KONTEXT:Wochenzeitung
KONTEXT:Wochenzeitung

Häuserkampf

Häuserkampf
|

Datum:

Die Flüwo, 1948 gegründet als gemeinnützige Flüchtlings-Wohnbaugenossenschaft, will drei ihrer ältesten Häuser abreißen. Die Mieterin Mary Schwarz kämpft mit aller Kraft dagegen. Andrej Holm, wohnungspolitischer Berater der Linken, fordert derweil eine neue Gemeinnützigkeit. Denn die Flüwo ist kein Einzelfall.

"Ich habe in der DDR gekämpft, jetzt kämpfe ich hier wieder", sagt Mary Schwarz, die in einer Wohnung der Flüwo-Genossenschaft in Stuttgart-Degerloch wohnt. 1982 kam sie in den Westen und nach kurzem Zwischenstopp in Esslingen nach Degerloch. "Da habe ich mich wie in einem Paradies gefühlt", erinnert sie sich und fügt hinzu: "Nach der Wende ging's bergab."

Damals hat sie 203,80 DM für ihre 42-Quadratmeter-Wohnung bezahlt. 2001 teilte ihr die Genossenschaft mit, dass das Haus, in dem sie wohnte, abgerissen werden solle, und bot ihr eine Ersatzwohnung an: gleich auf der anderen Straßenseite, wo sie heute noch wohnt. 55 Quadratmeter für 750 DM oder 359 Euro: fast das Dreifache bezogen auf den Quadratmeter und wegen der größeren Wohnfläche noch mehr.

Alle drei Jahre sind Mieterhöhungen bis zur ortsüblichen Vergleichsmiete erlaubt, in Gebieten, in denen es zu wenige Wohnungen gibt, um maximal 15 Prozent. Und seit Mary Schwarz in der neuen Wohnung lebt, kamen sie auch, alle drei Jahre so sicher wie das Amen in der Kirche. Heute bezahlt sie 555 Euro im Monat. Verglichen mit ihrer ersten Wohnung 1982 das fünffache und viermal so viel pro Quadratmeter.

Mary Schwarz lebt von einer kleinen Rente. Nach Abzug der Miete bleiben ihr keine 300 Euro im Monat zum leben. Eine Zweizimmerwohnung für 900 Euro in den Neubauten gegenüber könnte sie sich heute nicht mehr leisten. Bisher hat sie alles hingenommen, wie alle, die hier wohnen. Ihre Nachbarin macht mehrere Jobs, deren Mann arbeitet in Schichtarbeit, um sich die Wohnung leisten zu können.

Die Flüwo will die drei Häuser abreißen

Aufgewacht ist Mary Schwarz, als im Februar plötzlich die Bäume zwischen den drei siebengeschossigen Häusern gefällt wurden. Vor ihrem Balkon auf der anderen Seite des Hauses spendeten herrliche Buchen im Sommer über die vierte Etage hinaus Schatten, im Winter fiel der Blick auf die Schwäbische Alb. Die Bäume sind gesund, daran ist nicht zu zweifeln. Aber die Flüwo will die drei Häuser abreißen.

Mitte Dezember 2016 haben die Bewohner von den Plänen erfahren: Eine Mitarbeiterin des Stadtplanungsamts stellte das Projekt damals im Bezirksbeirat vor. Die 76 Wohnungen sollen durch 90 neue ersetzt werden. Auch die von Mary Schwarz soll weg. Vier Architekturbüros waren bereits kontaktiert worden, bevor sich die Flüwo an die Bewohner wandte: "Zugleich versichern wir Ihnen, dass Sie als unsere Mieter die Ersten sein werden, die wir informieren werden, sobald es konkrete Pläne über das weitere Vorgehen gibt." Das ist bis heute nicht passiert.

"Seit über zehn Jahren hat die Flüwo hier nichts mehr gemacht", sagt Mary Schwarz. Trotzdem befindet sich ihre Wohnung auf den ersten Blick in einem guten Zustand. Sie muss wenig heizen, was die Betriebskostenabrechnung bestätigt: Die Heizkosten in den drei Häusern liegen um mehr als 25 Prozent unter dem baden-württembergischen Durchschnitt. Die Wohnung hat wärmedämmende Kunststofffenster, Feuchtigkeitsschäden sind nirgends zu erkennen. Warum überhaupt ein Abriss notwendig sei, wollte der SPD-Bezirksbeirat Ulrich-Michael Weiß wissen. Flüwo-Vorstand Rainer Böttcher antwortete, der Abriss der Gebäude sei "eine unternehmerische Entscheidung" der Genossenschaft.

