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Erdgas

Argusaugen im All

Erdgas: Argusaugen im All
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Mit dem Kohleausstieg wird Erdgas in Deutschland zur Brückentechnologie. Das Narrativ vom klimaschonenden Energieträger verliert aber an Glaubwürdigkeit, seit Satelliten Methanfahnen aufspüren, die aus Bohrlöchern und Pipelines austreten.

Die EnBW geht voran, zumindest in der baden-württembergischen Landeshauptstadt. Früher als gesetzlich verlangt will der Karlsruher Energieversorger im Heizkraftwerk Stuttgart-Münster das alte Steinkohlekraftwerk mit seinen drei Kesseln abschalten. Ersetzt werden soll es durch Gasturbinen, die mit Erdgas befeuert werden. Mit der geplanten Inbetriebnahme im Jahr 2025 würden die letzten kohlebefeuerten Energieerzeugungsanlagen Stuttgarts ihren Betrieb einstellen – damit wäre der Kohleausstieg für das Stadtgebiet bereits Jahre vor dem gesetzlich festgelegten Terminplan vollzogen, rühmt sich die EnBW.

Laut Kohleausstiegsgesetz müssen die Kohleblöcke im Stuttgarter Kraftwerk Münster spätestens 2030 stillgelegt werden. Die letzten Kohlemeiler in Deutschland sollen Ende 2038 vom Netz. In Stuttgart hatte die EnBW bereits 2019 das Heizkraftwerk Gaisburg von Kohle auf Erdgas umgestellt, was nach EnBW-Angaben seither 60.000 Tonnen klimaschädliches CO2 pro Jahr einspart. Der Neubau der Gasturbinen-Anlage am Standort Münster ist der nächste Schritt zur Umstellung auf eine klimafreundlichere Fernwärmeversorgung in der Region, so der Konzern.

Doch schont der Umstieg von Kohle auf Erdgas tatsächlich das Klima? "Gas ist sexy", schwärmte Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) Ende 2019 beim Dialogprozess "Gas 2030". Im Vergleich zu anderen fossilen Energieträgern sei Erdgas klimafreundlicher, da der Einsatz mit geringeren CO2-Emissionen einhergehe. Zudem spiele es als kostengünstiger Treibstoff bei der Mobilität eine immer wichtigere Rolle. Gasförmige Energieträger seien angesichts von Atom- und Kohleausstieg bis auf Weiteres unverzichtbar, lautete Altmaiers damalige Botschaft, die von der Branche als "starkes Signal" gewertet wurde. Nur mit Erdgasimporten lasse sich für die nähere Zukunft eine sichere Energieversorgung der Europäischen Union und Deutschlands zu wettbewerbsfähigen Preisen gewährleisten, so die Bundesregierung.

Erdgas ist nicht klimafreundlich

Die Londoner Denkfabrik E3G dagegen sagt: "Erdgas ist aufgrund von Methan-Leckagen deutlich klimaschädlicher als oft angenommen." Bis zu 25 Prozent der Emissionen von Erdgas, dessen Hauptbestandteil Methan ist, entstehen nicht bei der Verbrennung, sondern während Produktion und Transport, stellt auch die Internationale Energieagentur (IEA) klar. Das EU-weite Ziel, bis 2050 klimaneutral zu sein, sei nur über einen schnellen Ausstieg aus der Verbrennung fossilen Erdgases zu erreichen, fordern deshalb Umweltorganisationen wie BUND und Deutsche Umwelthilfe (DUH). Auch Modellrechnungen der EU-Kommission zeigen, dass Klimaneutralität nur zu erreichen ist, wenn der Erdgasverbrauch von momentan 24 Prozent bis 2050 auf drei bis vier Prozent des EU-weiten Endenergieverbrauchs fällt.

Tatsächlich steht Methan bislang viel zu selten im Fokus, sobald über den Klimawandel diskutiert wird. Dabei verfügt CH4, so die chemische Formel, über ein viel größeres Treibhauspotenzial als Kohlendioxid (CO2). Das Gas ist mit rund 20 Jahren Verweildauer in der Atmosphäre zwar deutlich kurzlebiger. Aber nach seiner Freisetzung erwärmt es die Erde auf einen Zeithorizont von 100 Jahren bezogen rund 30 Mal stärker als CO2.

Soll das 1,5-Grad-Ziel von Paris erreichbar bleiben, müssen die Methanemissionen bis zum Jahr 2050 um über ein Drittel im Vergleich zum Jahr 2010 sinken, mahnt der Weltklimarat. Doch wie soll das gehen? Rund 40 Prozent des Methans entweicht allein aus natürlichen Quellen, etwa aus Sümpfen, Wäldern und durch vulkanische Aktivitäten. Der größere Rest stammt jedoch vom Menschen.

