Eine sozioökonomische und kulturkritische Perspektive hält dies für wünschenswert, weil Wachstum ab einem bestimmten Punkt die Lebensqualität nicht mehr verbessere, sondern den Wohlstandszugewinn ins Gegenteil verkehre. In diese Richtung argumentiert beispielsweise der Soziologe Hartmut Rosa. Er betrachtet die Beschleunigung von Arbeit und Alltag als eines der größten Hindernisse für ein "gutes Leben".
Die feministische Linie der Kritik stellt den Zusammenhang von Ökonomie und Geschlechterverhältnissen in den Vordergrund. Unserer Ökonomie liege eine Spaltung zwischen produktiver, "männlich" codierter Arbeit und einer zu kolonisierenden, "weiblichen" Natur zugrunde. Diese Aufspaltung erlaube nicht nur die Ausbeutung von Naturressourcen, sondern auch der weiblichen Sorge- und Pflegearbeit. Queere Feministinnen wie Christine Bauhardt oder Frederike Habermann vertreten in diesem Zusammenhang die Ansicht, dass die Auflösung der binären Geschlechterordnung – in der der ungebundene Homo oeconomicus auf Kosten der sorgenden, pflegenden Frau wirtschaftet – einen neuen ökonomischen Horizont eröffnen würde. Besondere Bedeutung messen sie dabei den Gemeingütern ("commons") und der Care-Ethik bei.
Aus einer Nord-Süd-Perspektive schließlich argumentieren etwa Ulrich Brand und Markus Wissen oder auch der Münchner Soziologe Stephan Lessenich, dass die Wachstumsökonomien auf imperialer Macht beruhen. Der Konsumgüterwohlstand des Globalen Nordens lebe von der Auslagerung von Kosten. Die ökologischen und sozialen Folgen von Rohstoffförderung, Niedriglohnproduktion und Vermüllung würden systematisch auf den Süden abgewälzt.
All diese Ansätze der Wachstumskritik verdeutlichen, dass es bei einem von einem Teil der Klimabewegung geforderten Systemwechsel längst nicht nur um den Umstieg auf erneuerbare Energien geht, sondern zunehmend auch um Produktionsweise, Lebenszuschnitt, Geschlechterrollen und Nord-Süd-Beziehungen. Dabei sucht man nach Schnittstellen, über die sich die unterschiedlichen Ansätze verbinden ließen. Unter dem Schlagwort "gutes Leben" propagiert man beispielsweise eine radikale Arbeitszeitverkürzung. Sie würde eine ökologische Wohlstandsperspektive jenseits der Konsumgüterfülle eröffnen, die feministische Umverteilung der Sorgearbeit erleichtern und wäre auch für gewerkschaftliche Kämpfe anschlussfähig.
Das Problem ist kein individuelles, sondern ein strukturelles
Was ihre Ziele betrifft, haben die Ansätze der Wachstumskritik viele Gemeinsamkeiten. Konträrer sind hingegen die Vorstellungen, wie ein Systemwechsel durchgesetzt werden könnte. Die große Frage lautet dabei: Ist die Wachstumsgesellschaft eher das Produkt des Industrialismus oder die Folge kapitalistischer Eigentums- und Klassenverhältnisse?
Die wachstumskritische Bewegung betont die erste der beiden Erklärungen. Das ist auch vor dem Hintergrund zu sehen, dass die Umweltbilanz sozialistischer Staaten desaströs war. Kritisiert werden deshalb in erster Linie das Entwicklungs- und Wachstumsparadigma, die technische Rationalität und die vorherrschenden Konsummuster der westlichen Moderne. Das bedeutet auch, das eigene Leben zu ändern: auf Flugreisen verzichten, gemeinwohlorientierte Sharingprojekte aufbauen, lokale Wirtschaftskreisläufe stärken und so weiter. Dieser Ansatz ist keineswegs bloß individualistisch. Der alternative Ökonom Niko Paech beispielsweise betont, dass es durchaus um gesellschaftliche Prozesse gehe, nämlich darum, "soziale Räume (zu) schaffen, in denen Avantgardisten und Vorreiter als Minderheit das Erfahrungswissen anhäufen, das dann später verallgemeinerbar und massentauglich werden könnte".
