Es war unumgänglich und altersgerecht: Neulich musste ich mir einen Rückenwirbel einrenken lassen. Der Arzt, der dies mit routinierten Griffen erledigte, sagte nach einem Blick auf meine Adresse: Ach, Sie wohnen im gleichen Viertel wie Joe Bauer. Ich spürte, wie seine Augen, die bisher recht teilnahmslos dreingeschaut hatten, mich plötzlich wacher, interessierter und, nun ja, auch irgendwie respektvoller anschauten. Froh, ein gemeinsames Thema gefunden zu haben, plauderten wir eine Weile über Joe.
Der Arzt schien ein guter Freund von ihm zu sein. Er wusste jedenfalls nicht nur, wo Joe Bauer wohnt, dass er neulich erst vom Westen in den Süden Stuttgarts umgezogen war ("Wissen Sie, da wohnte er vor Jahrzehnten schon einmal"), welche Stiefel er bevorzugt trägt ("Er hat sogar welche aus Schlangenleder") und wo er seinen nächsten Flaneursaloon veranstaltet ("Die Karten sind immer so schnell ausverkauft"). Sondern er verriet mir auch, dass er dessen fatale Begeisterung für die Stuttgarter Kickers teilt und dass er daran trägt wie an einem schweren Schicksal. So wie Joe Bauer, sagte er stolz.
Als wir uns zum Abschied die Hand reichten, schlug ich ihm vor, wir sollten beide Joe einen Gruß von dem jeweils anderen ausrichten, wenn wir ihn das nächste Mal sehen. Der Mann verharrte mitten in der Bewegung. Ich habe Joe Bauer noch nie getroffen, gestand er. Ich kenne ihn nur aus seinen Kolumnen in den "Stuttgarter Nachrichten".
Sein Spaziergänger ist die öffentlichste Person Stuttgarts
Ich erzähle diese kleine Geschichte nicht wegen meines reparierten Rückens, sondern weil sie mir schlagartig klarmachte, welche enorme Bedeutung die Figur des Joe Bauer für die Stadt gewonnen hat. Sie ist wie ein guter Nachbar, der großzügig seine Vorlieben und Leidenschaften mit anderen teilt und an dessen Leben er uns uneigennützig teilnehmen lässt. Wir kennen seine Spazierwege durch die Stadt, wir wissen, dass er Leonhard Cohen verehrt(e), wir begleiten ihn auf seinen Reisen nach New York, Berlin und Bad Cannstatt, wir kennen seinen (damaligen) Lieblingsplatz im Bad Berg, wir begleiten ihn bei seinen Ausflügen in die entlegensten Stadtecken, durch seine Augen sehen wir Ausstellungen, die Stäffele und nicht zuletzt Botnang, für das ihm eine besondere Liebe gewachsen zu sein scheint. Joe Bauer ist nicht nur eine der bekanntesten, sondern mit Abstand die öffentlichste Person Stuttgarts.
Vor allem aber ist er der Chronist der Stadt. In seinen Kolumnen, von denen er dankeswerterweise eine Auswahl der besten Geschichten hin und wieder in Buchform veröffentlicht, erfahren wir mehr und auf unterhaltsamere Weise über Stuttgart, als es ein Geschichtsbuch es je leisten könnte. "Im Staub von Stuttgart. Ein Spaziergänger erzählt" heißt die neueste Sammlung solcher Meisterwerke der kurzen Form. Es ist schon ein besonderer Spaziergänger, der hier erzählt. Denn Joe Bauer schildert nie nur das, was er unmittelbar sieht, sondern er nimmt uns auch immer wieder mit in die Vergangenheit, so dass wir besser verstehen können, warum die Dinge heute in Stuttgart so sind wie sie sind. Wir erfahren dabei hässliche Dinge, etwa über das Hotel Silber, den monströsen Sitz der Gestapo, die Nazi-Vergangenheit Breuningers, die Arisierung des Modehauses Breitling oder über die Nutznießer der großen Heimsuchung namens Stuttgart 21.
Wir erfahren von ihm aber auch einiges über die unbekannten Heldinnen und Helden, über die Frauen und Männer, von denen sich das offizielle, das bürgerliche Stuttgart immer noch gerne abwendet und die immer noch totgeschwiegen werden. Aus seiner Feder lernen wir Gerda Taro besser kennen, Ferdinand Freiligrath, Clara Zetkin und Eugen Eberle, um nur wenige zu nennen. Joe Bauers Kolumnen sind das beste und spannendste Geschichtsbuch Stuttgarts.
Präzise wie die Flanken Jérôme Boatengs
Vor allem aber bewundere ich Joe Bauers hoch entwickelte Kunst, auf nur zwei, drei Seiten eine komplette Geschichte zu erzählen. Wenn ich mich an eine Dengler-Story setze, plane ich eine Geschichte über 350 Seiten. Allein für die Vorstellung der wichtigsten Figuren rechne ich mit mindestens 30 Seiten, Schauplätze nicht eingerechnet. "In Regen und Graupel" lässt Joe Bauer in wenigen, ich möchte fast sagen: Pinselstrichen, den eben verstorbenen Leonhard Cohen wieder auferstehen und erzählt dann auf dreieinhalb (!!) Seiten von dessen Konzert in Stuttgart am 1. Oktober 2010, nur einen Tag nach dem schrecklichen Schwarzen Donnerstag, den er auch schildert, vom Gedenktag daran ein Jahr später, vom Wetter, von der Sängerin Dacia Bridges, von seiner Lektüreerfahrung von Cohens Gedicht "A Thousend Kisses Deep", Trumps Wahl, seiner schwierigen Amerikaliebe, vom einstigen amerikanischen Konsulat in der Urbanstraße, und schließlich endet er noch mit einem Kästner-Zitat.
Alles auf dreieinhalb Seiten. Und alles passt exakt.
Es ist eine komplette Geschichte, mit präzis gesetzten Wendepunkten, das anfangs gesetzte Thema immer wieder aufgreifend und variierend, geschrieben auf engstem Raum. Keine Silbe zu viel. Ehrlich gesagt, ich habe keine Ahnung, wie er das macht. Für mich sind seine Arbeiten ähnliche Wunder wie die präzisen Flanken Jérôme Boatengs über die Länge eines Fußballfelds direkt in den Lauf eines Mitspielers. Nur ist bei Joe die Trefferquote höher.
"Im Staub von Stuttgart" ist eine Sammlung solcher Wunderwerke. Ich erkenne die Zutaten, das schon. Die Präzision der Beschreibung, die Hingabe an den Realismus, die Aufrichtigkeit im Stil, die Liebe zu den Menschen und Unbestechlichkeit in der Sache, die Abscheu vor allem Falschen. Doch wie er diese Zutaten mixt, das bleibt wohl das Geheimnis dieses großen Meisters des kurzen Form. Nicht nur mein Arzt und ich haben Freude daran.
Joe Bauer: Im Staub von Stuttgart. Ein Spaziergänger erzählt. Edition Tiamat, 16 Euro. Beim Flaneursalon am Sonntag, 30. Dezember, im Bix Jazzclub liest Joe Bauer auch aus seinem neuen Buch.
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