort auf die Frage, wie Theater in Zeiten der Pandemie möglich sein kann, gibt es ein umfangreiches Hygienekonzept. Dessen augenfälligste Konsequenz: Etliche Sitze wurden im großen Saal des Stadttheaters entfernt, um die geforderten Mindestabstände einhalten zu können. Statt 400 werden künftig maximal 97 ZuschauerInnen eingelassen. Auch in den beiden anderen Spielstätten, Spiegelhalle und Werkstatt, gibt es nun deutlich weniger Sitzplätze.
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