KONTEXT:Wochenzeitung
KONTEXT:Wochenzeitung

Atomausstieg Deutschland

Na endlich!

Atomausstieg Deutschland: Na endlich!
|

Datum:

Der Atomausstieg am 15. April 2023 ist ein erstaunliches Phänomen. Seit wann setzen sich in "a rich man's world" die Vernunft gegen die Macht, die Nachhaltigkeit gegen die Zerstörung und die Kleinen gegen die Großen durch?

Vor 50 Jahren erkannten die Verantwortlichen des damaligen Energiekonzerns Badenwerk, dass der Atomkraftwerksstandort Breisach politisch nicht durchsetzbar war. Am 19. Juli 1973 wurde erstmals der neue Standort eines Atomkraftwerks in Wyhl am Kaiserstuhl bekannt. Dort scheiterten ab 1975 die Pläne, ein AKW zu bauen, am massiven Widerstand der örtlichen Bevölkerung.

Schon im Oktober 1955 wurde Franz Josef Strauß (CSU) zum Chef des neuen Ministeriums für Atomfragen ernannt. Dem ersten Atomminister ging es nicht nur um sogenannte friedliche Nutzung der Atomkraft. Er wollte die deutsche Atombombe. Als erstes deutsches Atomkraftwerk ging im Juni 1961 der Versuchsreaktor Kahl ans Netz. Für das 40 Kilometer nördlich von Stuttgart gelegene Neckarwestheim, wo bereits 1972 mit dem Bau eines Atomkraftwerks begonnen wurde, kam die in Wyhl ausgelöste Protestwelle zu spät. Doch auch hier haben sich in den letzten Jahrzehnten viele Menschen engagiert, und jetzt endet die Ära der Atomkraft auch in Baden-Württemberg.

Fast 50 Jahre nach Beginn der Wyhl-Proteste werden am 15. April 2023 endlich die drei letzten deutschen AKW Neckarwestheim-2, Emsland und Isar-2 abgeschaltet. Der Atommüll, der in etwas mehr als sechs Jahrzehnten entstand, strahlt aber noch eine Million Jahre und gefährdet 30.000 Generationen. Geschichtlich gesehen war und ist die Nutzung der Kernenergie zutiefst asozial. Die AKW-Stilllegung ist kein "Selbstzweck", sondern berechtigte Gefahrenabwehr. Leider umfasst der Atomausstieg nicht auch die Anlagen der Urananreicherung in Gronau und die Brennelementfertigung in Lingen.

Auch die Ökonomie spricht gegen die Atomkraft

Die Nutzung der Atomkraft in Deutschland war nicht erst seit den AKW-Wyhl-Protesten vor einem halben Jahrhundert heftig umstritten. Massive Proteste auch in Grohnde, Brokdorf, Wackersdorf und Gorleben haben die letzten Jahrzehnte in Deutschland geprägt. Und da war nicht nur das Wyhler "Nai hämmer gsait", das Nein der Umweltbewegung zur Atomkraft. Da war immer auch das Ja zu den umweltfreundlichen, kostengünstigen und nachhaltigen Energien, die von Atom-, Öl- und Kohlekonzernen und ihren Lobbyisten in der Politik massiv bekämpft wurden und immer noch bekämpft werden. Es ging in diesen Konflikten immer auch um das Energieerzeugungsmonopol der Konzerne.

Während in den ersten Jahrzehnten der Atomenergiedebatte "nur" die Aspekte des Umwelt- und Menschenschutzes auf Seiten der Umweltbewegung standen, ist es seit einigen Jahren auch die Ökonomie. Strom aus Wind und Sonne ist nicht nur umwelt- und menschenfreundlicher, sondern auch wesentlich kostengünstiger als Strom aus neuen AKW. Auch der ökonomische Niedergang der französischen Atomwirtschaft zeigt dies mehr als deutlich. Und wie heißt es? "It's the economy, stupid."

Trotz alledem müssen wir feststellen: Die globale Macht der alten und neuen atomar-fossilen Seilschaften ist noch nicht gebrochen. Sie setzt immer noch auf Gefahrzeitverlängerung und neue Reaktortypen und wiederholt die alten Lügengeschichten von der absolut sicheren Atomkraft.

Zudem hat die von der Anti-Atom-Bewegung befürchtete weltweite Verbreitung von Atomwaffen durch die nur scheinbar friedliche Nutzung der Atomkraft begonnen. Wir erfahren viel über dieses Thema, wenn es um die Pläne für iranische Atomwaffen geht. Doch auch andere Länder in den Krisenregionen der Welt sind auf diesem abschüssigen Weg.

