Sehr alte Fotos hängen im Kunstbezirk, dem Ausstellungsraum im Stuttgarter Gustav-Siegle-Haus, an den Wänden: unregelmäßig schwarz die Ränder, nicht ohne Kratzer, Flecken und Schlieren. Doch halt – die Turmspitze der Johanneskirche ist weg, die Aufnahme muss also nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden sein. Zum Feuersee führen Stufen hinab, auf denen Leute sitzen; das engt den Datierungszeitraum weiter ein. Und da sind auch Porträts der Künstler Julia Wenz und Peter Franck, und ein Foto vom Kayoticmobil, einem dreißig Jahre alten Dreirad-Kleinlaster der italienischen Marke Ape, der auch im Ausstellungsraum steht.
In Wirklichkeit sind die Schwarzweißfotos auf 18 mal 24 Zentimeter großen Aluminiumplatten überhaupt nicht alt, sondern erst im Laufe des letzten Jahres entstanden. Mit der Ape waren Wenz und Franck bereits 2019 im Stadtraum unterwegs. Unter der Plane der Pritsche befand sich das Labor. Dieses Jahr hatten sie geplant, mit vergrößerten historischen Fotos aus dem Stadtarchiv vor Gebäude zu fahren, die heute so nicht mehr existieren, um Passanten vor diesem doppelten Hintergrund, heute und einst, zu porträtieren. Dann kam Corona dazwischen.
Tatsächlich strömen immer sehr viele Menschen zusammen, wenn die beiden mit ihrem Kayoticmobil irgendwo auftauchen, die alte Plattenkamera auspacken und die belichteten Platten unter der Plane auf der Pritsche entwickeln. Deshalb mussten sie ihr Programm modifizieren. Während andere Künstler aufgrund der Corona-Regeln die geschlossenen Räume verlassen, brachten sie ihre Ape in den Kunstbezirk, wo sie eigentlich nur ihre Ergebnisse hatten zeigen wollen. Dafür machen sie nun den Ausstellungsraum zum Experimentierlabor.
Zeitreise zu den Ursprüngen der Fotografie
Das Verfahren haben Wenz und Franck von einer amerikanischen Künstlerin in Rochester im Staat New York gelernt. Alles begann noch ein wenig früher, vor sechs Jahren, als sie beide zu einer Künstlerresidenz im Schloss Salem am Bodensee eingeladen waren. Beide haben in Stuttgart studiert, aber nicht nur und nicht zur selben Zeit, und sich erst in Salem kennengelernt. Seit 2010 gibt es das Künstler-Austauschprogramm Salem2Salem zwischen Salem am Bodensee und dem Kunstzentrum Salem Art Works im Staat New York. Während ihres Sommeraufenthalts trafen sie auch auf zwei amerikanische KünstlerInnen, die vom Niedergang der Stadt Rochester erzählten. Und so begann ihre gemeinsame Entdeckungsreise in die Geschichte der Fotografie.
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