Zu den größten anthropogenen Methanquellen zählt der fossile Energiesektor, wo 40 Prozent der Methanemissionen auf die Ölförderung, die restlichen 60 Prozent auf Lecks in der Wertschöpfungskette von Erdgas entfallen. So stoßen Ölbohrtrupps häufig auf Methan als sogenanntes Begleitgas. In manchen Fördergebieten werden diese Gasblasen wegen fehlender Speicher- und Transportmöglichkeit direkt in die Atmosphäre entlüftet. Alternativ wird Erdgas, das nicht wirtschaftlich genutzt oder zurückgewonnen werden kann, vor Ort verbrannt. Abgefackelt wird Begleitgas oft auch aus Sicherheitsgründen aufgrund der Konstruktion von Förderanlage oder deren Ausrüstung. Auch dabei gelangt Methan in die Atmosphäre.

Absichtlich freigesetzt wird Methan auch aus betrieblichen Gründen, etwa um Gaspipelines für Inspektion und Wartung zu entlüften. Defekte Dichtungen und Ventile führen dazu, dass Gas unbeabsichtigt in großen Mengen an Förderstellen oder entlang von Pipelines ausströmt.

Datenmangel bremst Emissions-Reduktion

Laut IEA haben Öl- und Gasbetriebe weltweit im vergangenen Jahr mehr als 70 Millionen Tonnen Methan emittiert. Dies entspricht rund sechs Gigatonnen CO2-Äquivalente (Menge des Methans umgerechnet in CO2), oder über fünf Prozent der globalen energiebezogenen Treibhausgasemissionen. Das IEA-Szenario für nachhaltige Entwicklung peilt einen Methanausstoß im Jahr 2030 von etwa 20 Millionen Tonnen an. Das sind über 70 Prozent weniger als heute – eine Größenordnung, die der Stilllegung aller derzeit in Asien vorhandenen Pkw und Lkw entspräche.

Die Anstrengungen, Methan-Emissionen zu reduzieren, wurden bislang durch Datenmangel gebremst. Es fehlte schlicht an Informationen über lokale Emissionsereignisse, auch weil sich Lecks oft nur schwer entdecken lassen. Bis vor wenigen Jahren gingen Öl- und Gasfirmen vor allem mit Handwärmekameras auf die Suche. Mehr Erkenntnisse brachte die Überwachung von Gasfeldern und Leitungen aus der Luft durch Flugzeuge und Drohnen. Die jüngsten und vielversprechendsten Fortschritte beim Aufspüren von Methanquellen liefert der Einsatz von Satelliten. Erst seit wenigen Jahren umkreisen Hightech-Himmelskörper die Erde in mehreren Hundert Kilometern Höhe und scannen dabei die Erdoberfläche auch auf Methan ab.

Im Oktober 2017 schoss die Europäische Weltraumorganisation (ESA) Sentinel 5P ins All. An Bord hat der Satellit, der Teil des Copernicus-Programms zur Überwachung der Erdatmosphäre ist, das Tropospheric Monitoring Instrument. Es erfasst anhand der Wellenlänge des Lichts die Konzentrationen verschiedener atmosphärischer Gase. Da Tropomi vom Ultraviolett bis zum kurzwelligen Infrarot misst, kann es ein breites Spektrum von Luftschadstoffen und Klimagasen verfolgen: Stickstoffdioxid, Ozon, Formaldehyd, Schwefeldioxid, Methan und Kohlenmonoxid. Neben einer noch nie dagewesenen Genauigkeit erlaubt die Aufnahmebreite ("Schwad") des Satelliten von 2.600 Kilometern zudem, den ganzen Planeten alle 24 Stunden zu kartieren.

Die Messwerte von Sentinel 5P und weiterer Satelliten sind online abrufbar. Ein riesiger Datenschatz, aus dem die Analysten des französischen Start Ups Kayrros schöpfen. "Wir waren völlig überrascht, als wir die Satellitenbilder vor vier Jahren das erste Mal angeschaut haben", schildert CEO Antoine Halff. Statt einiger weniger Lecks entdeckten er und seine Mitarbeiter Dutzende Quellen, aus denen das Treibhausgas kräftig sprudelte. "Mittlerweile haben wir Tausende von großen Methanquellen auf der ganzen Welt dokumentiert", so Halff. Rund die Hälfte der Quellen entspringe im Öl- und Gassektor, der Rest lasse sich in Kohlebergwerken, Landwirtschaft oder auch auf großen Mülldeponien verorten.

Mit einer räumlichen Auflösung der Bilder von 20 mal 20 Metern sind selbst kleinste Gaslecks aus dem Orbit sichtbar. Auf diese Weise spürten die Datenanalysten bei Kayrros zuletzt zahlreiche Methanemissionen entlang von Gaspipelines auf. Etwa entlang der Jamal-Europa-Pipeline – einer 4.196 Kilometer langen Pipeline, die durch Russland, Weißrussland, Polen und Deutschland verläuft. Das Analysetool der Wissenschaftler registrierte in den vergangenen beiden Jahren 13 Quellen, aus denen bis zu 164 Tonnen Methan pro Stunde strömten. Weitere 33 Emissionen mit Raten von bis zu 291 Tonnen pro Stunde wurden im gleichen Zeitraum an der kürzeren Brotherhood-Pipeline festgestellt, die von Sibirien durch die Ukraine in die Slowakei führt.