Und es hat sich gezeigt: Die von der Umweltbewegung befürchteten schweren Atomunfälle kamen nicht mit der Wahrscheinlichkeit von ein zu einer Milliarde Jahre, wie von der Atomlobby verkündet. Die Atomunfälle und Atomkatastrophen von Windscale 1957 (Großbritannien), Lucens 1969 (Schweiz), Harrisburg 1979 (USA), Tschernobyl 1986 (Sowjetunion) und Fukushima 2011 (Japan) bestätigten alle frühen Befürchtungen der Umwelt-Aktiven und zeigten die Lügen der Atomlobby.

Fake-Argument: Nur "dumme Deutsche" steigen aus

Bis zum Abschalttag agitieren überall im Bundesgebiet gut organisierte Atom-Lobbygruppen, vorneweg die "Bild"-Zeitung und Scheinbürgerinitiativen, um eine weitere Laufzeitverlängerung zu erreichen. Die Gefahrzeitverlängerung wäre der erste Schritt zum Neubau von AKW in Deutschland. Die Atom-Lobbyisten tarnen sich geschickt als Umwelt- und Klimaschützende. An Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU), CDU-Chef Friedrich Merz und an FDP-Chef Christian Lindner blättert die dünn aufgetragene schein-grüne Farbe ab.

Schlecht gealtert

Aus der 1973 erschienenen Broschüre "66 Fragen, 66 Antworten. Zum besseren Verständnis der Kernenergie" der Hamburgischen Elektricitäts-Werke (HEW) und der Nordwestdeutschen Kraftwerke AG (NWK):

"Frage 42: Sind Kernkraftwerke sicher? Antwort: Ja. Kernkraftwerke sind sicher. (...) Der Technische Überwachungsverein hat einmal ausgerechnet, dass die Eintrittswahrscheinlichkeit für den sogenannten 'Größten anzunehmenden Unfall' (GAU), das heißt eines hypothetischen Unfallablaufes, für den jede Kernkraftanlage ausgelegt ist, 1:100 000 pro Jahr beträgt. Mit anderen Worten: Hätte der bekannte König Cheops aus der 4. altägyptischen Dynastie statt der von ihm errichteten Pyramide 20 große Kernkraftwerke gebaut und diese wären bis heute in Betrieb gewesen, dann müsste man damit rechnen, dass sich seither einmal ein solcher Unfall hätte ereignen können. Die Auswirkungen dieses Unfalls wären überdies so gewesen, dass jedermann am Kraftwerkszaun tagaus tagein hätte zuschauen können, ohne dabei mehr als die zulässige Strahlendosis zu empfangen. Nimmt man an, dass sämtliche Sicherheitseinrichtungen des Kernkraftwerkes nicht funktioniert hätten, dann wäre dies mit einer Wahrscheinlichkeit von 1:1 Mrd. pro Jahr passiert. Das bedeutet, dass die Vormenschenaffen im Alt-Tertiär vor 50 Millionen Jahren besagte 20 Kernkraftwerke hätten bauen und seither betreiben müssen, dann hätte man einen solchen Unfall vielleicht einmal registrieren können."

Jahrzehntelang haben marktradikale atomar-fossile Seilschaften den Ausbau der zukunftsfähigen Energien, Stromtrassen und die Energiewende massiv behindert und das Energieerzeugungs-Monopol der mächtigen Energiekonzerne verteidigt. Jetzt warnen sie scheinheilig vor einem Black-out und vor dem Klimawandel. So kämpfen sie für die Gefahrzeitverlängerung und gefährliche und teure neue AKW.

Viele Medien berichten kurz vor dem Ausstiegsdatum leider gerade ungeprüft, dass die Atomkraft weltweit im Aufschwung sei. Der World Nuclear Industry Status Report 2022 zeigt die Realität: "Es ist erstaunlich, wie sehr sich die Realität des Atomindustriesektors von der Wahrnehmung der Öffentlichkeit und zahlreicher Entscheidungsträger als blühende Zukunftstechnologie unterscheidet. Fast alle Indikatoren haben ihre Höchstwerte seit Jahrzehnten überschritten, zum Beispiel die Anzahl laufender AKW 2002, der Anteil der Atomkraft am Strommix 1996 oder die Betriebsaufnahmen Mitte der 1980er Jahre." Alte AKW werden abgeschaltet und trotz Zubau sinkt die weltweite Zahl der Atomkraftwerke. Und dennoch behaupten Atomlobbyisten, dass alle Welt neue AKW baue und nur die "dummen Deutschen" aus der Atomkraft aussteigen würden. Die Hauptstoßrichtung der aktuellen PR-Kampagnen ist nicht faktenorientiert, sondern beruht auf dem Erfolgsrezept einer perfekt organisierten Angstkampagne.

