KONTEXT:Wochenzeitung
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Alte Köpfe und neue Töpfe

Alte Köpfe und neue Töpfe
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In der Baugrube des Tiefbahnhofs treffen sich vier ältere Herren, die noch einmal daran erinnern wollen, wie großartig ihre Idee war, Stuttgart 21 auszurufen. Wie teuer sie kommt, merken derweil die Projektpartner an immer mehr ausgelagerten Extratöpfen.

In der Kommunikationswissenschaft gibt es den schönen Begriff des Pseudo-Ereignisses, geprägt vom US-amerikanischen Historiker Daniel Boorstin. Darunter ist, kurz gesagt, ein Geschehen zu verstehen, das sich nicht spontan ereignet, sondern eigens zum Zwecke medialer Berichterstattung inszeniert worden ist. Pressekonferenzen, Wahlkampfauftritte oder Charity-Veranstaltungen sind klassische Beispiele.

Ein besonders hübsches Beispiel dieser Gattung war am vergangenen Mittwoch, den 5. Juni, in Stuttgart zu erleben. Die Presseabteilung des Bahnprojekts Stuttgart-Ulm hatte zum Termin "Stuttgart 21 wird 25: Ideengeber treffen sich auf der Baustelle" geladen. Besagte Ideengeber waren Ex-Bundesverkehrsminister Matthias Wissmann (CDU), Ex-Ministerpräsident Erwin Teufel CDU), Ex-Bahnchef Heinz Dürr und Ex-Landesverkehrsminister Hermann Schaufler CDU). Nicht mehr dabei sein konnte der Stuttgarter Ex-OB Manfred Rommel, der 2013 verstarb.

Diese "mutigen Männer", so Georg Brunnhuber, Chef des Vereins "Bahnprojekt Stuttgart-Ulm", hätten "fast auf den Tag genau vor 25 Jahren" die Idee für den neuen Bahnhof "in Auftrag gegeben". Deswegen sei es ein "historischer Moment", dass diese Männer jetzt noch einmal zusammenkommen, "um daran zu erinnern, wie gut diese Idee war". "Fast auf den Tag genau" war dabei etwas großzügig formuliert, denn es handelte sich um den 18. April 1994, als die Herren in einer Pressekonferenz "überfallartig" (Dürr) die Idee eines Umbaus des Stuttgarter Kopfbahnhofs in eine unterirdische Haltestelle präsentierten, doch derlei Großzügigkeit mag im Wesen der groß Denkenden liegen.

Bei der Inszenierung eines Pseudo-Ereignisses machen sich laut dem Wiener Kommunikationswissenschaftler Roland Burkart die Akteure "die Kenntnis journalistischer Selektionskriterien zunutze". Auch hier hatte das Presseteam des Projektbüros nichts dem Zufall überlassen: Statt in einem grauen Raum zu sitzen, was weniger eindrucksvolle Bilder ergibt, standen die vier Herren unter einer graumelierten Kelchstütze in der S-21-Baugrube und trugen dabei Bauhelme und Gummistiefel (wobei sich letzterem Teufel als einziger verweigerte).

Immer wieder: Die Greatest Hits der S-21-Anpreisung

Nicht ganz so wichtig waren bei diesem "historischen Moment" die Worte, was sich schon daran zeigte, dass die "mutigen Männer" ohne Mikrophon gegen den Baulärm ansprechen mussten, weswegen sie teils nur schwer zu verstehen waren. Von Hermann Schaufler hörte man sogar gar nichts, was aber daran lag, dass er gar nichts sagte. Schwamm drüber, denn was die Herren zur Kenntnis gaben, waren im Wesentlichen die seit einem Vierteljahrhundert kaum veränderten Greatest Hits der Stuttgart-21-Anpreisung: Da feierten die "Jahrhundertchance", die "Chance, mehr Menschen auf die Schiene zu bringen", und die Chance auf den "Anschluss an die großen Verkehrslinien im Land und in Europa" fröhliche Urständ, da war die Rede mal vom Lechtturmprojekt (Wissmann), mal vom Zukunftsprojekt (Teufel).