Das Problem an diesem Ansatz: Er lässt sich mit dem vorherrschenden Umweltdiskurs allzu leicht in Deckung bringen. Die Medien unternehmen große Anstrengungen, um die Aufmerksamkeit von den Konzernen weg auf den einzelnen Konsumenten zu lenken. Sie verschleiern damit, dass das Gros der CO2-Emissionen auf das Konto einiger weniger Konzerne geht. Von den 870 Millionen Tonnen Treibhausgas, die in Deutschland 2018 produziert wurden, gingen allein 125 Millionen Tonnen auf das Konto des Energiekonzerns RWE, weitere 82 Millionen waren von Heidelberg Cement und 33 Millionen von der Lufthansa zu verantworten.
Wer in erster Linie auf die Experimente selbstorganisierter Gruppen setzt, verstellt den Blick darauf, dass die Emissionen schlagartig reduziert werden könnten, wenn man die Stromkonzerne zum Abschalten der Kohlekraftwerke zwingen oder die Kurzstreckenflüge verbieten würde. Diese ordnungspolitischen Maßnahmen veränderten dann zwar auch die Lebensweise aller, wären im Unterschied zum Appell aber verbindlich.
Das wäre das Argument derjenigen, die die kapitalistischen Macht- und Eigentumsverhältnisse für das Haupthindernis einer ökologischen Wende halten. Dass die notwendigen Klimaschutzmaßnahmen nicht ergriffen werden, liegt zwar auch "am Wähler", in erster Linie aber an den Unternehmensinteressen. Ein Verbot von Kohlekraftwerken würde nämlich nicht nur RWE treffen, sondern vor allem auch die Stromkosten erhöhen und damit die Profitraten aller Konzerne beeinträchtigen.
Zeit für Ökosozialismus?
Elmar Altvater wies zeit seines Lebens darauf hin, dass ökologische Probleme nicht zu verstehen sind, wenn man nicht gleichzeitig über die Entwicklungsgesetze im Kapitalismus nachdenkt. Die industrielle Moderne hat zweifellos viel mit Wissenssystemen und Diskursen, mit Lebenshaltungen und Denkweisen zu tun. Doch angetrieben wird sie von einem fatalen Mechanismus: Kapital will vermehrt werden, und wer das erfolgreich tut, steht in der Gesellschaft oben.
Es lässt sich nicht von der Hand weisen, dass beide Erklärungen etwas für sich haben. Eine ökologische Wende wird nur möglich sein, wenn wir andere Vorstellungen eines guten Lebens entwickeln. Doch durchsetzen lässt sich all dies nur, wenn man gleichzeitig die Machtverhältnisse in der kapitalistischen Gesellschaft angeht. Jene Klasse, die heute oben ist, weil sie erfolgreich Kapital vermehrt, wird nicht freiwillig auf ihre Position verzichten.
Anders ausgedrückt: Eine sozialistische, auf Gemeineigentum beruhende Gesellschaft ist nicht per se "grün"; aber dennoch hat die ökologische Veränderung fast immer auch eine sozialistische Dimension. Öffentliche, kollektive Verkehrsmittel sind ungleich ökologischer als der "grüne" Umbau der Pkw-Flotte. Ein gutes Leben mit weniger Konsumgütern muss auf der Stärkung sozialer und kultureller Angebote beruhen. Den immer verrückteren Statuskonsum, der in der Ausbreitung von SUVs, Jachten und Privatjets sichtbar wird, bekämpft man am besten, indem man die soziale Gleichheit erhöht. Und auch die fatale Standortkonkurrenz zwischen den Nationalstaaten kann man nur durch mehr "Nord-Süd-Gerechtigkeit" und globale Standards stoppen.
Wer es ernst meint mit Klimaschutz und ökologischer Wende, braucht ein ökosozialistisches Projekt.
Raul Zelik ist Vertretungsprofessor für internationale und intergesellschaftliche Politik an der Universität Kassel. Von Januar bis März 2019 war er Fellow des Forschungskollegs "Postwachstumsgesellschaften" an der Universität Jena. Er ist Beisitzer im Vorstand der Partei Die Linke. Sein obiger Text ist zuerst in der schweizer Wochenzeitung WOZ erschienen.
8 Kommentare verfügbar
hans drager
am 30.09.2019Sind Schlüssel aller Kreaturen …
Dann fliegt vor einem geheimen Wort
Das ganze verkehrte Wesen fort“
[Novalis]
In den USA von einer Verfechterin des GREEN NEW DEAL nach der Kostspieligkeit der Maßnahmen zur Kehrtwende in der bisherigen ´Klimapolitik´…