"Freiwillig" will sich die Flüwo an die Vorgaben des Stuttgarter Innenentwicklungsmodells (SIM) halten: die schreibt 20 Prozent geförderte Wohnungen vor, davon die Hälfte Sozialwohnungen. Das ergibt neun Sozialwohnungen, die mit 9 Euro pro Quadratmeter nicht billiger sein werden als die jetzigen. Für die verbleibenden 57 Mieter aus der Nachbarschaft von Mary Schwarz wird es eng. Unter ihnen sind viele Rentner, die zum Teil seit Jahrzehnten hier leben, viele Empfänger von Hartz IV, ebenso Erzieherinnen und Pflegerinnen, die zwar einen sozialen Dienst für die Gemeinschaft leisten, aber vom Staat nicht viel Geld erhalten. "Wo sollen die alle hin?", fragt Schwarz.

Genossenschafts-Vorstände sollten Angestellte der Mitglieder sein 

"Zweck der Genossenschaft ist die Förderung ihrer Mitglieder vorrangig durch eine gute, sichere und sozial verantwortbare Wohnungsversorgung": So heißt es in der Satzung der Flüwo, die 1948 als Gemeinnützige Flüchtlings-Wohnbaugenossenschaft genau hier, in Degerloch gegründet wurde. Die drei siebengeschossigen Häuser, 1952 fertiggestellt, gehören zu ihren ersten. Das Büro befand sich gleich gegenüber, heute in einem etwas größeren Bau auf demselben Areal, den die Genossenschafts-Leitung nun durch einen größeren Neubau ersetzen will. Denn die Flüwo zählt heute mit 9400 Wohnungen in Baden-Württemberg und in der Nähe von Dresden zu den größten Wohnungsbaugenossenschaften in Süddeutschland.

Eigentlich sind die Vorstände einer Genossenschaft Angestellte ihrer Mitglieder, also der Mieter, die zugleich eine jährliche Dividende erhalten: derzeit rund 70 Euro im Jahr, im Vergleich zur Miete ein Nasenwasser. Alle fünf Jahre wählen die Mitglieder ihre Vertreter, die einmal im Jahr zur Vertreterversammlung zusammentreffen und alle wichtigen Beschlüsse fällen, etwa zur Entlastung von Vorstand und Aufsichtsrat.

Dass dies nicht immer reibungslos vonstatten geht, zeigt der Fall der Baugenossenschaft Esslingen (BGE), wo Rainer Böttcher bis 2010 tätig war. Deren langjähriger Vorstand Eugen Arnold stand unter Anklage: wegen Untreue, Unterschlagung und Steuerhinterziehung. Gegen eine Geldbuße von 35 000 Euro wurde das Verfahren eingestellt, weil die Ermittler in der Genossenschaft auf eine "Mauer des Schweigens" gestoßen waren.

Eine 2008 gegründete <link http: iggwies.de _blank external-link>Interessengemeinschaft der Mieter hatte wesentlich dazu beigetragen, die Probleme bei der BGE aufzudecken, die zwei Jahre später ans Tageslicht kamen: Fast jede zehnte Wohnung stand leer, die Dividende entfiel. Als die Vertreterversammlung anstand, meldete sich Böttcher krank. Er wurde nicht entlastet und trat zurück, angeblich auf eigenen Wunsch.

Nun ist er bei der Flüwo. Er hat mehrere Mitarbeiter entlassen, soll sogar deren Computer in Abwesenheit durchsucht haben, sagt Mary Schwarz, es herrsche eine Atmosphäre der Angst. "Es ist unglaublich, dass Mieter, die Mitglied einer Baugenossenschaft sind, so behandelt werden", schreibt eine Mitarbeiterin im Kommentar zu einem Artikel der "Stuttgarter Zeitung": "Der soziale Gedanke, der die Genossenschaft ausmacht, wird hier völlig außer Acht gelassen."

Die Mieterin weht sich

Mary Schwarz will sich nicht unterkriegen lassen. Sie hat eine Mieterinitiative gegründet. Sie hat Parteigrößen angeschrieben und von Ute Vogt (SPD) Antwort erhalten. Sie hat öffentlich vor dem Stuttgarter Rathaus gesprochen – "zum ersten Mal in meinem Leben", betont sie – und im Bezirksbeirat. Fünf Minuten hatte sie Zeit, dann standen Flüchtlinge auf der Tagesordnung. "So treibt man die Menschen der AfD in die Arme", resümiert sie die Stimmung im Quartier. Sie selbst wählt lieber Die Linke.

Deren wohnungspolitischer Sprecher Andrej Holm kennt wie kein Anderer das Problem. Als Stadtsoziologe an der Berliner Humboldt-Universität und Aktivist gegen die Gentrifizierung sind ihm hunderte von Fällen bekannt, in denen Genossenschaften und städtische Wohnbaugesellschaften, gegründet um bezahlbaren Wohnraum für den ärmeren Teil der Bevölkerung zu schaffen, sich verhalten wie profitorientierte Unternehmen. Grund dafür ist die Aufhebung der Wohnungsgemeinnützigkeit unter Helmut Kohl 1990. Seitdem sind sie nicht mehr steuerbegünstigt. Und keinen Auflagen unterworfen.

