Gerade in diesen Tagen, in denen so viel und kontrovers über die Energie der Zukunft diskutiert wird und darüber, ob das hochumstrittene Auslaufmodell Kernspaltung dazugehören darf, lohnt ein Abstecher ins nordbadische Philippsburg. Eine Reise wie in eine Zukunft ohne Atomausstieg, coronabedingt digital, aber deshalb nicht weniger aufschlussreich. 1979 ging ein Siedewasser-, 1984 als zweiter Block ein Druckwasser-Reaktor ans Netz, letzterer bestehend aus Komponenten, die für das neu gebaute Atomkraftwerk in Wyhl bereits bestellt gewesen waren. Über 30 Jahre sprudelten die Steuereinnahmen, knapp 3.000 Arbeitsplätze hingen direkt oder indirekt an den Meilern, als 2011 nach Fukushima das endgültige Aus kam. Aber jede Krise sei eine Chance, sagte Philippsburgs CDU-Bürgermeister Stefan Martus damals.
Jetzt ist er zugeschaltet im zweiten Info-Forum "Nukleare Sicherheit und Strahlenschutz" des baden-württembergischen Umweltministeriums. Es geht um die "Rücknahme von Abfällen aus Frankreich". Der Titel hätte präziser gewählt werden können, weil das in Glas eingeschmolzene, zudem in Edelstahl eingeschweißte und in Castoren zwischengelagerte hochradioaktive Material natürlich nicht aus Frankreich, sondern aus Deutschland kommt und deshalb auch zurückgenommen werden muss aus dem französischen La Hague.
Aus Sicht von Martus und dem Gemeinderat der 14.000 Einwohner zählenden Stadt im Landkreis Karlsruhe ist dieses Vorgehen dennoch problematisch. Das Zwischenlager "ist uns aufgezwungen worden", sagt der CDU-Politiker, der seit 2003 im Amt ist und einen entsprechenden Überblick hat - gerade zum Thema Klageandrohung. Nach seiner Erinnerung stammt die Idee, Castor-Transporte in Philippsburg enden zu lassen, vom früheren Umweltminister Franz Untersteller aus dem Jahr 2009, als der Grüne noch einfacher Abgeordneter war. Und seither gebe es "die Widerstandsandrohung".
Ökosiegel für die Atomkraft – passt vor allem Macron
Bei der zweistündigen Veranstaltung, zu der sich 100 Interessierte zugeschaltet haben, geht es um viele Details, denen eines gemeinsam ist: Sie lassen die Haltung der EU-Kommission, Atomkraft und Gas als nachhaltig einzustufen, angetrieben und massiv unterstützt von Emmanuel Macron, als fragwürdig bis unverantwortlich erscheinen. Aber Frankreich steht im ersten Halbjahr 2022 dem Europäischen Rat vor und vor allem sein Präsident im Kampf um seine Wiederwahl. Der Atomenergie quasi ein Öko-Siegel zu verpassen, kommt da gerade recht.
In Philippsburg könnte Macron erleben, was den 56 Standorten diesseits des Rhein irgendwann droht, wenn die Meiler vom Netz müssen. Mindestens genauso aufschlussreich wäre ein Abstecher ins lothringische Bure, wo seit Mitte der 1990er-Jahre ein Endlager-Standort erforscht wird und sich – selten genug in Frankreich – eine stabile Anti-AKW-Bewegung etabliert hat. Denn nach den 2016 in Paris abgesegneten Plänen soll dort in einem unterirdischen Tunnelsystem von kilometerweiter Ausdehnung der französische Atommüll für immer in Ton und Mergel ruhen.
Was es bedeuten würde, wenn es wirklich dabei bliebe, haben GegnerInnen in Zahlen gegossen: Ein Jahrhundert lang müssten wöchentlich zwei Transporte aus La Hague nach Bure fahren, um das bis 2021 angefallene radioaktive Material zu deponieren. Und allein der Rückbau der gegenwärtig in Frankreich betriebenen Meiler, viele davon älteren Datums und wegen diverser Probleme regelmäßig vom Netz genommen, wirft unausweichlich weitere Fragen auf. Zufriedenstellende Antworten sind rar. Ein Meiler besteht aus mehreren hunderttausend Tonnen Material, rund 97 Prozent davon werden für gewöhnlich als unproblematisch eingestuft, mindestens ein Prozent aber ist hochradioaktiv.
Auf zwei unterschiedlichen Planeten zu Hause
An der Seite Deutschlands auf Brüsseler Ebene stehen nur Portugal, Spanien, Irland, Luxemburg, Dänemark und Österreich. Sie alle lehnen die Einstufung der Atomenergie als nachhaltig ab. Karoline Edtstadler (ÖVP), die Europaministerin aus Wien, war eben erst in Paris, aber ohne Erfolg. Von "frostiger Stimmung" berichtet sie danach frustriert, und dass man "auf zwei unterschiedlichen Planeten zu Hause" sei. Österreich und Luxemburg erwägen rechtliche Schritte gegen die vielzitierte Taxonomie, dem Verfahren, nach dem Energieträger klassifiziert werden.
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