Viel mehr Lecks als gedacht

Daneben entdeckte Kayrros auch größere Methanfreisetzungen bei der Schieferölförderung in den USA oder auch in Kasachstan. Neueste Satellitendaten deuten an, dass die Zahl der großen Methan-Lecks im Jahr 2020 rückläufig war. Als Grund dafür vermuten Experten Produktionsrückgänge infolge der Covid-19-Pandemie. Bemerkenswert ist, dass Kayrros in 2020 dennoch in Russland rund 40 Prozent mehr Methanemissionen im Vergleich zum Vorjahr entdeckte, obwohl die russischen Gasexporte nach Europa pandemiebedingt um geschätzt 14 Prozent einbrachen. Über die Gründe kann nur spekuliert werden. So könnten Personalengpässe zu Sicherheitslücken geführt haben.

"Aktuelle Forschungsergebnisse legen nahe, dass Methan-Leckagen wesentlich höher sind als bisher angenommen", folgert Sascha Müller-Kraenner. Satellitenmessungen aus den USA zeigten Leckageraten zwischen 2,3 und neun Prozent, so der Bundesgeschäftsführer der DUH. Diese müssten in der Treibhausgas-Bilanz mitberechnet werden, um die Klimawirkung von Erdgas realistisch wiederzugeben, fordert er. Experten rechnen damit, dass der Brennstoff seinen Klimavorteil gegenüber Kohle verliert, sobald zwischen 2,4 und 3,2 Prozent der gesamten Produktion in die Atmosphäre entweichen.

Würden Lecks in der Vorkette, also Gasaustritte während Förderung, Produktion und Transport, berücksichtigt, ändert sich die Klimabilanz der jährlichen deutschen Erdgasimporte dramatisch, rechnet die DUH vor. Zuletzt bezog Deutschland etwa 87 Milliarden Kubikmeter Erdgas aus dem Ausland, deren Verbrennung etwa 153 Millionen Tonnen CO2 freisetzt. Bei einer angenommenen Leckagerate von 2,3 Prozent erhöhen sich die Methan-Emissionen, umgerechnet in CO2, um rund 117 Millionen Tonnen auf eine Gesamtsumme von etwa 270 Millionen Tonnen CO2-Äquivalente. Geht man von vier Prozent Leckagerate aus, steigen die Emissionen um rund 209 Millionen Tonnen CO2-Äquivalente auf insgesamt 362 Millionen Tonnen. Das ist mehr als das Doppelte der Emissionen, die ohne Lecks gemessen wurden.

EnBW setzt noch auf Kohle

Versorger EnBW verfeuert an mehreren Standorten bis heute klimaschädliche Kohle. Im Rheinhafen Karlsruhe nahm der Konzern erst 2014 einen nach eigenen Angaben "umweltfreundlichen Steinkohleblock" in Betrieb. Trotz effizienter Brenntechnik stößt er mit 740 Gramm CO2 pro Kilowattstunde fast doppelt so viel aus wie heute im deutschen Energiemix emittiert wird. Laut Hochrechnung des Umweltbundesamts lag der CO2-Wert im Jahr 2020 im Schnitt bei 366 Gramm pro Kilowattstunde Strom.  (jl)

Der Karlsruher Energiekonzern EnBW bezieht Erdgas über den europäischen Großhandelsmarkt sowie direkt aus Norwegen und Russland. "Erdgas sorgt bereits heute für eine emissionsarme Energie- und Wärmeversorgung und wir arbeiten kontinuierlich daran, die Methanemissionen weiter zu reduzieren mit dem Ziel einer künftig klimaneutralen Gasversorgung", betont eine Sprecherin auf Anfrage. Bis 2030 wolle man die CO2-Emissionen halbieren und bis 2035 klimaneutral sein, ergänzt sie. "Dazu gehört einerseits, die erneuerbaren Energien weiter systematisch auszubauen. Und andererseits, mittelfristig aus der Nutzung von Kohle als Energieträger auszusteigen, ohne dabei die Versorgungssicherheit mit Strom und Wärme zu gefährden."


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1 Kommentar verfügbar

  • Kahlschlagbauer
    am 28.07.2021
    Antworten
    Sehr guter und sachkundiger Artikel. Was ich darin vermisst habe, ist die Diskussion der Verflüssigung des Erdgases. Was aus USA, Australien und Kanada importiert wird, ist nicht nur gefrackt, sondern auch verflüssigt, damit es mit speziellen Tankern verschifft werden kann. Dabei geht ein volles…
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