Höhepunkt der umweltpolitischen Ignoranz: Im TV-Duell diskutierten Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und ihr Herausforderer Martin Schulz (SPD) ausgiebig über Flüchtlinge, den türkischen Staatspräsidenten Erdoğan und die innere Sicherheit. Ein bisschen auch über soziale Probleme, Digitalisierung und Bildung. Was komplett fehlte? Die gewaltigen Herausforderungen des Klimawandels mit allem, was hierzulande daran hängt: die ausgebremste Energiewende, die wieder steigenden Treibhausgasemissionen, die nur schleppend vorankommende Verkehrswende. Nur zum Diesel-Betrug äußern sich Merkel, Schulz und Co. – aber meist absurd, indem sie den fossilen Selbstzünder zum vermeintlichen Klimaschützer reinwaschen.
Das Schlimme daran: Die vierte Gewalt im Staate lässt zu, dass Kanzlerin und Kandidat, Fachminister und Abgeordnete zum drängenden Klimaproblem schweigen. Stattdessen fragt ARD-Moderatorin Sandra Maischberger im TV-Duell: "Ist einer von Ihnen beiden in der Kirche gewesen heute?" Auch stört es kaum einen aus der Starjournaille, wenn der Liberale Christian Lindner bei Windkraftverschwörern und Klimaskeptikern Stimmen fischt. Oder, dass die AfD wie Donald Trump das Pariser Klimaschutzabkommen aufkündigen will. Da hilft tatsächlich nur noch Beten.
"Hier läuft alles schief, was schieflaufen kann"
Dabei hatte sich Merkel in früheren Zeiten gar als Klimakanzlerin inszeniert. Als EU-Ratspräsidentin verpflichtete sie 2007 die Europäische Union auf das 20-20-20-Ziel: bis 2020 den Treibhausgasausstoß um 20 Prozent zu senken, den Anteil erneuerbarer Energien auf 20 Prozent zu erhöhen und die Energieeffizienz um 20 Prozent zu verbessern. Heute deutet sich an, dass Deutschland seine eigenen, höher gesteckten Klimaschutzziele nicht erreicht. Dass es sie sogar krachend verfehlen wird.
"Ein Scheitern beim Klimaziel 2020 schadet nicht nur dem Klima, sondern auch Deutschlands internationaler Rolle", sagt Patrick Graichen, Direktor des Berliner Thinktanks Agora Energiewende. "Bei der nächsten Gelegenheit wird Herr Trump uns das genüsslich unter die Nase reiben, nachdem er beim G20-Gipfel im Juli von Deutschland in Klimafragen isoliert wurde", bemerkt er. Eine Steilvorlage für Journalisten? Denkste. Die Wahlberichterstatter ignorieren auch dieses Thema. "Klimakanzlerin außer Diensten", titelte der "Tagesspiegel" noch vor gut einem Jahr. Heute fällt Redakteuren und Redaktionen kaum etwas dazu ein.
"Beim Klimaschutz läuft derzeit alles schief, was nur schieflaufen kann. Alle Parteien verschlafen das", sagt die baden-württembergische BUND-Landesvorsitzende Brigitte Dahlbender. Und meint damit auch die Grünen, die einst als Öko-Partei um Wählerstimmen kämpften. "Klima schützen – Grün wählen", prangte noch auf dem Abschlussplakat im Europawahlkampf 2014. Heute formulieren die Bündnisgrünen ihre Botschaften verschwurbelter: "Umwelt ist nicht alles. Aber ohne Umwelt ist alles nichts." So steht es in weißer Schrift auf grüner Fläche, dazu die gelbe Partei-Sonnenblume.
"Entweder Schluss mit Kohle oder Schluss mit Klima", überlassen sie auf einem anderen Plakat dem Wähler die Wahl, während der magentafarbene Eisbär dahinter diese längst nicht mehr hat. Lediglich vor laufenden Kameras wird Spitzenkandidat Cem Özdemir fordernder, wenn er den bayerischen CSU-Innenminister Joachim Herrmann an den christlichen Auftrag erinnert, die Schöpfung zu bewahren: "Warum schalten Sie nicht sofort alle Kohlekraftwerke ab?"
Kein dankbares Wahlkampfthema
Tatsächlich haben die Grünen so oft wie keine andere Partei den Begriff "Umweltschutz" in ihr Wahlprogramm geschrieben, bestätigt Frank Brettschneider. Doch Papier ist bekanntlich geduldig. "Die Grünen haben nicht das weiterführende Thema nach dem Atomausstieg gefunden", bescheinigt der Professor für Kommunikationswissenschaft an der Universität Hohenheim der grünen Bundestagsfraktion ein "grandioses Versagen" im aktuellen Wahlkampf. "'Atomkraft? Nein Danke!' klang gut. 'Kohlekraft? Nein Danke!' ist schon weniger zustimmungsfähig. 'Diesel? Nein Danke!', erst recht nicht", sagt er. Die Öko-Partei hätte im Wahlkampf mit einer Umweltschutzstrategie punkten können. "Doch da hört man nicht gerade viel", so Brettschneider.
"Mit harter, realistischer Umweltpolitik kann man keine Wahlkämpfe gewinnen", sagt Michael Lühmann, Politikwissenschaftler am Göttinger Institut für Demokratieforschung, und zeigt Verständnis für den grünen Kuschelkurs. "Alle anderen Parteien wollen nicht in die Falle tappen, den Deutschen zu sagen, was sie anders machen müssten." Weniger Fleisch essen, kleinere Autos fahren, seltener Flugreisen machen, alles was dem Klima nutzt, greift in persönliche Freiheiten des Einzelnen ein. Und das goutieren nur die wenigsten Wohlstandswähler. Unvergessen ist die "Veggie-Day"-Kampagne, mit der konservative Medien die Öko-Partei bei der Bundestagswahl 2013 in die Pfanne hauten.
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Alexander Artmann
am 19.09.2017