Nicht die Energiekonzerne kämpfen für Atomkraft

Für Laufzeitverlängerung und neue AKW kämpfen erstaunlicherweise nicht mehr direkt die deutschen Energiekonzerne, denn diese können rechnen. Für die Gefahrzeitverlängerung kämpfen insbesondere die Lobbygruppen und Parteien, die politisch die Hauptverantwortung für den Klimawandel, Ressourcenverschwendung und die Artenausrottung tragen. Je offensichtlicher es wird, dass wir den großen, globalen Wachstums-Krieg gegen die Natur gerade krachend verlieren, desto stärker setzen sie auf den Mythos der neuen Wunderwaffen. "Technologieoffenheit" ist das neue Zauberwort der Marktradikalen von CDU, CSU, FDP und AfD. Sie setzten auf Thoriumreaktoren, Geoengineering und Gentechnik und sind dabei, die Welt in eine große Fabrik zu verwandeln.

Der Mythos vermeintlicher Wunderwaffen, die die Rettung aus einer aussichtslosen Lage herbeiführen könnten, war auch im letzten Weltkrieg sehr effizient und kriegsverlängernd, änderte aber nichts an der Katastrophe. Der Streit um die Laufzeitverlängerung und um neue AKW ist getragen von der Hoffnung und Propaganda der "Wunderwaffe Atomkraft", die ein zerstörerisches Weiter-so ermöglichen soll. Ein Weiter-so mit Weltraumtourismus, Superyachten, Überschallflugzeugen, Rohstoffverschwendung, unbegrenztem Wachstum und selbstverständlich ohne Tempolimit.

Foto: privat

Axel Mayer ist seit den Wyhl-Protesten in der Umweltbewegung aktiv und war 30 Jahre lang BUND-Geschäftsführer in Freiburg. Er ist Gründer der Mitwelt Stiftung Oberrhein.

Hier zeigt sich auch eine Konfliktlinie, die aktuell viele ökologische und soziale Konflikte prägt. Nicht der Staat, sondern der Markt soll entscheiden, ob Atomkraftwerke, PFAS oder CO2 gefährlich sind. Nach dieser marktradikalen Logik wären DDT, FCKW und Asbest immer noch nicht verboten. Noch heute sterben viele Menschen an den Folgen des viel zu lange verzögerten Asbest-Verbots. Die Täter:innen in der Industrie wurden nie bestraft.

Technischer Fortschritt und gute, nachhaltige, menschengerechte Technik könnten schon heute das gute Leben für alle Menschen der Welt ermöglichen, wenn es mehr Gerechtigkeit gäbe. Die Abschaltung der AKW ist Grund zur Freude, aber kein Anlass für Triumph, insbesondere auch so lange in Lingen die Brennelementfabrik noch arbeitet. Im großen, globalen Krieg des Menschen gegen die Natur und damit gegen sich selbst (Atommüllproduktion, Klimawandel, Artenausrottung, Ressourcenverschwendung, Meeresverschmutzung, etc.) hat die Umweltbewegung mit dem mühsamen Atomausstieg in Deutschland Zerstörungsprozesse entschleunigt und einen kleinen, wichtigen Teilerfolg erzielt. Es lohnt, sich zu engagieren.


Gefällt Ihnen dieser Artikel?
Unterstützen Sie KONTEXT!
KONTEXT unterstützen!

Verbreiten Sie unseren Artikel
Artikel drucken


0 Kommentare verfügbar

Schreiben Sie den ersten Kommentar!

Kommentare anzeigen  

Neuen Kommentar schreiben

KONTEXT per E-Mail

Durch diese Anmeldung erhalten Sie regelmäßig immer Mittwoch morgens unsere neueste Ausgabe unkompliziert per E-Mail.

Letzte Kommentare:






Die KONTEXT:Wochenzeitung lebt vor allem von den kleinen und großen Spenden ihrer Leserinnen und Leser.
Unterstützen Sie KONTEXT jetzt!