Den Floskelmeister machte ein ums andere mal Brunnhuber, der gegen Ende schwärmte von der Entstehung einer "innovativen und zukunftsweisenden Infrastruktur, die Synergien nach sich zieht." Er war es auch, der am deutlichsten die Chance fürs Wohl der Beton- und Immobilienbranche ansprach. Freilich blumiger formuliert: Der Tiefbahnhof sei "nur die Ouvertüre für ein viel größeres Projekt", die Bebauung der 100 Hektar frei werdenden Flächen. Er sei sich sicher, sagte Brunnhuber, "die Stadt wird diese Chance ergreifen". Wie, dafür hat sie ja noch einige Jährchen Zeit.

Angesichts der immer neuen Kostensteigerungen  (neuerdings will die Bahn an den 500-Millionen-Risikopuffer ran), der Bauverzögerungen und -pannen (demnächst soll ein durch den Tunnelbau instabiles Haus im Kernerviertel abgerissen werden), oder der nur mäßigen Begeisterung des aktuellen Bahnchefs Richard Lutz für das Projekt sind die Greatest Hits, vorsichtig gesagt, etwas unvorteilhaft gealtert. Lutz sagte ja am 18. April 2018 im Verkehrsausschuss des Bundestages, "mit dem Wissen von heute würde man das Projekt nicht mehr bauen", betriebswirtschaftlich sei es ein Verlustgeschäft. Er hätte S 21 "nicht erfunden und hätte es auch nicht gemacht", ließ schon 2016 dessen Vorgänger Rüdiger Grube verlauten. Offenbar alles Fake News, glaubt man Dürr: Lutz sei "falsch zitiert" worden, und von Grube sei ihm ein solches Zitat nicht bekannt, sagt der Ex-Bahnchef.

Ansätze von Nachdenklichkeit fehlten indes nicht ganz. Das anfangs fast einhellige Lob habe sich "mittlerweile teilweise verflacht", räumte Wissmann ein, "die Einwände von Anwohnern kann man menschlich gut verstehen", und: "Vielleicht haben wir den Fehler gemacht, dass wir nach dem enormen Anfangsapplaus der ersten Jahre kommunikativ danach die Vorteile nicht stärker herausgestellt haben." Dass dies nicht in großem Maße, mit freundlicher medialer Unterstützung, geschehen sein soll, dürfte freilich den meisten Stuttgartern neu sein. Und die Kostenexplosionen? Naja, bei einer Bau- und Entwicklungszeit von rund 30 Jahren komme es nun mal zu einer "natürlichen Steigerung" der Baukosten, sagte Wissmann.

Schöner ist's, von Erfolgen zu sprechen. Als er vor 25 Jahren Minister war und die Bahnreform mitorganisierte, da seien 70 Milliarden Mark Schulden auf der Bahn gelegen (tatsächlich waren es rund 66, umgerechnet 34 Milliarden Euro). Und wenn heute Macron in Frankreich eine ähnliche Reform anstrebe, zeige das, dass der gegangene Weg nicht ganz verkehrt gewesen sei. Auch, "wenn man ehrlich ist", die Reform etwa im Regional- und Güterverkehr nicht ganz die Ziele erreicht habe. Der Bundesrechnungshof formulierte dies Anfang 2019 weniger vorsichtig: Die DB AG habe in 25 Jahren all ihre Kernziele "nicht erreicht", weder Verkehrsverlagerungen auf die Schiene noch Wirtschaftlichkeit (hier der BRH-Bericht). Die bei ihrer Privatisierung komplett vom Bund entschuldete Bahn hat heute wieder rund 20 Milliarden Euro Schulden.

Doch damals, 1994, sei die Idee gewesen, "alles zu tun, um die Bahn zu stärken". Sagt Wissmann, der rückblickend dafür bekannt wurde, alles dafür getan zu haben, um die deutsche Autoindustrie zu stärken, zuletzt von 2007 bis 2018 als deren oberster Lobbyist, als Präsident des Verbandes der Automobilindustrie (VDA). In dieser Funktion setzte er sich auch nachdrücklich für die Zulassung von Gigalinern auf deutschen Straßen ein – also für eine weitere Verlagerung des Güterverkehrs von der Schiene auf die Straße.

