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Schaut in ihre Gesichter!

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 Fotos: Heike Schiller 

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Datum:

Im Stuttgarter Heusteigviertel gibt es Menschen wie Claudia, Micha und Rosa. Die hier kochen, Zeitungen und Fisch verkaufen. Das war und ist schwer, aber unterkriegen lassen gilt nicht. Die Fotografin Heike Schiller hat ihnen auf ihre Art geholfen: mit großen Porträts. Für Kontext hat Schriftsteller Wolfgang Schorlau seine Gedanken über sein Viertel beigesteuert.

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Klar, man kann die Fotos, die Heike Schiller in den letzten Wochen im Heusteigviertel geschossen hat, als reine Dokumentation betrachten. Man sieht, wie einige Bewohner des Viertels sich gegen die Krise stemmen, die durch die Pandemie unvermittelt über uns hereingebrochen ist. Doch mit dieser schlichten Lesart wird man den Bildern nicht gerecht.

Heike Schillers Fotos berühren etwas in uns auf eine zutiefst menschliche Art. Sie erinnern uns, rufen etwas in uns wach, das über den ersten Eindruck hinaus geht. Besteht dieses Gefühl der Erinnerung darin, dass in den Bildern die Struktur eines Stadtviertels, das auch meines ist, geradezu plastisch hervortritt? Wird in uns wachgerufen, dass das Heusteigviertel mehr ist als eine Ansammlung von Häusern und Wohnungen, die ihre Bewohner morgens hastig hergibt und sie am Abend müde wieder aufnimmt?

Die Fotos zeigen, dass es hier Besonderheiten gibt. Menschen, die das Viertel am Leben halten und es zu weit mehr als einer öden Schlafgegend machen, zu etwas Lebendigem, auch in der Lähmung der Corona-Zeit. Micha mit seinem Lädle, zu dem wir unsere Pakete und manchmal kleine Alltagsorgen tragen, gehört dazu. Ebenso wie der immer eilige und eindeutig systemrelevante Raku Claudiu, bester Paketausfahrer der Stadt, wie Heike Schiller vermerkt; immer in Bewegung.

Die Casa Granada von Rosa beliefert uns mit frischem Fisch, spanischem Käse und hervorragenden Oliven. Hatice Aksoy betreibt in der Immenhoferstraße ihre Schneiderei, Wäscherei und neuerdings eine Mund- und Nasenschutzproduktion in allen modischen Trends. Marco Cini von Such&Find hat alles, was man für die Märklin-Eisenbahn braucht.

Wir sind stolz auf den englischen Tearoom, der tatsächlich von zwei waschechten Briten betrieben wird, die für uns den vorzüglichsten Tee aus weit entfernten Gegenden aufspüren und anbieten. Es gibt die französische épicerie fine mit besonderem Käse und fantastischem Mittagessen. Und natürlich haben wir auch einen Rewe im Viertel mit dem italienischen Café, das, ich muss es lauthals preisen, unschlagbaren Espresso braut.

Mein Lieblingsfoto in der Sammlung zeigt Claudia Kiebele vor ihrer Weinstube Vetter, dem kulinarischen Leuchtturm des Viertels, der in die Stadt und weit darüber hinaus strahlt.

Diese internationale Struktur unseres Viertels bildet Heike Schiller in ihren Fotos ab. Aber die emotionale Kraft ihrer Arbeit rührt von etwas anderem her. Wenn wir diese Fotos betrachten, dann wissen wir, dass die abgebildeten Menschen unverschuldet durch die Pandemie in wirtschaftliche Not oder zumindest in erhebliche Schwierigkeiten geraten sind.

Dass sie aber als Teil der Gemeinschaft des Viertels, das zugleich wie ein Dorf in der Stadt funktioniert, das Bedürfnis haben, anderen in ihrem Alltag zu helfen, und dass sie selbst auf Unterstützung, Empathie und Solidarität angewiesen sind. Beides ist zutiefst menschlich. Und, so geht es mir, dieses menschliche Gefühl wird durch diese Bilder verstärkt oder hervorgerufen.

Neulich habe ich gelesen, dass unsere Gattung, der Homo Sapiens, 200.000 Jahre lang in Gruppen als Sammler und Jäger durch die Welt gezogen ist. In dieser enormen Zeitspanne haben wir unsere innere Struktur entwickelt, das Bedürfnis und die Notwendigkeit, anderen beizustehen, die Fähigkeit zur Kooperation, die Liebe und die Zuneigung zu denen, die uns nahestehen. Kurz: alles was uns auch heute als Menschen ausmacht.

Der moderne Kapitalismus predigt uns seine Religion des Egoismus erst seit 200 Jahren. Der Unsinn, dass eine "unsichtbare Hand", also der Markt, alles zum Guten lenkt, wenn jeder von uns sich nur so egoistisch wie möglich verhält, kann man in den Seminaren der Betriebswirtschaft auswendig lernen. Aber er hat nie die Tiefenstruktur unserer Gattung erreicht.

Vielleicht ist die Erinnerung an diese Solidarität, diese innere Struktur, die eine Gemeinschaft tatsächlich zusammenhält, das Geheimnis von Heike Schillers Bildern.
 

Die Kreidezeichnungen stammen von Kindern aus dem Heusteigviertel, die ihr Traurigsein auf die Straße getragen haben: "Schade, dass wir uns nicht sehen können. Liebe Grüße" steht auf dem Asphalt.

Alle Poster (1 auf 1 Meter) kosten 150 Euro und können per E-Mail bei heikeschiller@me.com bestellt werden.


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1 Kommentar verfügbar

  • Killi
    am 04.06.2020
    Antworten
    Yes! Kenne ich (fast) alle! Und mein Lieblingling-Paketauslieferer ist auch dabei. Hach, ich liebe mein Viertel!
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