Holm spricht von Staatsversagen und Marktexzessen. In Berlin habe in den letzten zehn Jahren ein rapider Verdrängungsprozess stattgefunden, sagt er. Auch energetische Modernisierung sei häufig nur ein Instrument der Verdrängung: Um 9 Euro pro Quadratmeter habe ein Vermieter im Prenzlauer Berg die Miete angehoben – und die Wohnungen noch vor Auszug der Mieter zum Verkauf angeboten.

Der Markt richtet es nicht

Wenn weite Bevölkerungsschichten 60 Prozent ihres Einkommens für Miete ausgeben, sagt Holm, entstehe auch ein volkswirtschaftlicher Schaden: Das Geld, das der Vermieter kassiert, geht den Anbietern von Konsumgütern verloren. Die derzeit von vielen Politikern, auch in Stuttgart, favorisierten Maßnahmen wie Mietpreisbremse oder zeitlich begrenzte Förderung bestimmter Kontingente wie im SIM reichen allesamt nicht aus, um den Teufelskreis zu durchbrechen. Nur geförderter sozialer Wohnungsbau, dies kann Holm mit breit angelegten Untersuchungen belegen, ist in der Lage, ausreichend bezahlbaren Wohnraum bereitstellen. Holm fordert eine staatliche Liegenschaftspolitik. Kommunen sollen Grundstücke nicht verkaufen, sondern nur noch in Erbpacht zur Nutzung vergeben. Er will die "Meinungshoheit der Immobilienwirtschaft" durchbrechen: dass es nämlich der Markt schon richten werde.

Andrej Holm

Er ist Stadtsoziologe und wohnungspolitischer Berater der Linken und einer der profiliertesten Kritiker der Gentrifizierung, der Vertreibung ärmerer Mieter aus den Städten. Als Wissenschaftler hoch geschätzt, war er im Zusammenhang mit seinem aktiven Engagement in der Wohnungspolitik mehrfach mit schweren Vorwürfen konfrontiert. 2006 warf ihm die Bundesanwaltschaft die Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung vor. Als ihn der Berliner Senat im Dezember 2016 zum Staatssekretär für Wohnen ernannte, trat er wegen Stasi-Vorwürfen zurück. Auch die Humboldt-Universität wollte ihm kündigen, da er in seinen Bewerbungsunterlagen eine begonnene Ausbildung beim Ministerium für Staatssicherheit im September 1989, zwei Monate vor der Wende, nicht angegeben hatte. Nach Protesten von Studierenden und einer Entschuldigung Holms nahm die Universität die Kündigung zurück. (dh)

Ende 2016 wurde Holm vom Berliner Senat zum Staatssekretär für Wohnen ernannt, trat dann aber wegen alter Stasi-Vorwürfe zurück und berät den Senat jetzt nur noch. Und der will jetzt die Mieter entlasten: Von 2018 an soll niemand mehr als 30 Prozent seines Einkommens für Miete ausgeben müssen. Die Mietpreisbindung für Sozialwohnungen soll unbegrenzt gelten.

Auf Bundesebene tritt Holm, ebenso wie Jan Kuhnert, der die Grünen berät, für eine neue Wohnungs-Gemeinnützigkeit ein. Um Misswirtschaft und Korruption wie bei der Esslinger BGE oder beim seinerzeit größten Wohnungskonzern Neue Heimat aus Hamburg zu vermeiden, wollen sie die Rolle der Mieter stärken. Denn in einer Genossenschaft sind sie eigentlich die Eigentümer.

Die Praxis sieht oft anders aus. Die Flüwo hat ihren Mitgliedern vor der Vertreterwahl im Frühjahr fertige Listen zum Ankreuzen geschickt. Was aber, wenn sie sich von diesen Vertretern nicht vertreten fühlen? Und die "unternehmerische Entscheidung", intakte, bezahlbare Wohnhäuser abzureißen, kann auch nicht im Interesse der Mieter sein. Sie müssen sich wehren, so wie Mary Schwarz. 280 Unterschriften gegen den Abriss der drei Flüwo-Wohnhäuser hat sie schon zusammen.


Gefällt Ihnen dieser Artikel?
Unterstützen Sie KONTEXT!
KONTEXT unterstützen!

Verbreiten Sie unseren Artikel
Artikel drucken


5 Kommentare verfügbar

  • Renate Schmidt
    am 14.09.2017
    Antworten
    Warum übernehmen die Mieter den ganzen Laden nicht einfach nach dem Prinzip des Mietshäuser-Syndikat: Verein gründen, GmbH gründen, Kredit von der GLS Bank, Modernisieren und fertig ist die Laube, Mehr Infos hier: https://www.syndikat.org/de/projekte
Kommentare anzeigen  

Neuen Kommentar schreiben

KONTEXT per E-Mail

Durch diese Anmeldung erhalten Sie regelmäßig immer Mittwoch morgens unsere neueste Ausgabe unkompliziert per E-Mail.

Letzte Kommentare:






Die KONTEXT:Wochenzeitung lebt vor allem von den kleinen und großen Spenden ihrer Leserinnen und Leser.
Unterstützen Sie KONTEXT jetzt!