In China geht das einfach viel schneller

So etwas hat beim Termin unter der grauen Kelchstütze keinen Platz, bisweilen widersprachen sich die S-21-Senioren aber trotzdem. Während Wissmann beklagte, dass die Umsetzungsphase für Großprojekte in Deutschland viel zu lang sei – er sei ja gerade in China gewesen, da ginge das viel schneller ­–, meinte Dürr, es sei ein Fehler gewesen, vor dem Baustart des (gerne als "bestgeplant" attributierten) Projekts nicht mehr und sorgfältiger geplant zu haben. Genauer: Man hätte erst anfangen sollen, so Dürr, wenn alle Bereiche planfestgestellt gewesen seien. In diesem Falle hätte man freilich noch gar nicht angefangen, denn für den Flughafen-Bahnhof steht die Planfeststellung immer noch aus. Möglicherweise hätte man dann auch irgendwann eingesehen, das Ganze lieber bleiben zu lassen.

Während, abgesehen von solch kleinen Zerknirschungen, die Verantwortlichen von einst in der Baugrube in ihren alten Verheißungen schwelgten, befassten sich am gleichen Tage ein paar Stunden später noch amtierende Funktionsträger mit den Mühen der Ebene in Sachen S 21. Und im Grunde mit den Folgen sowohl der von Dürr angesprochenen nicht abgeschlossenen Planung und der Kostensteigerungen, ob man die nun "natürlich" wie Wissmann nennen will oder nicht.

Wendlinger Kurve: Das programmierte Nadelöhr

Konkret: Verkehrsminister Winfried Hermann und die Landräte von Reutlingen, Tübingen und dem Zollernalbkreis unterzeichneten eine Absichtserklärung zur Finanzierung der sogenannten großen Wendlinger Kurve. Bei dieser handelt es sich um ein Verbindungsstück zwischen der Neubaustrecke (NBS) Stuttgart Ulm und der Bahnstrecke Plochingen-Tübingen, und die große unterscheidet von der kleinen, dass sie zweigleisig ausgebaut wird. Damit werde, so Hermann, "der ursprünglich geplante eingleisige Engpass vermieden".

Schon gut einen Monat vorher, am 3. Mai, hatten das Land und die Deutsche Bahn einen Realisierungs- und Finanzierungsvertrag für das zweite Gleis unterzeichnet. Ausgegangen wird momentan von Kosten von 100 Millionen Euro, wovon das Land 22,5 Millionen, der Verband Region Stuttgart (VRS) sowie der Region Neckar-Alb jeweils 11,25 Millionen aufbringen sollen, während der Bund die restlichen 55 Millionen "indirekt" beisteuert, wie das Landesverkehrsministerium verlauten lässt – indem der Bund seine Finanzhilfen für die Nahverkehrsanteile im Projekt S 21 an die gestiegenen Baupreise anpasst.

Das Kuriose dabei: Die Wendlinger Kurve ist zwar integraler Bestandteil von Stuttgart 21 (nicht der NBS, wie gelegentlich zu lesen ist), die Finanzierung ihres zweigleisigen Ausbaus wird aber nun zu knapp der Hälfte nicht aus dem S-21-Topf bestritten, sondern es wird ein Extratopf aufgemacht. Die Bahn sowie der Bund hatten eine Aufnahme der großen, zweigleisigen Variante ins Projekt Stuttgart 21 nicht befürwortet, da diese in der Planfeststellung nur "optional" vorgesehen war und von der DB als ausreichend bewertet wurde. Gleichwohl wurde schon früh Kritik laut, dass es sich dabei um ein programmiertes Nadelöhr handelt. Weswegen Heiner Geißler in seinem Schlichterspruch am Ende des S-21-Faktenchecks im Jahr 2010 auch eine "zweigleisige und kreuzungsfrei angebundene Wendlinger Kurve" als Teil seiner Verbesserungsvorschläge nannte.

Bund und Bahn war dies offenkundig einerlei, eine vom Land betriebene Aufnahme in den Bundesverkehrswegeplan 2030 kam nicht zustande, auch wenn sogar eine Studie des Bundes zum Deutschland-Takt im Jahr 2015 zum nicht ganz unerwarteten Ergebnis kam, bei der eingleisigen Variante handele es sich um einen Engpass. Es war nun vor allem Hermann, der sich für den zweigleisigen Ausbau im S-21-Lenkungskreis einsetzte. "In letzter Minute" sei dies nun gelungen, so Hermann, der sich sicher ist: "Nur mit dem zweigleisigen Ausbau werden die Kommunen der Region Stuttgart und Neckaralb gut an die Neubaustrecke angeschlossen sein."

Die Extratöpfe werden immer mehr

Das mag – zumindest gemessen an der ursprünglich geplanten Lösung – stimmen. Trotzdem ist es bemerkenswert, wenn Land, die Stadt Stuttgart oder die Regionalverbände, die sich seit 2016 mit der Bahn in einem Rechtsstreit über die Übernahme von Mehrkosten befinden und immer wieder beteuern, sich nicht über die vertraglich vereinbarten Anteile hinaus an S-21-Kosten zu beteiligen, dies über Extratöpfe nun doch tun. Eine Strategie, für die es mittlerweile schon mehrere Beispiele gibt (Kontext berichtete).

Am 9. Mai etwa segnete der Stuttgarter Gemeinderat die Kostenübernahme der Stadt für ein "Masse-Feder-System" in einem künftigen S-Bahntunnel ab, Kostenpunkt 5,2 Millionen Euro. Hintergrund: Im Zuge von S 21 soll die S-Bahnführung zwischen dem künftigen Bahnhof Mittnachtstraße und dem Hauptbahnhof verlegt werden, sie verläuft dann in sehr geringer Tiefe und nahe an den neu zu bebauenden Gebieten. Das besagte Masse-Feder-System soll diese gegen Erschütterungen schützen.

Ganz nahe davon, zwischen Mittnachtstraße und dem Bahnhof Bad Cannstatt, hat auch der Verband Region Stuttgart sein Extratöpfchen. Vier zusätzliche Weichen sollen da gebaut werden, um eine flexiblere Nutzung bei Störungen zu ermöglichen. Ob das ausreicht, ist eine andere Frage, denn schon 2011 kamen die Schweizer Bahnexperten der SMA 2011 in einer Untersuchung für die DB zum Schluss, der neue Bahnhof Mittnachtstraße gefährde den S-Bahntakt und erhöhe die Störanfälligkeit. Tatsache ist aber auch, dass durch den S-21-Tiefbahnhof die bisherige Möglichkeit für S-Bahnen, bei Störungen den oberirdischen Kopfbahnhof zu nutzen, gekappt wird.

Auf die Weichen hat man sich beim VRS schon 2017 geeinigt, doch statt der ursprünglich geplanten 2,43 Millionen verlangt die Bahn neuerdings 2,83 Millionen. Der Verkehrsausschuss des VRS hat dem im April zugestimmt, doch der Unmut innerhalb des Verbands gegenüber der Bahn sei groß, war zu hören.

Ein bisschen spät: Der Verband war in den letzten Jahrzehnten immer besonders eifrig dabei, für S 21 zu trommeln. Er beteiligt sich schon mit 100 Millionen Euro direkt an den Projektkosten und indirekt mit 300 Millionen über Nahverkehrs-Fördermittel. Gelder, die woanders sinnvoller eingesetzt werden könnten, wie 2011, kurz vor der Volksabstimmung, die Grünen im Regionalparlament kritisierten. Doch damals war, aus grüner Sicht, der Käs' auch noch nicht gegessen.


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7 Kommentare verfügbar

  • Goldfrosch
    am 19.09.2019
    Antworten
    In Hamburg Hbf rollen bei einer Schienenneigung von nicht einmal 1.5 Promille immer wieder Züge von selbst davon, da in der Regel die Zugbremsen in den Bahnhöfen gelöst sind und die Hamburger Schienenneigung bereits ausreicht, den Rollwiderstand der Räder zu überwinden. In mehreren Fällen gab es zum…
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